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Was dieses Buch enthält! Kilian Leypold: „Krähen gegen Ratten. Der Bandenkrieg von Murz und Matze“ Von Anne Spitzner
Die Mettenstraße ist Grenzland: auf der einen Straßenseite Eigentums-, auf der anderen Sozialbauwohnungen. Die Kinder auf beiden Straßenseiten spielen natürlich nicht miteinander – sie spielen Krieg gegeneinander, als zwei rivalisierende Banden. Die „Krähen“, das sind die Kinder aus den Eigentumswohnungen, nicht reich, aber zumindest eindeutig besser dran als die „Ratten“ von der gegenüberliegenden Straßenseite. Jede der Gruppen hat für die jeweils andere nur Verachtung übrig – und das ist schon seit Generationen so, wie sich das eben für eine richtige Fehde gehört. Doch als sie sich bei einer ihrer Schlachten über das Gewicht eines Steins streiten, verändert sich zumindest für einige von ihnen alles. „Krähen gegen Ratten – Der Bandenkrieg von Murz und Matze“ von Kilian Leypold ist Futter für Gehirn und Seele zugleich. Er verbindet so viel zu einem harmonischen Ganzen, dass es schwer fällt, alles aufzuzählen bzw. allem gerecht zu werden. Zuallererst ist „Krähen gegen Ratten“ die Geschichte zweier sehr unterschiedlicher Jungen, die trotz aller Hindernisse (und außerordentlich widerwillig) Freunde werden. Der verträumte Murz mit der alleinerziehenden Mutter (die Krähe) und der stämmige Matze mit dem Alkoholikervater (die Ratte) passen auf den ersten Blick so gar nicht zusammen. Und doch, als sie sich gemeinsam auf die Suche nach der Wahrheit begeben und im Eichamt München herausfinden wollen, wie viel der Stein denn nun eigentlich wiegt, passiert es fast von allein, dass sie nach ihrem gemeinsam bestandenen Abenteuer so etwas wie Freunde sind. Murz und Matze, aber auch die anderen Kinder aus der Mettenstraße, sind mit viel Zuneigung und Achtsamkeit porträtiert worden. Man schlüpft als Leser mal in diese, mal in jene Schuhe, und aus den unterschiedlichen Blickwinkeln heraus kann man dann alle verstehen. Davon abgesehen ist „Krähen gegen Ratten“ dann stellenweise auch fast noch ein Sachbuch über Gewichte und andere Maßeinheiten. Im Zuge ihrer Wahrheitssuche stoßen Krähen und Ratten nämlich immer wieder auf das Eichamt, dessen Zweck und Geschichte sowie sein halbverrückter Leiter, Anselm Scheibenschütz, der gerade dabei ist, über dem leichter werdenden Urkilo in Paris seinen Verstand zu verlieren. Matze, der einen ausgewachsenen Vermessungstick hat, und Murz, der noch an die Magie in der Welt glaubt, haben natürlich ganz unterschiedliche Herangehens- oder Sichtweisen, was sie dazu zwingt, sich mit dem jeweils anderen auseinander- und in ihn hineinzuversetzen. Eine dritte Erzählperspektive nimmt abgesehen von Murz und Matze übrigens noch eine Krähe ein, die das Geschehen buchstäblich aus der Vogelperspektive betrachtet und der im Verlauf der Handlung dann auch eine wichtige Rolle zukommt. Zum Teil verschwimmen Murz‘ Träumereien mit der Wirklichkeit, sodass man nicht genau sagen kann, wo das eine anfängt und das andere aufhört. Ein Beispiel dafür ist der undurchsichtige Tom Döse, seines Zeichens Friseur auf der Suche nach der perfekten Rundung, der den beiden Banden bei mehreren Gelegenheiten über den Weg läuft, ohne dass seine wahren Motive erkennbar würden. In Murz‘ Vorstellung verwandelt er sich mal in einen Dämon, meist aber nennt er ihn wegen seines Fellmantels den „Bison“, und am Ende verschwimmen hier Fantasie und Wirklichkeit noch mehr, als die Polizei Tom Döses Blut als Huftierblut identifiziert. Ganz im Einklang mit seinen Protagonisten schwankt Leypolds Sprache zwischen poetisch-verträumt (Murz) und kraftausdruckgeladen-energisch (Matze), und auf beiden Seiten bewegt er sich sicher. Die beiden miteinander verbundenen Gegensätze machen das Ganze besonders reizvoll, wobei Leypold nie zu sehr in eins der Extreme abgleitet. Ach ja, und ein kleines bisschen Liebesgeschichte, ein bisschen Thriller und ein bisschen Horror sind übrigens auch noch dabei. Was mir ganz besonders gut gefallen hat, ist, dass am Ende nicht automatisch alle Freunde werden, nur weil Murz und Matze es sind. Das ist wie im echten Leben: Manche schaffen es, sich über die „gesellschaftlichen Schranken hinwegzusetzen“, aber deshalb muss das noch lange nicht für alle gelten. Wie ich bereits eingangs erwähnt habe, ist es schwer, in einer Besprechung allem gerecht zu werden, was dieses Buch enthält. Ich hoffe, ich bin hier nicht allzu kryptisch geblieben. Noch mehr hoffe ich aber, dass ich nicht zu viel verraten habe, denn „Krähen gegen Ratten“ hat es wirklich verdient, selbst gelesen zu werden. Es lohnt sich!
Kilian Leypold: „Krähen gegen Ratten. Der Bandenkrieg von Murz und Matze“ Hanser 2014 256 Seiten, Euro 14,90 ISBN 978-3446246317
Jeder Moment amüsant Maria Jönsson: „Erbsenalarm“ Von Anne Spitzner
Der kleine Wolf Valdemar mag sehr gern Fischstäbchen. Aber die Erbsen, die es dazu gibt, die mag er nicht, obwohl sein Vater ihm sagt, dass man davon schöne lange Ohren bekommt. Wie kreativ Valdemar mit dem Gebot umgeht, den Teller leer zu essen (sonst gibt es nämlich kein Schokoladeneis), davon erzählt Maria Jönsson in „Erbsenalarm“. Der Text, ganz besonders aber die Bilder, halten dabei die eine oder andere Überraschung und viele Momente zum Schmunzeln bereit. Erfrischend ist zum Beispiel, dass es bei dieser Familie der Vater ist, der mit einer Schürze bekleidet am Herd steht und die hungrigen Kleinen verköstigt. Lustig anzusehen ist die Windel, die Valdemars kleine Schwester Linn trägt. Und derlei gibt es mehr. Die Ausgangssituation – ein Kind, das sein Gemüse nicht essen will – dürfte wahrscheinlich den meisten Kindern und Eltern bekannt vorkommen. Auch der Lösungsweg, den Valdemar am Ende einschlägt (hier sei es verraten, er lässt nämlich einfach seine stets hungrige kleine Schwester das Gemüse für sich mampfen), ist nicht neu. Und dass der Vater am Ende einknickt und Valdemar sein Eis dann doch bekommt, kann man außerdem wohl kaum als konsequent bezeichnen – wie man das aus dem Alltag eben so kennt. Trotzdem wirft die Geschichte ein anderes Licht auf die sich ewig wiederholenden Diskussionen ums Gemüseessen. Das Argument des Vaters nämlich, dass man vom Erbsenessen schöne lange Ohren bekommen, ergibt in Valdemars Augen natürlich überhaupt keinen Sinn. Er hat ja, und das ist auf den Bildern auch deutlich zu sehen, schon sehr schöne lange Ohren! So ähnlich fühlen sich womöglich auch Menschenkinder, wenn sie gesagt bekommen, sie sollen ihr Gemüse aufessen, damit sie groß und stark werden oder warum auch immer. Das regt dann vielleicht auch die erwachsenen Leser mal dazu an, darüber nachzudenken, wie sie argumentieren (und ob sie sich nicht vielleicht doch eher so verhalten wie Valdemars Papa – und ob das wirklich sooo schrecklich ist). Ganz von diesem „neuen Blick auf den Gemüseteller“ abgesehen ist „Erbsenalarm“ aber auch schlicht eine nette kleine Geschichte über einen kreativen kleinen Kerl, lustig und sprechend bebildert, toll zum Vorlesen und gemeinsamen Anschauen. Einfach klasse! (Ab 4)
Maria Jönsson: „Erbsenalarm“ Hanser 2018 30 Seiten, 12 Euro ISBN 978-3446258679
Einzigartig eigenartig – Unikat mit dem Zeug zum Klassiker Bardur Oskarsson: „Wilbert, wo bist du?“ Von Lennart Ragmann
Schon das erste Durchblättern macht es den Betrachtern deutlich: Die Bilder, sanft farbig und klar strukturiert, sind ein Hochgenuss. Bild für Bild wird eine zunächst denkbar einfache Geschichte erzählt, in passend einfacher Strichführung. Obwohl ohne realistische Darstellung, werden Gefühle und Gedanken ausgedrückt, durch kleinste Detailverschiebungen. Der Schöpfer, Bardur Oskarsson, Jahrgang 1972, der von den Faröern stammt und in Dänemark lebt, wird bereits international beachtet, und wenn man sich „Wilbert, wo bist du?“ anschaut; Sehr zu Recht und noch viel zu wenig. Die siebzehn ganzseitigen Bilder (und dazu die kleinen genialen Strichzeichnungen am Seitenrand) sind hohe Illustrationskunst. Dazu kommt eine Erzählung in kurzem Text, der alles auf den Kopf stellt, was man in einem Bilderbuch für Kinder ab 3 Jahren erwartet. Das Versteckspiel mit Ratte, Krokodil und Wilbert nimmt das Übliche aufs Korn; das Krokodil erlaubt sich ironische Scherze, ist dann aber zu tapsig, um den riesigen Wilbert zu entdecken, während es die kleine Mini-Ratte sofort sieht. Größenverhältnisse und Handlung stehen in lustigem Gegensatz, und je häufiger man liest und sieht, desto verdrehter erscheint die Welt. Eine leise Absurdität, nah an der Kinderwelt. Und für die Erwachsenen eine Einladung, literarische und künstlerische Qualität zu genießen. (Ab 3)
Bardur Oskarsson: „Wilbert, wo bist du?“ Aus dem Färöischen von Carsten Wilms Kullerkupp Kinderbuch Verlag 2018 Euro 13,90, 38 Seiten ISBN 978-3947079063
Gleich zwei sympathische Helden Frauke Scheunemann: „Winston - Ein Kater in geheimer Mission“ Von Anne Spitzner
Winston ist ein edler Rassekater – Britisch Kurzhaar, um genau zu sein, deswegen auch nach dem früheren britischen Premierminister Winston Churchill benannt. Er lebt zusammen mit „seinem“ Physikprofessor Werner ein ziemlich gemütliches Leben, bekommt täglich frisch gekochte Leibspeisen vorgesetzt und hat die Wohnung noch nie verlassen. Das ändert sich jedoch alles schlagartig. Weil die Haushälterin Olga heiratet, übernimmt ihre Schwester Anna den Job bei Professor Hagedorn und Winston. Und eines Nachts steht Anna dann plötzlich mit ihrer zwölfjährigen Tochter Kira vor der Tür, weil sie Ärger mit ihrem Freund hat. Und da fangen die Probleme erst an. Auch für Winston: Der mag nämlich eigentlich gar keine Kinder… In „Winston – Ein Kater in geheimer Mission“ erzählt Frauke Scheunemann die Geschichte von Winston und Kira, die sich erst anfreunden und dann bei einem heftigen Gewitter plötzlich im Körper des anderen landen. Das bringt natürlich eine ganz neue Sicht auf viele Probleme, aber auch unerwartete Schwierigkeiten mit sich. So steht das Duo gleich vor richtig schweren Aufgaben: Die Probleme von Kiras Mutter aus der Welt zu schaffen, Freunde für den jeweils anderen zu finden und dann natürlich auch noch irgendwie in den eigenen Körper zurückzukommen. Amüsant und kurzweilig ist es, was Frauke Scheunemann da auftischt – Freaky Friday mit einem Haustier, das hat doch was. Auch, wenn der Plot für Erwachsene vielleicht ein paar Fragen aufwirft – wenn Anna eine Schwester hat, die in derselben Stadt wohnt, warum taucht sie dann nachts bei ihrem Arbeitgeber auf, den sie erst seit ein paar Tagen kennt? Besonders gut hat mir gefallen, wie sich durch den Körpertausch der Blick der beiden auf ihr eigenes Leben verändert. Probleme, die sie für unüberwindbar gehalten haben, werden durch die Augen des jeweils anderen ins richtige Licht gerückt. Kira, die in eine neue Klasse geht, stellt fest, dass sie die ganze Zeit über versucht hat, die falschen Mitschülerinnen zu beeindrucken, und Winston findet heraus, dass die Nachbarskatzen hat nicht so unangenehme Streuner sind, wie er immer gedacht hatte. Schließlich gehen die beiden (mit Hilfe der inzwischen neu gewonnenen Freunde) sogar daran, den Freund von Kiras Mutter zu überführen – der ist nämlich in krumme Geschäfte verwickelt und versucht alles, um Anna aus Rache mit hineinzuziehen. Da wird es dann sogar richtig spannend. Irgendwie weiß man ja bei solchen Geschichten (oder ist zumindest davon überzeugt), dass es am Ende doch alles gut ausgehen wird, aber trotzdem ist man dann ja doch erleichtert, wenn es auch tatsächlich so passiert. Das gilt im Übrigen auch für den rückwärtigen Körpertausch. Sehr amüsiert habe ich mich über Winstons, ich sage mal, gehobene Sprechweise, die so gar nicht zu dem passt, was Kiras Klassenkameraden so sprechen und auch zu einigen entsprechenden Situationen führt. Da konnte ich ihn mir dann so richtig vorstellen, den gezierten verwöhnten Rassekater mit seiner eloquenten Wortwahl – auch, wenn er zwischenzeitlich ja eigentlich im Körper von Kira steckt. Dieser Aspekt macht das Buch übrigens für Jungen und Mädchen gleichermaßen lesbar: Dass sozusagen ein Junge und ein Mädchen die Hauptperson sind. Dass am Ende der Schurke ebenso sehr sein Fett wegkriegt wie die fiesen Klassenkameradinnen, macht die ganze Geschichte dann auch noch zutiefst befriedigend. Fazit: Eine schöne Geschichte über Freundschaft und Mut, mit zwei sympathischen Helden und einer interessanten Idee. Lesenswert!
Frauke Scheunemann: „Winston – Ein Kater in geheimer Mission“ Loewe Verlag 2018 Taschenbuch, 240 Seiten, Euro 7,95 ISBN 978-3785589-74-8
Ikonischer Glanz Miffy, der weiße Kulthase Von Sarah Kassem
Der Diogenes Verlag setzt seine Tradition fort: Erneut ist ein Kinderbuchklassiker in schicker Neuaufmachung erschienen. Nach u. a. Jean de Brunhoff, Goscinny & Sempé und Sonia Delaunay darf der Künstler Hendrik Magdalenus Bruna (besser bekannt als Dick Bruna) mit seiner ikonischen Figur Nijntje (vom niederländischen Wort für Kaninchen: „Konijntje“, im Deutschen: Miffy) im modernen Bücherregal glänzen.
Dick Bruna verbrachte sein gesamtes Leben (1927 bis 2017) in Utrecht, wo er ursprünglich den Familienverlag Bruna & Zoon übernehmen sollte, bis heute vielleicht der bekannteste niederländische Verlag und eine Verlagsdynastie seit 1868. Es gelang ihm jedoch, seinen Vater davon zu überzeugen, dass er für die administrativen Aspekte des Verlagswesens weder Interesse noch Talent besaß. So wurde er als Grafikdesigner eingestellt und gestaltete zunächst unzählige Buchumschläge (die Cover von Kommissar-Maigret-Büchern sind berühmt – im Miffy-Stil bunt und minimalistisch), danach auch Plakate, beispielsweise 1974 für Pampers. Ab 1953 begann er, Bilderbücher zu entwerfen und betätigte sich karitativ, u. a. für UNICEF und den Aids Fonds. Sein Stil ist stark beeinflusst von Henri Matisse – minimalistische Zeichnungen, schwarze Linien mit wenigen Grundfarben ausgefüllt. 1955 entstand die Figur der Nijntje, eines kleinen, weißen Hasenmädchens, das zusammen mit ihren Freunden viele kleine Abenteuer erlebt.
In Miffy spielt Verstecken spielen Miffy und ihre Freunde Melanie, Boris, Poppy Pig, Barbara, Grunty und Teddy Verstecken. So viel zum Inhalt, viel mehr gibt es eigentlich nicht zu sagen. Boris versteckt sich – Achtung: Spoiler! – hinter dem Baum. Barbara versteckt sich – Achtung: Spoiler! – hinter den Vorhängen. Und so weiter. Man kann getrost sagen, dass die Zielgruppe des Buches bei 0 bis 1 Jahren liegt. Als erstes Bilderbuch für ein Baby ist es wunderbar geeignet. Die süßen Figuren, die knalligen Farben, und in diesem Fall der Clou dieser Ausgabe, die Schieber auf jeder Seite: Zunächst ist Teddy nicht da, nach dem Betätigen des Schiebers ist Teddy plötzlich doch da – wie aufregend! Sogar für unseren dreijährigen Sohn war das Buch ein paar Tage lang der große Renner. Die Schieber wurden ad nauseam hin und her geschoben – Poppy weg, Poppy da! –, die Figuren und Formen und Farben wurden unendlich aufgezählt, und lustige Wortneuschöpfungen wurden kreiert: aus Barbara wurde zum Beispiel „Barbarhabarbara“.
Es gibt mittlerweile über 30 Miffy-Bücher, und die Figur prangt Hello-Kitty-mäßig auf unzähligen Merchandise-Produkten, es gibt sogar Miffy-Shops und Miffy-Stores. Das weiße Häschen ist zu einer Kultfigur geworden, die Kinder wie Erwachsene anspricht.
Dick Bruna: „Miffy spielt Verstecken“ Aus dem Englischen von Kati Hertzsch Gebunden, 14. Seiten Diogenes 2018, Euro 12,. ISBN 978-3257012316
Von einem besseren Morgen Nasrin Siege: „Wenn der Löwe brüllt“ Von Anne Spitzner
Wenn der Löwe brüllt, haben die Kinder Hunger. Doch anders als die meisten Kinder hierzulande haben Bilali und Emanuel, die beiden Hauptfiguren dieses Buches, kein Essen, um den Löwen zufriedenzustellen – Emanuel und Bilali sind Straßenkinder in einer namenlosen afrikanischen Stadt. Wenn für sie der Löwe brüllt, müssen sie betteln gehen oder hart arbeiten, und dabei begegnen ihnen nicht nur freundliche Menschen, sondern in der überwiegenden Mehrheit unfreundliche Zeitgenossen und sogar Diebe, die ihnen ihr hart verdientes Geld gleich wieder wegnehmen. Dass diese Geschichte nicht nur traurig ist, verdankt sie dem unerschütterlichen Optimismus ihrer beiden Protagonisten, die sich weder vom Hunger noch vom Elend unterkriegen lassen, sondern unbeirrt weiter von einem besseren Morgen träumen. Aber den größeren Verdienst an der trotz der traurigen Umstände vorhandenen Fröhlichkeit der Geschichte haben eindeutig die bunten Bilder von Barbara Nascimbeni, auf denen es so viel zu entdecken gibt, dass man schon mal vergessen kann, dass man eigentlich gerade zwei hungrigen Kindern durch die Straßen folgt. „Wenn der Löwe brüllt“ ist eine schöne Möglichkeit, den hiesigen, mehr oder weniger verwöhnten, im Vergleich mit Bilali und Emanuel jedoch recht glücklichen Kindern klarzumachen, dass es andere auf dieser Welt gibt, denen es nicht so gut geht wie ihnen. Und trotz dieser wichtigen Botschaft sind Emanuel und Bilali keine kleinen Moralapostel mit erhobenem Zeigefinger, sie sind und bleiben Kinder, die lachen, spielen und herumtollen – Kinder, deren ständiger Begleiter ein Löwe namens Hunger ist. (Ab 5)
Nasrin Siege: „Wenn der Löwe brüllt“ Mit Bildern von Barbara Nascimbeni ISBN 978-3779502739 32 Seiten, Euro 12,50.-
„Als sich die Sonne gerade die Zähne putzte.“ Przemysław Wechterowicz & Emilia Dziubak: „Komm in meine Arme!“ Von Anne Spitzner
Eines Morgens, „als sich die Sonne gerade die Zähne putzte“, fragen sich Papa Bär und Kleiner Bär, was man wohl am besten tun könnte, um einen richtig schönen Tag zu haben. Papa Bär erzählt seinem Sohn, wie schön es ist, wenn man jemanden umarmt, und dass das eigentlich das schönste ist, was man so machen kann. Natürlich will Kleiner Bär das dann sofort ausprobieren, und so ziehen sie los, um ihre Nachbarn, die Tiere des Waldes zu umarmen. Diese hippiehaften Bären, die da durch den Wald schlendern und alles umarmen, was ihnen vor die Pranken kommt, haben schon was für sich – und nach und nach merken das auch alle anderen Waldbewohner, beziehungsweise bekommen es am eigenen Leib zu spüren. Und wen sie da alles umarmen, ist wirklich amüsant – beispielsweise eine Anakonda, die zu Besuch bei ihrer entfernten Cousine Ringelnatter ist und von sich selbst behauptet, Umarmungen seien ihre größte Leidenschaft. „Komm in meine Arme!“, Text von Przemysław Wechterowicz, Bilder von Emilia Dziuba, ist ein sehr nettes Buch, in dem auf unterhaltsame Art und Weise dargestellt wird, wie schön (und wichtig) Umarmungen sind. Da ändert sich etwa die grummelige Laune des Wolfs, und vor lauter Verzückung darüber, umarmt worden zu sein, geht ihm daraufhin glatt das Rotkäppchen durch die Lappen. Auf den tollen Bildern von Emilia Dziuba lugen die beiden Bären sozusagen aus allen Ecken, auf der Suche nach dem nächsten Tier (oder auch mal einem Jäger, dessen Flinte sie kurzerhand in Verwahrung nehmen), dem sie eine Umarmung angedeihen lassen können. So kann man die Geschichte gerade beim Vorlesen noch gut weiter ausschmücken, wenn man sich an die Bilder hält. Ganz zum Schluss fällt den beiden Bären übrigens auf, dass sie völlig vergessen haben, einander zu umarmen. Das holen sie noch schnell nach und nehmen sich vor, einen solchen Ausflug bald zu wiederholen. Ein schöner Tag also für die Bären – und ein schönes Buch für uns! (Ab 3)
Przemysław Wechterowicz & Emilia Dziubak: „Komm in meine Arme!“ Sauerländer 2014 36 Seiten, Euro 12,99 ISBN 978-3737351263
Eine gekonnt eigene Interpretation – Stefanie Harjes’ kunstvolle Bilder sind erlebenswert „Die schönsten Sagen des klassischen Altertums“ Von Anne Spitzner
Ein Buch, das man schon kennt, eingekleidet in ein neues Gewand – in diesem Fall „Die schönsten Sagen des klassischen Altertums“, gesammelt im 19. Jahrhundert von Lateinprofessor Gustav Schwab, im 20. Jahrhundert neu erzählt von Josef Guggenmoos und schließlich im 21. Jahrhundert illustriert von Stefanie Harjes. In manchen Fällen funktioniert ein neues Gewand nicht – in diesem schon. Stefanie Harjes‘ frische Bilder kontrastieren gut mit dem alten Text, den Guggenmoos nur „behutsam“ verändert hat und der deshalb im Vergleich zur heutigen (Schrift-)Sprache noch immer antik klingt. Für mich persönlich ist die Sagenwelt der alten Griechen (und Römer) ein Steckenpferd, das noch aus der Schulzeit stammt; ich habe die nicht illustrierte Version dieses Buches gelesen, als ich noch selbst Lateinunterricht hatte, und habe auch jede Menge anderer Bücher „aus dem Dunstkreis“ der klassischen Sagen verschlungen, von Marion Zimmer-Bradley, Gisbert Haefs und anderen, und natürlich auch die Ilias von Homer. Der Hauptunterschied zwischen diesen Büchern und Schwabs Sammlung besteht darin, dass letztere eben eine Sammlung ist; sie erzählt sozusagen den Plot der Sagen in stark geraffter Form, anstatt sie romanartig ausufernd darzustellen. Dies hat den Reiz, dass man einen raschen Überblick gewinnt, führt aber auch dazu, dass man in der Flut der Namen, Wesen und Geschlechter leicht den Überblick verlieren kann. Diesem Umstand wird durch ein Verzeichnis der wichtigsten Namen am Ende des Buches Rechnung getragen, aber man kann ja auch nicht alle zwei Minuten darin nachsehen. In der Sammlung fehlen der Kampf um Troja und die Irrfahrten des Odysseus; zumindest erstere ist eine der bekanntesten klassischen Sagen, und es ist nicht ganz verständlich, warum gerade diese beiden ausgespart wurden. Dem altehrwürdigen Text gegenüberzeugen die Illustrationen von Stefanie Harjes erfrischend wenig Respekt, aber es spricht aus ihnen eine große Zugneigung zu dem antiken Stoff. Sie gibt den Helden und Heldinnen teils ganz neue Gesichter, lässt sie moderne Kleidung tragen und einmal sogar ein Smartphone benutzen. Sie bringt witzige Ideen unter, malt etwa die Argo, das berühmte Schiff der Argonauten, das diese zwölf Tage durch die Wüste trugen, mit Füßen, oder Herakles als Gärtner, der einer Topfpflanzen-Hydra mit der Gartenschere zu Leibe rückt. So gibt es auf den Bildern immer wieder etwas zu lachen und auf jeden Fall viel zu entdecken. Manchmal greifen die Bilder dem Text voraus, sodass man sie erst zwei Seiten später versteht (oder, wenn man die klassischen Sagen aus dem Effeff kennt). Warum diese Anordnung gewählt wurde, anstatt die Bilder an ihrem „eigentlichen“ Platz unterzubringen, erschließt sich mir nicht so ganz. In manchen Fällen führen Harjes‘ Bilder dazu, dass man den Text anders versteht als vorher bzw. nochmal neu über ihn nachdenkt; sie lässt gekonnt eigene Interpretationen einfließen. Insgesamt ist diese Neuauflage eine echte Bereicherung. Außer bei krampfhaft Konservativen, denen alles Neue ein Gräuel ist, sollte sie in keiner Sammlung fehlen! (Ab 14)
„Die schönsten Sagen des klassischen Altertums“ Gesammelt von Gustav Schwab, neu erzählt von Josef Guggenmoos, illustriert von Stefanie Harjes Gebunden, 324 Seiten, Euro 9,99 Ravensburger 2013 ISBN 978-3473400973
Klasse zum Vorlesen und zum Lachen Vincent Cuvellier, Ronan Badel: Ben will heute einen Gips! Von Anne Spitzner
Ben hat sich in den Kopf gesetzt, dass es total cool ist, einen Gips zu haben; dann ist man nämlich ein richtiger Held, und alle Freunde und Spielkameraden kommen, um einen zu bewundern. Das ist die Ausgangssituation im Büchlein „Ben will heute einen Gips!“ von Vincent Cuvellier (Text) und Ronan Badel (Illustrationen). Der kleine trotzige Junge Ben hockt dabei auf einem Sessel und macht Faxen. Die Illustrationen zeigen aber auch, was in seiner Fantasie geschieht, wenn etwa lauter andere Kinder um ihn herumstehen, die ganz wild darauf sind, etwas auf seinen Gips zu kritzeln. Ben ist mit seinen Fantasien nicht allein. Zwar ist er allein im Bild, aber sozusagen eine Stimme auf dem Off, die wahrscheinlich zu Mutter oder Vater gehört, unterhält sich mit ihm. Das ist z.B. auch daran erkennbar, dass dieser Teil des Textes eine andere Schriftart hat – größer und ruhiger als die Bens. Man meint regelrecht, die halb amüsierte und halb aufklärende Stimme eines Erziehungsberechtigten zu hören, der Ben darüber aufklärt, dass man sich, bevor man einen Gips bekommt, erst einmal wehtun muss. Dieser Wechsel der Schriftarten erleichtert das Wechseln der Rolle beim Vorlesen ungemein. Dass Ben sich nicht wehtun möchte, ist ja klar. „Ben ist doch nicht verrückt. […] Er möchte einen Gips, das ist alles.“ Diese fixe Idee kennt man vielleicht von manchen Kindern, die auch regelrecht besessen von Verbänden sind und die man entsprechend glücklich machen kann, indem man selbst winzigste Wunden mit einem Verband oder wenigstens einem riesigen Pflaster verarztet. Die erwachsene Person in Bens Nähe reagiert zunächst geduldig, als jedoch Ben statt eines Gipses auf einen Kopfverband und dann sogar auf ein Holzbein umschwenkt, wird er schließlich vor den Fernseher gesetzt, um sich dort „ganz ruhig“ einen Film anzusehen. Dabei wird er gewarnt, sich nicht wieder auf die Sessellehne zu setzen – und was als Nächstes passiert, kann man sich im Grunde genommen denken. Die Illustrationen von Ronan Badel vereinen Fantasie und Wirklichkeit um Ben herum auf eine sehr lustige Art und Weise (beispielsweise, wenn er sich vorstellt, wie er nach einem Skiunfall von einem Hubschrauber gerettet wird, dabei aber noch immer auf seinem Sessel sitzt). Die ausdrucksstarken Bilder geben dem Vorleser zahlreiche Hinweise, Bens Stimme zu interpretieren. „Ben will heute einen Gips“ ist ein liebenswertes kleines Buch mit einer Geschichte, die sich klasse vorlesen lässt und dabei Kinder wie Erwachsene zum Lachen bringen wird. (Ab 4)
Vincent Cuvellier (Text) und Ronan Badel (Illustrationen): Ben will heute einen Gips! Gebunden Lappan 2014 ISBN 978-3830312161 32 Seiten, Euro 9,90
Bärissimo! Sophy Henn: „Ein Platz für Bär“ Von Daniel Ableev
Ein kleiner Weißbär lebt bei einem Jungen und tut, was getan werden muss, nämlich größer und größer (und größer) werden. Unausweichliche Folge: Eines Tages ist der Bär „einfach zu groß und zu bärig geworden“ – und der Junge will für seinen Freund ein entsprechend bärenmäßiges neues Zuhause finden. Doch weder Spielzeuggeschäft noch Zoo kommt in Frage, weder Zirkus noch Wald, weder Dschungel noch Kühlschrank … doch! Der Kühlschrank, genauer: die Arktis, stellt sich als genau das Richtige für den weißen Riesen heraus. Dort fühlt sich der Bär gleich heimisch, gründet eine Familie und wird glücklich. Doch der Kontakt zwischen den beiden bricht nie ab, denn wozu gibt es Telefone? Eine humorvolle und stark gezeichnete Geschichte für Jung & Älter.
Sophy Henn: „Ein Platz für Bär“ Annette Betz, 2015 32 Seiten, Euro 12,95 ISBN 978-3219116328
Applaus ist der Lohn! Delphine Bournay: „Krümel und Pfefferminz spielen Theater“ Von Bettina Meinzinger
Nur wenige Kinderbücher sind so charmant, witzig und klug wie „Krümel und Pfefferminz spielen Theater“. Geschrieben und illustriert hat es Delphine Bournay, die vierteilige „Krümel und Pfefferminz“-Reihe, im Französischen unter dem Titel „Grignotin et Mentalo“ erschienen, hat nun der Hanser Kinderbuchverlag in deutscher Übersetzung von Julia Süßbrich herausgebracht. Pfefferminz ist ein strebsamer Frosch. Als er seine Freunde, allen voran sein Kumpel Krümel, der Hase, um Mitarbeit beim Salatpflanzen ersucht, erntet er nur entspannte Gleichgültigkeit. Freiwillige? Fehlanzeige: „Niemand ist hier ein Freiwilliger.“ Pfefferminz ist empört und heckt einen Plan zur Erziehung seiner unwilligen Freunde aus. Eine Theateradaption von Jean de La Fontaines Klassiker „Die Grille und die Ameise“ wird Krümel und Co. auf den richtigen Weg führen. Als seriöser Regisseur übernimmt Pfefferminz selbst die Hauptrolle, Krümel gibt die Grille, das Wildschwein spielt den Wind, selbst für den Wurm wird eine passende Rolle gefunden. Schließlich ist der Tag der Aufführung gekommen, das Bühnenbild steht und ein zahlreiches Publikum hat sich eingefunden. Dies zeigt sich zuerst wohlwollend („Bravo“, „Klasse“, „Klatsch klatsch“), doch Müßiggang wird vom Mob nicht goutiert und die Grille mit Rufen wie „Buh“ oder „Aufhängen sollte man sie“ bedacht. Das von Krümel ausgedachte Happy End versöhnt die Zuschauer aber wieder, minutenlanger Applaus ist der Lohn. Mit Leichtigkeit und Humor verpackt Bournay Themen wie produktive vs. unproduktive Arbeit und widmet ihr Buch folglich den „Kreativen aller Art“. (Ab 6)
Delphine Bournay: „Krümel und Pfefferminz spielen Theater“ Aus dem Französischen von Julia Süßbrich Hanser Verlag 2013 120 Seiten, Euro 7.90 ISBN 9783446243033
Lang ersehnt Olaf Hintze, Susanne Krones : „Tonspur“ Von Susan Müller
In Erfurt lebend, hochbegabt, aber nicht in den Eintritt in die Partei zu bewegen. Da nützen ihm weder praktisches Geschick und Erfahrungen etwas noch gute Noten. Auch wenn seine Erklärungen plausibel klingen, nicht genug Zeit zu haben, wie sie die Parteiarbeit doch erfordere, da er sich um bestmögliche Ergebnisse bemühe, die ein Studium erlauben würden. Es hilft nichts, das Studium rückt in weite Ferne, noch dazu als er nur 1,5 Jahre, also den Mindestwehrdienst in der DDR, absolviert. Sein Hobby bleibt aber die Elektronik, und er findet zum Trost den Zugang zu Literatur und Musik, westlicher Musik. Und diese ist genau wie bestimmte Literatur in der DDR schwer zu bekommen. Er bedient sich im sozialistischen Ausland, in dem die Regeln nicht so streng sind, wenn auch die Einfuhr ein immerwährendes Erlebnis ist, der Zustand zwischen Angst vor Entdeckung und der Erleichterung, wenn Platte oder Büchlein im heimischen Regal ihren Platz finden. Stefan Zweigs Werke werden ihm Verbündete und Sätze oder Passagen daraus verinnerlicht er. Glücklicherweise verherrlichen auch seine Eltern die Zustände in der DDR nicht. Er nutzt daher einen Urlaub in Ungarn, um den lang gereiften und durchdachten Plan der Republikflucht in die Tat umzusetzen. Dem Leser erschließen sich Gedanken und Gefühle eines Einzelnen, wie sie sicher viele gedacht, doch nie ausgesprochen oder gar umgesetzt haben. Selbst seine Familie traut ihm nicht zu, den beiläufig fallengelassenen Satz, die deutschen Seiten zu wechseln, in die Tat umzusetzen. Doch dann ist es soweit. Angespornt durch die Zeilen Zweigs, die er in seinem Zelt in Sopron mit sich führt und die tagelange Erkundung der Grenze zu Österreich, weiß er: Jetzt oder nie. Bis auf ein paar saubere Sachen und seine Papiere lässt er alles in seinem Zelt auf dem Zeltplatz zurück. Sehr menschlich und mitreißend beschreibt Olaf Hintze die Gefühle oder Aussetzer, die ihn bei seiner Flucht begleiten. Manches ist gar nicht zu beschreiben, wenn man es nicht erlebt hat. Und doch hat der Leser das Gefühl, die Scheinwerfer des Autos, das ihm begegnet, sind auf sich selbst gerichtet. Leider sind es die eines Fahrzeuges, welches ihn zurück zum Zelt bringt. Doch er gibt nicht auf, beim zweiten Versuch irritiert ihn zwar stark Zaun drei, aber er landet tatsächlich auf österreichischem Gebiet. Es fühlt sich unwirklich an und sein Körper droht unter den überstandenen Strapazen der letzten Tage und Wochen zu kollabieren, aber er hat es geschafft. Ab da wird alles andere und Vergangene klein. Wien, eine Stadt, in der das Leben pulsiert, und er kann sie genießen, da seine Ausreise nach Westdeutschland sich verzögert. Nie vorher war er technischen Problemen so dankbar, bisher war er an ihrer Lösung interessiert und beteiligt. Hintze lässt uns die Auffanglager für DDR- und andere Flüchtlinge miterleben. Immer noch die leise Vorsicht im Nacken, nicht zu viel von sich Preis zu geben. Wir Leser gehen mit ihm durch Job- und Wohnungssuche und freuen uns über die Erfüllung seines langersehnten Wunsches, in München sesshaft zu werden. Konzerte, Lesungen und das Nachholen des Abiturs werden neben einer guten Vollzeitstelle sein Lebensinhalt. Doch er hat den Traum vom Studium noch nicht aufgegeben. Mit dem Abiturzeugnis in der Hand reiht er sich an der Universität ein, vor ihm stehen jüngere Mitbewerber. Am Ende des Tages hat sein Traum Struktur, auch wenn nicht jeder in seinem Umfeld verstehen kann, einen gut bezahlten Job mit Beamtenstatus dafür aufzugeben. Heute ist Olaf glücklich, lebt 25 Jahre lang im „Westen“ , und 25 Jahre war er, als er seinen Plan in die Tat umsetzte, nicht länger unter dem DDR Regime leben und arbeiten zu wollen. Wenige Wochen vor dem großen Umbruch in der Geschichte Deutschlands, er hatte es noch „schwer“ gehabt. Kein bloßer Übertritt über die Grenze wie am 09.11.1989 plötzlich machbar. Es ist ein Wechselbad der Gefühle für ihn und den interessierten Leser.
Ich persönlich kann einiges nachempfinden und
bewundere seinen Mut. Immer begleitet von bestimmten Songs oder Büchern
- er wird von einer Tonspur begleitet und geführt. Susanne Krones gilt
neben Olaf Hintze der Dank, mit ihm seine erhaltenen Dokumente und
Erinnerungen verschriftlicht zu haben.
Olaf Hintze, Susanne Krones: „Tonspur – Wie ich die Welt von gestern verließ“ Dtv 2014 360 Seiten, Euro 14,90 ISBN 978-3423650052
Mit anderen Augen Max Rademann: „ Die Dörte und der Unkönig Willy“ Von Susan Müller
Dörte ist ein fröhliches Mädchen, sie hat immer gute Laune. Sie hat einen Zopf, der senkrecht auf ihrem Kopf steht und lustige Sommersprossen. Sie möchte immer was erleben und macht daher einen Ausflug mit der Dampflok auf den Berg. Dort trifft sie auf den kleinen König Willy, aber der ist alles andere als das. Er motzt und schimpft die ganze Zeit, so dass Dörte ihn König Unwillig nennt. Langsam kann sich der König auf Dörte einlassen und lässt sich die Dinge aus ihrer Sicht zeigen. Beide beginnen, gemeinsam zu lachen! Am Ende des Tages haben sie sogar Eile, die letzte Bahn den Berg hinunter zu bekommen. „Die Dörte und der Unkönig Willy“ ist ein tolles und extrem schön gestaltetes Kinderbuch, das beschreibt, was passiert, wenn die Dinge mit anderen Augen gesehen werden. Die CD dazu ist eine wunderbare Untermalung und Ergänzung. (Ab 3)
Max Rademann: „Die Dörte und der Unkönig Willy“ Voland & Quist 2014 28 Seiten, Euro 18,90 ISBN 978-3863910891
Von der Freundschaft zwischen Junge und Hund Edward van de Vendel: "Ein Hund wie Sam" Von Anne Spitzner
Kix und seine kleine Schwester Emilia genießen den Sommer, als plötzlich ein Hund in ihrer Einfahrt auftaucht. Groß und weiß und so scheu, dass beide zunächst glauben, es müsse sich um einen Gespensterhund handeln. Aber der Hund ist echt, und er kommt wieder. Schließlich finden Kix und Emilia raus, wem er gehört, und das sind gar keine guten Nachrichten: Seine Eigentümer sind die stets mies gelaunten Nachbarn von der Farm gegenüber, und Kix‘ Opa sagt, der Hund sei misshandelt worden. Er sagt auch, dass es ein wertvoller Rassehund ist, ein Pyrenäenberghund, der zum Hüten von Schafen und Pferden eingesetzt wird. Emilia tauft den Hund auf den Namen Sam, und er scheint sich ihre Familie als neue Herde auserkoren zu haben. Dass die Sache damit noch nicht einfach erledigt ist, sondern noch ein dramatischer Showdown folgt, versteht sich von selbst. Mit „Ein Hund wie Sam“ hat Edward van de Vendel ein Buch geschrieben, das auf einer wahren Geschichte beruht, wie er im Nachwort mitteilt. Er hat sie in Kanada auf der Farm seines Bruders erlebt. „Ein Hund wie Sam“ ist ein erneutes Beispiel dafür, dass die besten Geschichten das Leben eben doch selbst schreibt – auch, wenn man natürlich nicht genau weiß, wie viel davon verfremdet oder verändert ist. Es ist eine mitreißende Geschichte, traurig und hoffnungsvoll zugleich und am Ende auch noch spannend, und sie gewährt einen Einblick in das wahre Leben, das nun einmal nicht immer für alle glücklich ausgeht, auch, wenn es für manche ein Happy End gibt. „Ein Hund wie Sam“ lässt sich gut lesen, auch, wenn die Sprache manchmal ein Stück weit ZU kindgerecht sein soll. Abgesehen davon jedoch ist es eine Geschichte von der Freundschaft zwischen Junge und Hund mit all ihren Höhen und Tiefen, und die Geschichte eines Hundes, der nach einem harten Schicksal wieder Vertrauen zu Menschen fasst. Eine nette Lektüre, wenn man gerade einen schönen warmen Sommer erlebt, so wie Kix und Emilia – und sich vielleicht sehnlichst und aus ganzem Herzen einen Hund wünscht – wie Sam.
Edward van de Vendel: "Ein Hund wie Sam" Mit Illustrationen von Philip Hopman Übersetzt von Rolf Erdorf Carlsen, 2013. Euro 9,99, Seiten 128 ISBN 978-3551556479
Ein Traum für Kleinkinder - Geschmackvoll gestaltet und fröhlich: Unbedingt anschaffenswert! Thomas M. Müller: "Was braust so schnell vorbei?" Von Sebastian Mayer
Pappbilderbücher
werden von Kinderbuchexperten meist abgetan, als literaturkritisch nicht
bewertbar. Recht haben sie! – Aber nicht immer! „Was braust so schnell
vorbei?“ ist der gelungene Versuch, den allerkleinsten Buchbetrachtern
etwas zu bieten, das ihnen gefällt und trotzdem qualitativer Bewertung
standhält. Alles, was Räder hat, rauscht farbenfroh an einem vorbei:
„ein Taxi“, „ein Motorrad mit Beiwagen“, „ein Abschleppwagen“ (so eine
kleine Auswahl aus immerhin fast 40 Gefährten mit Originalzitaten aus
dem sparsam eingesetzten Text). Anders als Erklärungssachbüchern dieser
Art (wie „Beim Kinderarzt“, „Im Kindergarten“ etc.) ist die Illustration
ein Wert an sich; unterschiedliche Tiere, schrill gekleidet und mit
expressiver Mimik und Gestik sitzen am Steuer oder sind Beifahrer.
Keines langweilig – wie auch in der alten „Rostlaube“ oder im
„Gangsterauto“. Die Anordnung der Bilder auf dem dunkleren Weiß als
Hintergrundfarbe ist ein gestalterischer Hochgenuss.
Thomas M. Müller: "Was braust so schnell vorbei?" Moritz Verlag, 2013. Euro 9,95, Seiten 34 ISBN 978-3895652677
Sprache, Phantasie, Spaß!
Timo Brunke: "10 Minuten Dings" Mit Illustrationen von Susann Hesselbarth Klett Kinderbuch, 2013. Euro 13,95, Seiten 103 ISBN 978-3954700721
Stell dir vor, es ist Hochzeit und alle gehen hin! Carl Sandberg/ Harriet Pincus: "Die Hochzeit von Lumpenpüppchen und Besenstiel und wer alles dabei war" Von Ada Bieber
Kaum jemand weiß, dass der heute in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangene Anti-Kriegsspruch “Sometime they’ll give a war and nobody will come/ Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin” von dem Dichter, Journalisten, Historiker und zweifachen Pulitzer-Preisträger Carl Sandberg stammt. Ebenso selten wird das Augenmerk auf seine Kinderliteratur gerichtet, stehen doch zumeist seine ausgezeichneten Gedichte oder seine umfangreiche Biographie über Lincoln im Fokus. Doch Sandberg, der aus Galesburg, Illinois, stammte und lange Zeit rund um Chicago lebte, und der sich in der Politik ebenso wie in der Geschichte und Literatur bestätigte, war vielseitig interessiert und gebildet, und so schrieb er auch die Kindergeschichten “Rootabaga Stories” (1922) und “Rootabaga Piagon” (1923), ursprünglich für seine Töchter. Daraus stammt auch die später als Bilderbuch erschienene und nun im Deutschen vorliegenden Geschichte vom Lumpenpüppchen. “Die Hochzeit von Lumpenpüppchen und Besenstiel und wer alles dabei war” mit den Originalillustrationen der New Yorker Künstlerin Harriet Pincus von 1967 ist nun im Diogenes Verlag erschienen und lädt die Leser zu einer Reise in ein phantastisches Land ein, in dem ein kleines schäbiges Lumpenpüppchen mit dem Besenstil, der immer sehr gut zu ihr war, eine prachtvolle Hochzeit feiert! Die Bilder von Harriet Pincus leben von einer hohen graphischen Gestaltung, die durch einen starken Gebrauch der Linie auffällt, und die Farben gezielt und oftmals flächig über die gestrichelten Darstellungen fließen lässt. Ihre Figuren erinnern an die phantastischen Figuren aus dem Klassiker “The Wizard of Oz” wie auch an die skurrilen Gestalten von “Alice Adventures in Wonderland”. Während der Text von Sandberg eher knapp gehalten ist, bereichern die Bilderwelten von Harriet Pincus die Geschichte, dehnen sie aus, und lassen mehr entdecken als der Text erzählt. Gerade durch die Bildzitate auf die Kinderbuchklassiker erschaffen die Bilder einen viel größeren Resonanzraum als der Text allein hätte. Insbesondere die Figuren der Geschichte bekommen durch die bildhafte Darstellung und durch ihren Verwandtschaft mit anderen Figuren der genannten Kinderbuchklassiker mehr Profil. Sie alle wirken in diesem Bilderbuch heiter, ausgelassen und freundlich. Teegesellschaften sind hier nicht absurd, sondern herzlich, traumatische Erlebnisse wie das Zerspringen der gläsernen Augen des Lumpenpüppchens kann der fürsorgliche Besenstil klug und schnell beheben, und der feierliche Hochzeitszug setzt ganz auf Vielfalt, Spiel und Freude. In dieser Geschichte geht es also genau besehen gegenteilig zu als in dem berühmt gewordenen Anti-Kriegsspruch, denn als das Lumpenpüppchen den galanten Besenstiel heiratet, da kommen alle kindlichen und phantastischen Figuren, um dabei zu sein, bei der feierlichen Parade! Es finden sich beispielsweise die Löffelabschlecker und die Schokoladenmäulchen, die für ein schlaraffenlandartigen Genuss sorgen, es erscheinen die stolzen Sauberen Ohren und die nicht weniger stolzen Schmutzfinken, die Kitzeligen und Pausbäckigen. Für die musikalische Untermalung sorgen die Musiksuppen-Esser und die Blechpfannen-Trommler. Und zu guter Letzt träumen die Schlafmützen hinter allen anderen hinterher und bilden das Schlusslicht der Feierlichkeiten. Und so findet die Hochzeitsparade ihr natürliches Ende—doch den Leser erfasst eine leise Traurigkeit, dass die Hochzeitsparade schon vorüber gezogen ist!
Carl Sandberg/ Harriet Pincus: "Die Hochzeit von Lumpenpüppchen und Besenstiel und wer alles dabei war" Aus dem Amerikanischen von Kati Hertzsch. Diogenes Verlag, 2013. Euro 14,90, Seiten 32 ISBN 978-3-257-01166-1
Ganz nah, lebendig, lustig, ehrlich. Und hervorragend geschrieben Marie-Aude Murail: „Tristan gründet eine Bande“ Von Miriam Schneider
Als erstes fällt die hervorragende Übersetzung auf. Die französische Schriftstellerin Marie-Aude Murail ist eine Stilistin, ihre Sätze sind kurz, ohne je in ein Stakkato zu verfallen, ihr Stil unaufdringlich literarisch, ohne die Sprache der Kinder zu verfälschen. Die Brillanz des Buches „Tristan gründet eine Bande“ begründet sich auf dieser Kunst, die der Übersetzer Tobias Scheffel ins Deutsche zu retten versteht. Das ist darum so entscheidend, weil die Geschichte aus der Perspektive von Tristan, einem Drittklässler, erzählt wird. Damit ist nicht einfach nur die Ich-Form gemeint, damit ist eine ganze Perspektive auf die Welt gemeint, in der Tristan sich zurechtfinden muss. Wäre nicht seine eigene, Tristans Sprache dabei erhalten geblieben, es würde bei diesem kleinen, aber kunstvollen Buch der Wegweiser in Tristans Labyrinth fehlen. Dieser sympathische Held ist gar keiner. Der Lehrer hat ihn in der Gruppe der Mittelmäßigen zugeordnet, er schlottert vor Angst vor dem fiesen „Starken“ Olivier, er gehört zu keiner Bande (was Tristan ändert –siehe Buchtitel- wie so manches, was er ändert). Tristan ordnet sich dem unter -er muss es-, was die Erwachsenen ihm diktieren, doch er mutet ihn zu, dass er seine eigene Einstellung zu den Dingen hat. Besonders seine Mutter, der Halt in seinem Leben –in charmanter Kürze geschildert, ganz natürlich für die Leser, so dass einen diese beruhigende Erkenntnis packt und aufhorchen lässt – muss ihren Erwachsenen-Zynismus, ihr Unverständnis ablegen, weil Tristan in jedem seiner Bedürfnisse so ein entwaffnend ehrliches Kind ist. Doch es sind Schulhofgeschichten; in der Widmung steht „Jeder ist mal an der Reihe, auf einem Schulhof das Leben zu lernen.“ Ein verstörender Satz, denn Tristan –und dann auch seine Bande – lernen gerade nicht das Leben, das sich Bürokraten, Lehrer, Direktoren für sie ausgedacht haben. Zwar stehen sie wehrlos unter deren Diktat, aber es gibt einen Raum, in den keiner von ihnen vordringt. Jenseits von Tristans Verzweiflung und Angst erzählt er selber davon. Eine besondere Finesse ist das Springen zwischen Geschehnissen und Gedanken, in einem Rhythmus, der genau auf die Wahrnehmung der Zielgruppe abgestimmt ist. Tristan ist ihnen ganz nah, aber die Härten seiner Erlebnisse machen den kleinen Lesern nicht das Leben schwer – denn, und das ist der letzte große Grund, dieses schöne Buch in die Hände der Kinder zu geben, denn es gibt viel Witziges darin. Der Druck dieses Kinderlebens entlädt sich nicht nur in kleinen und großen Späßen, es wird von lustiger Lebendigkeit getragen. Das leise und laute Lachen begleitet die Lektüre.
Marie-Aude Murail: „Tristan gründet eine Bande“ Übersetzt von Tobias Scheffel Illustriert von Susanne Göhlich Fischer KJB 2013 96 Seiten, Euro 10,99 ISBN: 978-3596854875
Ein Trostspender für traurige Kinder Agnès de Lestrade: „Danas Uhrwerk“ Von Melanie Grundmann
Agnès de Lestrade legt nach dem wunderbaren Buch „Die große Wörterfabrik“ nun wieder ein philosophisches, in seiner Grundstimmung düsteres und sehnsüchtiges, am Ende jedoch hoffnungsvolles Kinderbuch vor. Im Mittelpunkt der Handlung steht das Mädchen Dana mir ihrer Leidenschaft für Uhren und Pendel, die sie neu zusammenbaut, mit Zeit auffüllt und verschenkt. Im Prinzip ein Plädoyer für Eigeninitiative und Kreativität, dominiert dennoch eine latent depressive Grundstimmung. Danas Herz, das wie eine Uhr tickt, wird zum Symbol des Verrinnens unausgefüllter Zeit. Das Mädchen wünscht sich mehr Aufmerksamkeit von ihren Eltern, insbesondere vom Vater, der aufgrund seines hektischen Berufes, der ihn um die ganze Welt führt, nur wenig Zeit für sie hat. Die wunderbaren, für Kinder jedoch teilweise zu krassen Illustrationen sind dominiert von dunklen Farben, kahlen Bäumen und tickenden Uhren, die die Einsamkeit und Monotonie des Lebens der Protagonistin widerspiegeln, die in fast allen Bildern allein ist. Dana verliert ihre Traurigkeit erst, als sie bemerkt, dass es auch andere Gemütszustände geben kann: Angst, Schmerz, Freude und Glück. Das Happy End - die Eltern haben plötzlich mehr Zeit für Dana - wirkt jedoch leider etwas konstruiert. Das Buch fasziniert durch eine für Agnès de Lestrade typische Melancholie, ist aber gerade dadurch und aufgrund der im großen und ganzen doch recht düster anmutenden Illustrationen keinesfalls uneingeschränkt für kleine Leser zu empfehlen. Als Trostspender für traurige Kinder mag das Buch geeignet sein, und auch Erwachsene werden ein ästhetisches Vergnügen empfinden. (Ab 5)
Agnès de Lestrade: „Danas Uhrwerk“ Aus dem Französischen von Anna Taube Illustriert von Constanza Bravo Mixtvision 2013 48 Seiten, Euro 13,90 ISBN: 978-3939435716
Puristisch und modern Crockett Johnson: "Harold und die Zauberkreide" Von Martina Schneider
Er war einer der Förderer der amerikanischen Kinderliteratur, und zwar der Linie, die mit Originalität und Qualität wucherte. Der Anspruch, Menschen mit Ideen und Elan dazuzubringen, etwas Besonderes zu schaffen, diesen Anspruch lebte Crockett Johnson (1906 bis 1975), und wen und wie er in New York die Kreativen um sich versammelte, das hatte etwas für die Kinderliteratur ungewohnt Avantgardistisches. Er illustrierte viele Bücher seiner Frau Ruth Krauss und schrieb selber; „Der Zauberstrand“ (siehe hier) und die Harold-Reihe, deren erster Band nun auf deutsch zu haben ist: „Harold und die Zauberkreide“ (1955 in den USA erschienen als „Harold and the Purple Crayon“ – treffender und direkter im Titel). Mit der Kreide kann Harold Sachen malen, auf die er dann klettern, auf denen er laufen, in denen er schwimmen, mit denen er spielen kann. Mit einem einfachen dicken Kreidestrich ist das alles gezeichnet, wie ohne abzusetzen: Man kennt das vom „Haus des Nikolaus“. Auch Harold besteht aus wenigen Strichen. Und doch sind seine Welt und er vollkommen, ist der Drachen einer, vor dem man Angst hat und der Schutzmann einer, der den Weg zeigt. Am Ende malt sich Harold sein Hochhaus, sein Zimmer und sein Bett und sich die Bettdecke. Harold ist ein Held in seiner gemalten Welt, was macht man wenn einen selbstgemalten Berg runterfällt und da nichts als Luft ist? Harold malt sich schnell einen Heißluftballon. Was macht man wenn man hungrig ist? Sich neun Kuchen der leckersten Sorten malen. Harold kann alles machen, er ist frei. Ob er nun vernünftige Sachen tut oder unvernünftige, Harold ist Kind und schöpft aus dem Vollen, ohne mehr zu brauchen als: Die Zauberkreide. Man ahnt es - jedes Kind hat sie und spürt das, wenn es sich in dieses unbunte Buch vertieft. Einfache Sätze zum Vorlesen dazu, trotzdem ergibt sich ein ganzes großes Abenteuer. Und ein wirklich dankenswerter verlegerischer Beitrag, um uns wieder mit den Urszenen der modernen Kinderliteratur, die nie angestaubt war und es bis heute nicht ist, vertraut zu machen.
Crockett Johnson: "Harold und die Zauberkreide" Aus dem Englischen von Anu Stohner Hanser Verlag 2012 64 Seiten, Euro 12,90 ISBN 978-3446240131
Riesen-Spaß und Qualität John Fardell: "Der Tag, an dem Louis gefressen wurde" Von Sebastian Meyer
Als Sarah mit ihrem kleineren Bruder im Wald ist, wird Louis auf einmal von einem Schluckster gefressen, doch das Schluckster wird von einem Grabscherix gefressen und der Grabscherix wird von einem Wasserschnapper gefressen und so geht es immer weiter. Und immer muss Sarah die verschiedenen Tiere verfolgen, und weil die Tiere immer größer werden, so muss Sarah sich immer speziellere Gefährte bauen, um die Tiere zu verfolgen. Denn natürlich jagt sie ihrem Bruder nach, um ihn zu retten! Das alles gipfelt in einem tollen und lustigen Ende, das wirklich alle Angst und Spannung von einem nimmt, die sich, bei allem Riesen-Spaß am Buch, doch bildet. Die Illustrationen kommen lässig und in vielen Facetten daher, und sie sind durch auffällige Farben fröhlich. Die Bebilderung, so gelungen wie der Text, ist wichtig, da viele Dinge der Handlung nur durch die Bilder ausgedrückt werden, und auch der Witz des Buches, wäre ohne die Illustrationen nicht möglich gewesen. John Fardell ist auch Comiczeichner, eine unübersehbare Provenienz auch in diesem Buch. In Familien, in denen Freude und Spaß ein Zuhause haben, gehört "Der Tag, an dem Louis gefressen wurde" unbedingt. Aber Achtung: Einen Sinn für Qualität schult das Buch bei den kleinen Betrachtern obendrein! Eine der besten Sachen, die einem im Bilderbuch derzeit begegnen kann. (Ab 4)
John Fardell: "Der Tag, an dem Louis gefressen wurde" Aus dem Englischen von Bettina Münch Moritz Verlag 2012 32 Seiten, Euro 12,95 ISBN 978-3895652462
Denkwürdige Begegnung Kristin Lohmann: „Mister Kanister und die Lila Giraffe“ Von Eva Burghausen
Bilderbücher gibt es wie Sand am Meer – und eben doch nicht. Die richtig guten, die man nicht missen möchte, mit denen die Kinder aufwachsen und an denen die ganze Familie sich freut, die gibt es –wem sage ich es?- nur selten. Eines davon ist „Mister Kanister und die lila Giraffe“ von Kristin Lohmann. Die denkwürdige Begegnung eines alten Esels mit einer Giraffe und eine Wanderschaft durch die Wüste, irgendwie ziellos, dabei verträumt. Mister Kanister hat seinen Beruf irgendwo vergessen, und nun kann er jeden Tag einen anderen ausüben und schauen, was ihm auf dieser Suche am besten gefällt: Ein nachdenkliches Abenteuer, das von den großen literarischen Erlebnissen kündet, die die jungen Leser vor sich haben. Doch dem nicht genug – die Bilder von „Mister Kanister“ sind eine Augenweide, in entschlossener Farbgebung, bei Verzicht auf Naives und Niedliches doch wunderbar für Kinder, ein gelungenes Mit-Erzählen der Geschichte und eine Anregung, mehr zu erkennen unter der Oberfläche der Handlung. „Mister Kanister“ ist auch ein schwieriges Buch. Die Sätze sind manchmal kompliziert für Kinder („Eine Reise wollte, dass er sich ihrer annahm.“). Das Tempo der Ereignisse ist ganz und gar ungewöhnlich, mal schnell („Mister Kanister liebte es, täglich ein anderer zu sein.“), mal ganz gebremst („Wortlos hatte ihm die Lila Giraffe eine große Tasse Erdbeertee gebracht, und er hatte seinen Kopf an ihre Schulter gelehnt.“). Dieses Buch sollte immer zur Hand haben, wer das Privileg schätzt, Kindern Zeit für kluge Absurditäten freizuschaufeln. Der künstlerische Wert der Illustrationen erleichtert es ernstzumachen und sich dagegen stemmen, was an Erwachsenenhektik heute den Takt der Kindheit vorgibt und in dem Korsett der „frühkindlichen Bildung“ alles erstickt. Die Ideologie des gesellschaftlich-ökonomisch nützlichen Menschen, auferstanden aus Bildung, wie sie den allerorts unter Druck gesetzten Kindern eingebläut wird, ist der erste Punkt und nur der Anfang, über den „Mister Kanister“ den Betrachter nachdenken lässt. Und wenn der Sonntag nicht gereicht hat, Kinder, dann weigert Euch, am Montag aufzustehen, und bleibt im Bett mit „Mister Kanister“ und allen Gefühlen und Gedanken, die Euch, dem Esel und der Giraffe zustehen! (Ab 6)
Kristin Lohmann (Text und Bilder): „Mister Kanister und die Lila Giraffe“ Bohem Press 2010 40 Seiten, Euro 14,95 ISBN 978-3855814824
So ein Unsens aber auch! Grigorij Oster: „Petka, die Mikrobe“ Von Daniel Ableev
Weil Kinder, insbesondere Kleinkinder, von Natur aus verrückt sind, sollten sie auch unbedingt verrücktes Nonsinnszeug zu lesen bekommen – wie beispielsweise Grigorij Osters vorliegendes Werk. Hier berichtet der kultige Kinderautor aus Grusel-Russland über die vielen kleinen Abenteuer, welche Peter (bzw. Petka), eine schlau-freche Mikrobe mit Brille, unternimmt. Da Osters Humor gut angeschrägt und reichlich albern daherkommt, gibt es unter anderem eine Jagd nach einem bissigen Elementarteilchen namens „Babytron“ sowie wissenschaftliche Diskussionen mit Anginchen, die – Halsschmerz lässt grüßen! – bemerkenswerterweise im „dritten Eisbecher“ residiert. Petkas Tante ist beim Militär und trägt eine entsprechende Uniform. Das ist natürlich kompletter Unfug, weil Mikroben keine Militärlaufbahn anstreben können. Und Petkas Onkel ist gar ein überzeugter Mutant, der nicht aufhören kann, seine Form und Frisur zu ändern, von dem Stirnbart ganz zu schweigen. So ein Quatsch. Nur an einer Stelle wird es ansatzweise sinnvoll, als nämlich die Pendelfähigkeit von Petkas großem Bruder, der in der (Sauer-)Milchfabrik arbeitet – Petka hingegen ist mehr der „Kefir guy“ – und täglich mit dem Bus dorthin fahren muss, angezweifelt wird. Wie zum Kuckuck soll denn so ein kleiner Mann überhaupt so eine riesige Fahrkarte dem Kontrolleur vorzeigen können? Aber dann ist doch alles nicht so wild und man legt gemeinsam fest, dass das Erkennen des Fahrkartenbesitzers mit bloßem Auge zweitrangig ist, solange die Fahrkarte selbst anständig dimensioniert ist. Dennoch: Was ein Blödsinn! Alexander Strohmaiers Illustrationen von Anginchen mit Wintermütze oder fieszahnigen Babytrons sind übrigens nicht nur schön bunt, sondern teilweise auch picassomäßig skurril, was sehr ansprechend ist. Dieses Buch ist ebenfalls wunderbar für bescheuerte Erwachsene geeignet, die nicht zu viel Wert auf den sogenannten „Ernst des Lebens“ legen. Wie ernst kann schon Leben sein, wenn es Mikroben namens Petka gibt?
Grigorij Oster: „Petka, die Mikrobe“ Edition Liaunigg 2011 56 Seiten, Euro 18,00 ISBN 978-3902712103
Ein fulminanter Zweiteiler über ein undurchsichtiges Weltgetriebe zu Beginn der Moderne "Vango. Zwischen Himmel und Erde" und "Vango. Prinz ohne Königreich" Von Ada Bieber
Nachdem schon der erste Band über den Jungen Vango viele Leser begeistert hat, die Kritik zu Lobpreisungen veranlasste und das Buch es auf die Auswahlliste des Jugendliteraturpreises geschafft hat, ist nun im Gerstenberg Verlag der Folgeband des Jugendromans erschienen, in dem das Geheimnis um den gejagten Jungen gelüftet wird. Damit findet eine der besten und spannungsreichsten Geschichten für Jugendliche und junge Erwachsene einen fulminanten Abschluss. Der französische Autor Timothée de Fombelle hat eine opulente Erzählung über einen ungewöhnlichen Jungen geschrieben, die Fiktives mit Weltgeschichte aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gekonnt verwebt. In dem Erzählnetz treten außergewöhnliche Helden mit historischen und so disparaten Persönlichkeiten wie Hugo Eckener oder Josef Stalin auf geheimnisvolle Weise in Verbindung. Die Geschichte um den gejagten und nach seiner Identität suchenden Vango lebt aber nicht nur vom gekonnten Zusammenspiel von Fiktivem und Faktischem. Vielmehr entsteht eine Komplexität durch ganz unterschiedliche narrative und stilistische Elemente, die in den Bänden miteinander verknüpft werden. Im Zentrum steht sicherlich die Geschichte Vangos – Vollwaise und, nachdem seine Eltern getötet wurden, bei seinem Kindermädchen auf einer der kleinen Äolischen Inseln im Mittelmeer aufwachsend. Doch eben dieser Junge, der scheinbar fernab des Weltgeschehens aufwächst, ist für einige geheimnisvolle Menschen und politische Kräfte von großem Interesse und wird im Laufe seiner Jugend rund um den Globus gejagt, ohne dass er zunächst eine Ahnung hat, weshalb dies der Fall ist. Und obwohl er sich immer wieder an abseitige Orte wie Kirchen und Klöster begibt, entkommt er dieser gnadenlosen Jagd nicht. Bereits die erste Szene des Romans zeigt die Ausweglosigkeit der Rückzugsversuche Vangos. Während der ahnungslose Vango kurz vor seiner Priesterweihe auf dem Pflasterboden vor der Kathedrale Notre-Dame liegend auf seine Weihe wartet, umreißt der Erzähler in einem filmischen Erzählstil eine beklemmende Situation, in der Vango von Verfolgern eingekreist wird und nur knapp entkommen kann. Timothée de Fombelle versteht es, mit einer klaren Sprache und schnellen Perspektivwechseln wie mit einer Filmkamera zu erzählen – Szenerie, Hauptfiguren, Atmosphären und Raumwahrnehmung entstehen mühelos vor dem geistigen Auge des Lesers. Und so beginnt die Verfolgungsjagd bereits auf den ersten Seiten und wird bis zur letzten Seite nicht enden. Doch wird die Spannung nicht nur durch Erzählelemente aus Spionagethillern à la „Bourne Identity“ befeuert, sondern auch durch Elemente der Kriminalerzählung, durch Liebesgeschichten und vielerlei Anleihen in großen Roman- und Filmthemen des 20. Jahrhunderts. So bereiten die beiden Bände „Vango. Zwischen Himmel und Erde“ und „Vango. Prinz ohne Königreich“ all jenen Lesern ein besonderes Vergnügen, die ihr literarisches und filmisches Wissen assoziativ in die Leerstellen und Umrisse füllen können, die die Geschichte aufmacht. Ähnlich geht es jenen Lesern, die über geschichtliches Wissen verfügen, hat der Autor doch die umwälzungs- und spannungsreiche Zeit zwischen 1915 und 1942 als Handlungszeitraum gewählt. Hier stehen allerdings weniger die beiden Weltkriege als vielmehr die technischen Entwicklungen der Zeit und Mythen der Weltgeschichte im Vordergrund. So nehmen die Luftschifffahrt, ihre technische Bedeutung in der Moderne und ihr prominenter Vertreter Hugo Eckener eine gewichtige Rolle für den Erzählverlauf ein. Auch andere zentrale Motive der Moderne finden in hoher atmosphärisch-bildhafter Dichte Eingang in dieses Erzählnetz – so beispielsweise der einsame, vereinzelte Großstadtbürger, die neue, moderne und sogar Automobil fahrende Frau, die brutal agierende Mafia, politische Verschwörungen im wirtschaftlichen Weltgetriebe und ein korruptes Beamtenwesen. Über all diese markanten Motive werden die Figuren meist ganz en passant, aber eindringlich charakterisiert und gewinnen im Laufe der beiden Bände mehr und mehr an Kontur. Das ist auch notwendig angesichts der rasanten Szenenwechsel und der diversen zeitlichen und räumlichen Sprünge in den Romanen. Gerade im zweiten Band, der sprachlich etwas von seiner gelegentlich sehr kühlen Distanz verliert und dadurch zu mehr Empathie anregt, kommen doch so viele Wechsel und Verwirrspiele hinzu, dass man schon gehörig aufpassen muss, um nicht den Anschluss an das Geschehen zu verlieren. Durch die Schnelligkeit und die raschen Wechsel kann sich der Leser kaum dem Sog des Buches entziehen. Trotz dieses Sogs vermisst mancher womöglich die Ruhe und die Tiefe eines längeren Dialogs, denn es scheint mit zunehmender Hetze rund um den Globus manchmal etwas unglaubwürdig, dass nahezu alle Figuren einen Hang zum Schweigen haben. Die kleinen Einwände hinsichtlich der Sprache und des Stils bleiben allerdings die einzigen bei einem Werk, das man vorbehaltlos und im Brustton des Glaubens an die Notwendigkeit von unterhaltenden und gleichsam anspruchsvollen Jugendbüchern nachdrücklich empfehlen kann. Denn nur selten findet man Jugendbücher, die den Charakter eines spannungsreichen Thrillers haben und nicht in triviale Erzählmuster und reißerische Episoden abrutschen. Mit diesem Bänden entsteht daher auch ein neues und begrüßenswertes Subgenre an der Schnittstelle zwischen Thriller, Kriminalerzählung, Spionagegeschichte, Abenteuerbuch und dem historischen Roman.
Timothée de Fombelle: "Vango. Zwischen Himmel und Erde" Übersetzt von Tobias Scheffel und Sabine Grebing Gerstenberg Verlag 2011 ISBN 978-3-8369-5365-8 € 16,95
Timothée de Fombelle: "Vango. Prinz ohne Königreich" Übersetzt von Tobias Scheffel und Sabine Grebing Gerstenberg Verlag 2012 ISBN 978-3-8369-5476-1 € 16,95
"Käfersommer" von Brigitte Jünger Von Frauke Gehrau
Spätsommer, blauer Himmel, Eisessen, Papa bei der Arbeit im Zoo besuchen und über die Schulestöhnen – ansonsten ist die Welt von Edda, einem neugierigen und fröhlichem Mädchen in der vierten Klasse, recht sorglos. Ganz anders ist dagegen die Welt von Jo: sein Vater ist arbeitslos und alkoholkrank, Jo allein kümmert sich um den Haushalt und Hausmeisterposten. Die Rollenverhältnisse sind buchstäblich umgekehrt. Jos wenige Bezugspersonen sind zwei senile Vagabunden und eine Hirschkäferdame, um die er sich liebevoll kümmert. Als Jo Edda das erste Mal über den Weg läuft, ist sie von ihm fasziniert. Sie hält nach ihm Ausschau und als sich ihre Wege sich wieder kreuzen, beginnt Edda eine Freundschaft zu Jo aufzubauen. Beide Protagonisten erzählen abwechselnd in kurzen Abschnitten. Es gibt keine Kapitel, man kann aber Lesepausen zwischen Eddas und Jos Erzählsträngen einlegen. Die Geschichte ist spannend und sehr liebevoll erzählt, vor allem, da Edda ganz am Anfang sagt, dass sich die beiden kennenlernen werden und man während des Lesens sehnsüchtig darauf wartet. Alle wichtigen Charaktere sind sehr gutherzig und damit ein gutes Vorbild für Kinder, für ältere Leser nimmt die Geschichte damit unrealistische Züge an.Auch Jo darf am Ende wieder einfach nur Kind sein. Brigitte Jünger schafft es, Eddas Faszination für Jo und die daraus entstehende Freundschaft als etwas sehr kräftiges, zugleich zartes und natürliches zu beschreiben und es hat mich in den Bann gezogen, das Wachsen der Freundschaft zu beobachten. In Jos Nachbarin Frau Obermeier zeigt sich auch die Sorte von Menschen, die Probleme wie Alkoholsucht nicht wahrhaben möchten. In diesem Zusammenhang lässt sie auch einen schockenden Kommentar fallen. Klar ist jedoch, dass in einem Kinderbuch der Teil der Menschen, die offen für Probleme sind und helfen möchten, überwiegt. Dieses Buch zeigt, dass wir Kinder nicht in ihrer (scheinbar) heilen Welt lassen sollten, und dass sie sich durchaus für Probleme unserer Gesellschaft, die auch sie selbst betreffen, interessieren, und lässt sich bestimmt auch gut im Unterricht verwenden. Auch wenn die Autorin das Thema sehr kindhaft und kindgerecht behandelt, sollten Erwachsene mit den Kindern danach über vernachlässigte Kinder und die Suchtgefahr von Alkohol reden.
Brigitte Jünger: Käfersommer Jungbrunnen Verlag 2011 152 S., Euro 13,90 ISBN 978-3-7026-5833-5
Der Die Das Kunterbunt von Marc-Jacques Maechler
Manfred Schlüter "Der Die Das Kunterbunt" Buntehunde 2011 32 S., Euro 14,90 ISBN 978-3522432160
Die Gelben leben im Gelben Meer. Niemand sieht so gut wie die Gelben. Sie fürchten nur die Roten und die Blauen.
Die Roten leben im Roten Meer. Niemand hört so gut wie die Roten. Sie füchten nur die Gelben und die Blauen.
Die Blauen leben im blauen Meer. Niemand hört so gut wie die Blauen. Sie fürchten nur die Gelben und die Roten.
Die Gelben gehören ins gelbe Meer, die Blauen ins blaue und die Roten ins rote Meer. So ist das nun mal. Bis das kleine Blaue, die kleine Rote und der kleine Gelbe sich zusammentun. Zusammen sehen sie, hören sie und riechen sie sehr gut. "Und das Meer duftet und leuchtet in den schönsten Farben!"
Das Kinderbuch von Manfred Schlüter fasziniert mit seiner geballten Farbenpracht: das gelbe, blaue und rote Meer; man erahnt in welche Richtung die Geschichte gehen würde und freut sich schon auf die Kombination von der die das Gelb, Blau und Rote zu einem herrlichen Kunterbunt. Selten wurde die Botschaft gegen Rassismus und für das Zusammenleben verschiedener "Kulturen" in solch einem bezaubernden kunterbunten Licht beleuchtet.
Die alte Geschichte vom heilsamen Zauber der Liebe Marjaleena Lembcke: „Ichmagnicht ... oder wie der Mann Envälitä auf die Katze kam“ Von Ada Bieber
Marjaleena Lembcke: „Ichmagnicht ... oder wie der Mann Envälitä auf die Katze kam“ Mit Illustrationen von Julia Neuhaus durchgehend farbig illustriert, 32 Seiten, € 14,95 ISBN 978-3-356-01416-7
Die Grundgeschichte ist keineswegs neu: Kindlich-naive Wesen schaffen es mit ihrer natürlichen Zuneigung, Menschenfeinde und mürrische Einzelgänger wieder in ein soziales Miteinander zurückzuführen. Selten wurde diese Geschichte so einfühlsam und ästhetisch so eindrücklich erzählt wie in Marjaleena Lembckes und Julia Neuhaus' Bilderbuch "Ichmagnicht ... oder wie der Mann Envälitä auf die Katze kam". Die finnisch-deutsche Autorin Marjaleena Lembcke hat mit dem finnischen Griesgram Envälitä – „Auf Deutsch heißt es: Ichmagnicht“ – einen ganz besonders harten und mürrischen Mann geschaffen, der sich in sein Haus am Waldrand zurückgezogen hat. Dieser Menschen- und Tierfeind ist, so scheint es, aus tiefster Überzeugung Einzelgänger. Ja, er ist sogar so überzeugt von seiner Feindseligkeit allem und jedem gegenüber, dass er beschließt, über all die Dinge, die er nicht mag, ein Buch zu schreiben. Während dieses Buch wächst und wächst, wählt ein kleines graues Kätzlein den Mann Envälitä und sein Haus am Waldrand als ihr neues Zuhause aus. Immer wieder schleicht sich dieses kecke und selbstbewusste Kätzlein ins Haus, immer wieder schmeißt der hartherzige Mann das kleine Kätzlein brutal hinaus. Doch das Kätzlein lässt sich nicht so leicht abschütteln und kommt immer wieder. Es erobert sich Küche, Arbeitsplatz und Bad. Nach einem besonders heftigen Rausschmiss verschwindet das Kätzlein dann aber doch von der Bildfläche. Eigentlich müsste der hartherzige Mann Envälitä nun glücklich über die wiedergewonnene Einsamkeit sein. Aber – wie sollte es anders sein? – erst jetzt merkt er, dass er das kleine Wesen ins Herz geschlossen hat und entscheidet sich, die kleine Katze zurückzuholen. Dafür geht er sogar in das so verhasste Dorf und nimmt wieder Kontakt mit den Menschen auf! Nach vielen Anstrengungen und intensivem Suchen kommt die Katze so lautlos zurück wie sie verschwunden ist – ganz so als hätte sie die Läuterung des Envälitä abwarten wollen und als wüsste sie um den richtigen Zeitpunkt der Rückkehr. Fortan leben beide friedlich und voller Zuneigung miteinander in dem Haus am Waldrand. Diesem Ende möchte man beinahe das märchenhafte „Und wenn sie nicht gestorben sind ...“ hinzufügen, so friedvoll und glücklich ist es nach all der vorangegangenen Einsamkeits-Brutalität. Diese lehrreiche und märchenhafte Geschichte von einer heilsamen Liebe zwischen Mensch und Katze ist jedoch keineswegs so idyllisch und naiv illustriert, wie man vielleicht vermuten könnte. Die künstlerisch hochwertigen Collagen von Julia Neuhaus sind wütend, wuchtig und gewaltig. Damit gehört dieses Buch zu jenen ästhetisch hochwertigen Bilderbüchern, die in den letzten Jahren vermehrt auf dem Bilderbuchmarkt erscheinen. Die Collage ist innerhalb dieser Tendenz eine häufig verwendete Technik, die beispielsweise durch die Arbeiten Wolf Erlbruchs wieder mehr Beachtung fand. Die Collage scheint sich insbesondere für psychologische Abgründe und Randthemen wie Einsamkeit, Angst, Bedrohung oder Tod zu eignen. Und so ergeben die einerseits groben und großflächigen und andererseits detailversessenen Collagen von Julia Neuhaus in diesem Bilderbuch erschütternde, aber treffende Bilder des hartherzigen Envälitä. Der Material- und Technikmix, die ineinandergreifende Verbindung von realistischen und phantastischen Merkmalen, die Mischung von düsteren Farben und schreiender Farbigkeit und nicht zuletzt die kantig-ungelenke Darstellung des Mannes Envälitä in Verbindung mit der Geschmeidigkeit der kleinen Katze lassen stets aufs Neue eine bildnerische Spannung entstehen, der sich der betrachtende Leser kaum entziehen kann. Dabei entsteht nicht selten auch ein Darstellungswitz, der Typen und Situationen treffend charakterisiert. Es sind Bücher wie dieses, die inhaltlich und ästhetisch den Wert der Bilderbücher unter Beweis stellen. Dieses Bilderbuch fördert nicht nur die literarische Bildung, sondern insbesondere die ästhetische Bildung junger Leser. Doch darf man nicht vergessen, dass gerade eine solch anspruchsvolle und gewaltige Bildsprache viele Kinder (zunächst) überfordert und erst ab einem gewissen Alter einen ästhetischen Genuss darstellt. Daher ist die Altersempfehlung ›ab 5 Jahre‹ des Verlags eher als kritisch anzusehen, können die Bilder kleinen Kindern doch noch Angst einjagen. Insbesondere gilt dies, wenn sich die Geschichte inhaltlich durch Figuren und dargestellte Lebenswelten von den jungen Rezipienten entfernt. Es ist daher weiterhin dringlichste Aufgabe von häuslicher und schulischer Vermittlung, die Bildkompetenz junger Leser mit künstlerisch anspruchsvollen Büchern so zu schulen, dass sie sukzessive ihre Bildkompetenz steigern können. Dabei muss sehr genau und individuell auf die altersbezogene Angemessenheit geachtet werden. Dies dürfte aber dann weniger ein Problem sein, wenn man künftig Bilderbücher stärker als All-Age-Bücher im wahrsten Sinne des Begriffs verstehen würde, die Leser durch ihre gesamte Lesesozialisation begleiten sollten. Man wäre dann von dem unterschwelligen Zwang befreit, Bilderbücher immer in die Vorschul- und Grundschulzeit verbannen zu wollen! "Ichmagnicht ... oder wie der Mann Envälitä auf die Katze kam" ist aus der hier vertretenen Perspektive zwar erst ein Buch für ältere Leser, doch eines der schönsten und anspruchvollsten Bücher des Jahres! Diese alte Geschichte über die Heilkraft der Liebe könnte nicht besser erzählt und vor allem dargestellt sein und sollte weder in Schule noch im privaten Buchschrank fehlen!
Doris Volke: „Die Bärles! Abenteuer im Bärlauchwald“ Von Iris Kersten
Doris Volke: „Die Bärles! Abenteuer im Bärlauchwald“ Verlag Doris Volke 2009 40 Seiten, 9,95 Euro ISBN: 978-3941966031
Die Bärles, das sind der große Bär und das kleine Bärle. Beide gehen im Wald spazieren und man kann es wirklich spüren, wie lieb sich die beiden haben. Unterwegs treffen sie den Igel. Der lädt die Bärles zu sich in sein Grashäuschen ein. Von dort haben sie eine wunderbare Aussicht auf eine Burg: „bestimmt eine Bärenburg [...] oder ein Schloss, mit einer Bärlesprinzessin“. Dieses wahrlich herzige Buch lebt von seinen Bildern: Fotografien der Autorin und zugleich Verlagsinhaberin Doris Volke von zwei knuddeligen Plüsch-Teddybären (eben den Bärles) und dem Stoffigel in einer realen Umgebung (hier also im Bärlauchwald – es gibt bis dato noch vier weitere Bärlesbücher). Ehrlich süß. Mit einem winzigkleinen Manko: Die obengenannte Burg ist unschwer als Kirche zu erkennen, was meinem Sechsjährigen überhaupt nicht gefallen hat (obwohl er das Buch ansonsten wirklich liebt).
Für Kinder und Teddyfans ab 2 Jahren
Ein Buch für den besten Freund Philip Waechter: „ich“ Von Iris Kersten
Philip Waechter: „ich“ Beltz Verlag 2009 64 Seiten, 6,95 Euro ISBN: 978-3407794048
„Ich“, das ist ein selbstbewusster Bär, der voll im Leben steht, sich selbst mag, nie Angst hat und weiß was er will. Aber es gibt auch Tage, an denen er sich ganz klein und einsam fühlt. An solchen Tagen nimmt er seine Beine in die Hand und läuft zu seinem besten Freund. Ein Bilderbuch mit wenig Worten (ein Satz pro Doppelseite), das Kinder unterstützt, ihre positiven Qualitäten zu sehen, sich aber in traurigen und verzagten Momenten an einen guten Freund zu wenden. Ein Geschenkbändchen für groß und klein ab 4 Jahren mit der Botschaft: Das Wichtigste im Leben ist es, einen guten Freund zu haben, und das bist Du, derjenige, dem ich dieses Buch überreiche.
Nikolaus Oldland:"Der große Bär" Von Miriam Schneider
Nikolaus Oldland: "Der große Bär" 32 Seiten, 11,95.- Jacoby & Stuart 2010 ISBN: 978-3941087774
Originalität muss nicht auf Kosten des Kindgerechtseins gehen. „Der große Bär“ von Nikolaus Oldland beweist das. Zuerst unterliegt man einem Wechselbad der Gefühle - die tausendste Bärengeschichte, wie langweilig, aber die Gestaltung! Ganz anders, sehr speziell. Und schließlich die Geschichte, die mit sehr viel Herz, das genau an der richtigen Stelle sitzt, erzählt, wie der Bär alles umarmt, was ihm im Wald begegnet, ganz besonders aber haben es ihm die Bäume angetan; sie liebt er über alles. Er umarmt sie, ist voller Frohsinn und ausgeglichen, bis er eines Tages beobachten muss, wie ein Mensch einen Baum fällt. Die Sätze sind kurz gehalten, die Eindrücke für den Betrachter stark, denn die Gestaltung verzichtet auf Unnötiges, ist gradlinig und steht im Gegensatz zu der niedlich anmutenden Hauptfigur. Dieses Büchlein tut gut im Meer der Gefühlsauslöser, die im Bilderbuch schwimmen und verschwimmen. Eine klare Sprache sprechen diese Illustrationen, wie die eines Plakates. Dadurch gewinnt die Geschichte über Liebe und Enttäuschung zusätzlich an Kraft. Ein Buch, das man nicht übersieht. (Ab 3)
Die Wahrheit von heute ist nicht die Wahrheit von morgen Kate DiCamillo: „Der Elefant des Magiers“ Von Iris Kersten
Kate DiCamillo „Der Elefant des Magiers“ Übersetzt von Sabine Ludwig Geb., 176 Seiten, Euro 12,95 Deutscher Taschenbuch Verlag 2010 ISBN: 978-3423-760-02-7
Balta, gegen Ende des vorletzten Jahrhunderts: Dem zehnjährigen Waisen Peter Augustus Duchene, aufgenommen und gedrillt von einem ehemaligen Soldaten (ein Freund des Vaters), bietet sich durch einen Zufall die Möglichkeit, die Frage, die ihn am meisten in seinem Leben beschäftigt, von einer Wahrsagerin beantwortet zu bekommen: „Wenn meine Schwester lebt, wie komme ich dann zu ihr?“ Die mysteriöse Antwort lautet: „Du musst dem Elefanten folgen.“ Eigentlich gibt es in dem verschlafenen Städtchen keine Elefanten, aber noch am selben Abend geschieht es, dass ein alternder Zauberer dort eine Aufführung im Opernhaus gibt. Er hatte Lilien herbei zaubern wollen, aber plötzlich überkommt ihn der Wunsch, etwas Außergewöhnliches zu vollbringen und echte Magie vorzuführen. So murmelt er die Worte eines außergewöhnlichen und mächtigen Zauberspruches, und anstelle von Lilien erscheint ein Elefant. Der arme Elefant wird nun zum Mittelpunkt der gesellschaftlichen Saison. Auch Peter schafft es, dem Wink der Wahrsagerin folgend, zu dem Elefanten zu gelangen. Dort trifft es ihn wie ein Schlag: Der Elefant muss zurück, sonst wird er sterben... Unterdessen träumt im nahe gelegenen Waisenhaus das Mädchen Adele von einem Elefanten, der an die Haustür klopft, um es zu retten. Die Autorin Kate DiCamillo erzeugt durch ihre poetische Sprache (übersetzt von Sabine Ludwig) eine geradezu magische Atmosphäre, und es wird den Leser nicht wundern, dass das Unmögliche möglich wird. Eine bezaubernde Geschichte über Hoffnungen und Wünsche, über die Wahrheit und das Zusammengehören, treffend ergänzt durch märchenhafte Zeichnungen in schwarz-weiß von Yoko Tanaka. (Ab 7)
Brigitte Schär: „Dinosaurier im Mond. Luzis verrückte Geschichten“ Von Iris Kersten
Brigitte Schär: „Dinosaurier im Mond. Luzis verrückte Geschichten“ 112 Seiten,12,90 Euro Sauerländer Verlag 2009 ISBN: 978-3794161478
Fantasie muss man nur haben! Schon mal was von einer Lehrerin gehört, die sich in ein Rhinozeros verwandelt, einer Oma am Trapez oder von Katzen- und Hunderegen? All das gibt es hier. Und noch viel mehr Verrücktes! Präsentiert werden Brigitte Schärs Geschichten im Gewand von Luzis Erzählungen. Erzählt wird immer abends nach dem Essen, wenn die ganze Familie (das sind Mama, Papa, Hannes, Luzi und Sascha) noch am Tisch sitzt. „Da weiß niemand so genau, was wirklich wahr ist, weil alle ständig was dazuerfinden.“ Grandios ist Schärs Sprache – ganz der Kindermund. Und neben ihren fantastischen Geschichten ist es die Einleitung, die geradezu gelungen ist: „Wir sind fünf in unserer Familie. […]. Es ist alles in schönster Ordnung. Es könnte aber auch ganz anders sein. Dass ich zum Beispiel allein mit Mama wäre. Oder Papa hätte eine andere Frau, die nicht Mama ist. Oder er wäre mein Onkel und nicht mein Papa. Oder mein Lehrer. Dann wäre auch ich jemand ganz anderes.“ Oder...oder...oder... Damit wäre schon mal der kommende Ideenreichtum bewiesen. „Bei uns weiß man sowieso nie mit Sicherheit, wer wer und wer was genau ist.“ So werden wir auf die folgenden elf Geschichten vorbereitet. Geschichten in der Länge von drei bis dreizehn Seiten und jeweils einer doppelseitigem Schwarz-Weiß-Zeichnung von Jacky Gleich. Luzie berichtet mit einer Selbstverständlichkeit, dass es eine wahre Freude ist. In Der Geburtstagsdrache zum Beispiel erzählt sie, wie der Drache ihre Mutter gefressen hatte, als sie an ihrem Geburtstag von der Schule nach Hause kam. „Natürlich hätte ich den Drachen sofort erschlagen können, wozu übte ich sonst ständig vor dem Einschlafen Drachenkampf. Dann hätte ich aber auch gleich meinem Mutter miterschlagen […]. Da öffnete der Drache sein großes Maul. Ich sprang […] in den geöffneten Rachen hinein. […] Zum Glück hatte ich wie immer meine Taschenlampe dabei.“ Luzi rettet natürlich ihre Mutter, die in der hintersten Ecke des Drachens in einer kleinen Küche steckt und Luzis Geburtstagskuchen backt. Danach aber lässt der Vater sie den Drachen nicht töten, weil es doch ein lieber Drache ist. Da nun der Kopf des Drachen zum Fenster hereinschaut und der Rest des Körpers draußen im Garten und auf der Straße liegt, bleibt das ganze keine Familienangelegenheit mehr. Sogar das Fernsehen kommt und dreht einen Film. So hat der letzte lebende Drache Luzi und ihre Familie berühmt gemacht. Luzis Papa hat ihn danach übrigens an einen geheimen Ort gebracht, damit der Drache seine wohlverdiente Ruhe hat. Ein anderes Mal kommt Luzi dem Sockengeheimnis auf die Spur. Dieses Phänomen, dass Socken aus der Waschmaschine verschwinden, kennt wohl jeder – und vor allen Dingen geht ja auch immer nur eine verloren oder wenn es zwei sind, dann sind es zwei Verschiedenfarbige, nie ein Paar. Und so geschieht es auch in Luzis Familie. Als die Mutter wieder einmal über ein paar verloren gegangene Socken klagt, beobachtet Luzi die Waschmaschine. Diese bleibt plötzlich während des Waschganges stehen. „Die Trommel stand still. Die Tür sprang auf. Auch ich sprang auf. Zwei Socken, eine rote und eine grüne, platschten klatschnass aus der Maschine auf den Boden.“ - und verschwinden im offenen Abfluss. Und das ist noch nicht das Verrückteste. Noch seltsamer findet Luzi, dass sie ihre Socken in dem Film, den sie im Unterricht anschauen, im Urwald an den Bäumen wiederfindet. Und noch erstaunlicher wird es, als plötzlich ihre unterschiedlich farbigen Socken unbemerkt von ihren Füßen verschwunden sind (die Schuhe stehen daneben). „Das ist unglaublich!“ findet auch Luzis Lehrerin, die ebenfalls mit nackten Füßen dasteht (hatte sie doch morgens eine blaue und eine rosa Socke angezogen) und die auch die Socken in dem Urwaldfilm auf den Bäumen hat hängen sehen. Und so beginnen Luzis Geschichten immer in der Realität, nehmen einen fantastischen und skurrilen Verlauf, um danach wieder in der Realität zu enden. Diese zwei Geschichten nur als Beispiele für Brigitte Schärs herrliche Erzählweise und ihre wunderbaren Ideen. Ein Lesevergnügen für Jung und Alt ab 5 Jahren.
Die Rezensentin ist Literaturkritikerin und Autorin. Zuletzt erschien von ihr eine Kindererzählung in "Kleine Geschwister. Literaturzeitschrift für Kinder" Nr. 2 (ISSN 2191-3668).
Paul van Loon: "Viktor Werwolf. Klassenfahrt in den Schwefelwald" Von David Schmidhofer
Paul van Loon: “Viktor Werwolf. Klassenfahrt in den Schwefelwald“ Coppenrath 2010 Mit Bildern von Thorsten Saleina Aus dem Niederländischen von Eva Schweikart 198 Seiten, Euro 9,95 ISBN 978-3815755624
Mit Klassenfahrt in den Schwefelwald liefert Paul van Loon eine gelungene Fortsetzung der Geschichte seines Buchhelden Viktor Werwolf. Im niederländischen Sprachraum erfreuen sich die Viktor-Werwolf-Bücher großer Beliebtheit. Deshalb sind in der Originalsprache bereits knapp 20 Bände erschienen, während in der deutschen Übersetzung erst der zweite Band vorliegt. Viktor wäre ein ganz normaler Junge, der in die dritte Klasse geht, hätte er nicht ein Geheimnis, das ihn immer wieder in Schwierigkeiten bringt: Immer bei Vollmond verwandelt er sich in einen wilden Wolf. Er fängt an zu knurren, heult dem Mond zu, streunt durch die Nächte und reißt Hühner. An seine Eltern erinnert sich Viktor nicht mehr, denn sie ließen ihn als kleinen Jungen im Stich, als sie von seinen Verwandlungen erfuhren. Seiner neuen Familie macht das hingegen gar nichts aus. Vater, Mutter und sein Bruder Timmy kümmern sich liebevoll um ihn und haben sehr viel Verständnis für die besonderen Probleme eines Werwolfes! Eines Morgens scheint aber alles schief zu gehen. Timmy ist krank und vergisst, das nächste Blatt vom Kalender abzureißen. Dadurch glaubt die Familie, Vollmond sei erst nächste Woche. Tatsächlich ist es aber schon heute Abend so weit. Der kranke Timmy bleibt im Bett liegen, während Viktor nichts ahnend auf Klassenfahrt fährt. Diesmal muss er sich zunächst allein durchschlagen. Erst als die Situation kritisch wird und sein Geheimnis aufzufliegen droht, braucht er Hilfe von seiner Familie… die unerwartet größer geworden ist. Das Ende hält wieder jede Menge Stoff für Fortsetzungen bereit. Der Autor zeichnet die Charaktere der Geschichte überspitzt, ohne aber ins Lächerliche abzugleiten. Der Vater ist eine exzentrische, gutmütige und leicht naive Figur. In seiner Zerstreutheit kann es schon einmal vorkommen, dass er das Datum vergisst und Viktor auf die Klassenfahrt fahren lässt, obwohl Vollmond ist und Viktor sich dort in einen Werwolf verwandeln wird. Timmy ist das Gegenstück zu seinem unorganisierten Vater. Er beschützt seinen Bruder so gut er kann und behält stets den Mondkalender im Auge, um Viktor zu warnen, wenn es wieder einmal so weit ist. Der Jäger ist ein klassischer Bösewicht, der dem Werwolf an den Kragen will. Dabei steht ihm aber seine eigene Einfältigkeit im Weg: „’Nun, wenn ich dabei bin, braucht ihr keine Angst zu haben. Ich kenne den Schwefelwald wie meine Westentasche, ja. Außerdem bringe ich morgen meinen besten Freund mit.’ Die Kinder sahen ihn fragend an. ’Ja, und zwar mein Gewehr, ja’“. Klassenfahrt in den Schwefelwald ist spannend und kurzweilig geschrieben. Der Autor hält sich nicht mit langen Beschreibungen auf, sondern lässt ein Ereignis auf das andere folgen. Die Geschichte bietet alles, was ein Kinderbuch braucht: viel Spannung, Humor, eine sympathische Identifikationsfigur, einen Bösewicht und eine kleine Liebesgeschichte.
Der Rezensent ist Experte für niederländische Literatur und als Übersetzer tätig (Im WorldWideWeb.nl-de.com).
Kristin Clark Venuti: „Abschied von den Bellwaters“ Von Tonke Svenson
Kristin Clark Venuti: „Abschied von den Bellwaters“ Aus dem Englischen von Werner Leonhard Mit Illustrationen von Lizzy Bromley Jacoby und Stuart 2010 240 Seiten, Euro 12,95 ISBN 978-3941087842
Bei Kindern um die zehn (und auch einen Tuck älter) ist die Familie aus dem Buch „Abschied von den Bellwaters“ gern gesehen. Das ist sofort zu verstehen, wenn man -neben dem lebendigen Stil, der die Figuren geradezu heraustreten und die Kinderzimmer der Leser besiedeln lässt- ja, wenn man sich die Familie Bellwater anschaut. Der Vater – ein Erfinder mit Wutanfällen, die Mutter - die ständig die Wände färbt in dem Leuchtturm; der Leuchtturm – das Domizil der Bellwaters, zu denen noch Karl, der Alligator gehört, der eines Tages in einem Paket ankam, das der ältestes Sohn, Liebhaber gefährlicher Tiere, bestellt hatte. Dann die Tochter, eine Dudelsackspielerin, und die Drillinge, die nur Chaos veranstalten. Eine für sich schon turbulente Konstellation, aber nun fügt die Autorin Kristin Clark Venuti – mit ihrem Sinn für Lebensfreude unübersehbar Kalifornierin – noch eine Person ein, die das Ganze irgendwie steuern soll: Einen Butler! Von der ersten Seite an ist klar, dass er kündigen will, weg von den Bellwaters, für immer, in „8 Wochen, 2 Stunden, 27 Minuten“. Seine Tagebuchaufzeichnungen, eingestreut in die Abenteuer der Familie, nähern sich dem Abschied von den Bellwaters. Ein literarisch listiger Schachzug: Die Einschübe des Butlers bieten für die einzelnen Szenen eine Klammer. Das Tagebuch des Butlers hält -so wie er selber die ganze Familie- die Geschichte zusammen, und es steigert das Witzige für die Leser, die nun zusätzlich zu den Bellwaterschen Katastrophen noch die Entnervung des Butlers kennen. Das Buch ist leicht zu lesen, ohne billige Pointen zu liefern. Man hat viel, um in sich hinein zu schmunzeln. Der Kauf empfiehlt sich für Eltern, die ihr Kind nicht überfordern wollen, aber doch auch Wert auf Niveau legen. (Ab 10)
Stefan Weidner: „Allah heißt Gott. Eine Reise durch den Islam“
Stefan Weidner: „Allah heißt Gott. Eine Reise durch den Islam“ Fischer Schatzinsel 2008 240 Seiten, Euro 9,95 ISBN 978-3596806
(librikon) Dieses Buch haben wir nicht „nur“ und auf die Rezension für ein anspruchsvolles Publikum hin gelesen, sondern wir haben es auf Leib und Magen geprüft. Zunächst eröffnet „Allah heißt Gott. Eine Reise durch den Islam“ auch dem erwachsenen Leser neue Welten. In bewundernswert ausgewählten Schwerpunkten führt es durch sein komplexes Thema und weckt Interesse, wo vorher nur Unwissen war. Eine noch größere Wirkung entfaltet das Sachbuch des Islamwissenschaftlers Stefan Weidner auf jugendliche Leser, die die aktuellen Debatten mitbekommen und um eine eigene Position ringen. Ihnen bringt der Autor auch durch die vielen persönlichen Eindrücke und Kontakte nahe, wie man Sinn für das Andere behält und es als Bereicherung zu empfinden weiß. Gehalten ist das Buch in einer einfachen Sprache, die auch sehr schwierige Bereiche klar und verständlich vermittelt. Über Kapitel wie „Der Islam und wir“ oder „Für Normalität im Zusammenleben“ lässt sich mit Kindern im Alter von elf, zwölf Jahren sprechen, sie können sie allein lesen und werden sodann zur Meinungsbildung und Stellungnahme angeregt. In die Familien dringen so Debatten, die man sehr gut auch und gerade mit Kindern führen kann. Die kurzen Kapitel, ergänzt durch Informationskästchen (an sich in vielen Büchern zu sinnlosem Infotainment verkommen, hier wirklich sinnvoll eingesetzt) und einer sehr schönen, endlich mal wieder mitdenkenden Gestaltung, laden aber auch zum Vorlesen ein. Die Zuhörer im Alter von sechs bis neun Jahren werden gefesselt von einem Buch, das auch immer die kindliche Perspektive einbezieht. Nach intensiver Lektüre, allein und mit Kindern, ja, geradezu als Familienschatz, bleibt nur mit Erstaunen zu konstatieren, dass ein solch erstklassiges Sachbuch überhaupt möglich ist. Mit ihm liegt ein vorbildhaftes Werk vor, das im Bereich Kinderwissen Standards setzt. (Ab 8)
Vom Wunsch, glücklich zu werden Guus Kuijer: „Das Buch von allen Dingen“ Von Iris Kersten
Guus Kuijer: „Das Buch von allen Dingen“ Oetinger 2006 93 Seiten, 9,90 Euro ISBN-13: 978-3789140228
Thomas ist neun Jahre alt, und auf die Frage, was er später einmal werden will, antwortet er: „Glücklich.“ Der Junge wächst im Holland der frühen 50er Jahre auf. Seine Familie wird von einem prügelnden und streng religiösen Vater gemaßregelt. Die Mutter ist zwar liebevoll, kann sich aber gegen den Vater nicht zu Wehr setzen, und seine Schwester ist in Thomas Augen „dumm wie ein Kartoffel“ (diese Meinung wird er später noch revidieren). Zum Glück kann Thomas Dinge sehen, die andere nicht sehen, und er kann sich auch das, was verboten ist, einfach wegdenken. Diese Fähigkeiten helfen ihm, mit seiner Situation fertig zu werden und seine Angst auszuhalten. Gott hat sein Vater aus ihm heraus geprügelt. Da ist sich Thomas sicher, aber zum Glück gibt es ja noch den Herrn Jesus, der „ab und zu auf ein Schwätzchen“ vorbeikommt. Dann sind da noch Elisa und Frau Amersfoort. Elisa ist sechzehn und hat ein künstliches Bein aus Leder, das beim Gehen quietscht. Für Thomas ist sie wunderschön und er fühlt sich ihr nah, denn sie versteht, was er sieht. Frau Amersfoort ist die Nachbarin und eine Hexe. Als sie Thomas vor dem Hinternbeißer, einem Hund, rettet, trägt er ihr die Einkäufe nach Hause, und die beiden freunden sich an. Sie leiht Thomas Bücher (zu Hause wird nur die Bibel als wahres Buch anerkannt), und bei ihr hört er zum ersten Mal andere Musik als Kirchgesänge. Sie ist es auch, die Thomas darauf hinweist, dass das Glück damit anfängt, keine Angst zu haben. Und Thomas hat auch schon keine Angst mehr. Auf jeden Fall nicht vor Hexen. Von all dem schreibt er in seinem Buch, das „Buch von allen Dingen“. Thomas' Gespräche mit Jesus sind wohl als kindliche Gebete zu betrachten, in denen Thomas Zuflucht sucht. Hier wird der Unterschied zweier Gottesbilder sichtbar: auf der einen Seite der strafende Gott des alten Testaments, aus dem der Vater täglich zitiert, ein Gott, der die zehn Plagen Ägyptens schickt (aber leider nicht zu Thomas' Vater), auf der anderen Seite Jesus, der zuhört und versteht, zwar nicht immer helfen kann und auch nicht auf alles eine Antwort weiß („Mein Name ist Hase,“ beliebt er zu sagen.), der aber einfach für Thomas da ist. Und so lernt Thomas, dass die Dinge zwei Seiten haben, denn wenn es auch den Eindruck macht, dass seine Schwester dumm ist, so ist sie doch eher schlau und sogar mutig, und wenn die Nachbarin für eine Hexe gehalten wird, so ist sie vielleicht einfach nur jemand, der das Unrecht nicht mehr mit ansehen und daher helfen will. Thomas lernt den Dingen ins Gesicht zu schauen und seine Angst zu überwinden. Letztendlich ist er so sehr an sich selbst gewachsen, dass er sogar Mitleid für seinen Vater empfindet: „Er dachte, er hätte ein Nilpferd verschluckt, aber dann begriff er, dass es Mitleid war.“ Kein einfaches Buch, aber wer hat behauptet, dass Kinder nur Einfaches lesen sollen? Schon durch das Vorwort „Die Geschichte fängt noch gar nicht an“ erfährt der Leser, dass es Thomas gelungen ist, glücklich zu werden, denn es ist der schon erwachsene Thomas, der Guus Kuijer sein Tagebuch, „Das Buch von allen Dingen“, in die Hand drückt und dies bestätigt. So erreicht der Autor, dass es bei der Lektüre der eigentlichen Geschichte einfacher wird, die Ungerechtigkeiten, die geschehen, zu ertragen. (Dies nur als Hinweis, da es Stimmen gibt, die behaupten, dieses Buch sei für Kinder nicht geeignet.) Gewiss sind Themen wie ein gewalttätiger Vater, fanatische Religiosität oder Nachkriegszeit schwer verdaulich, dennoch schafft es Guus Kuijer durch seine märchenhafte, poetische Art zu erzählen und eine zusätzliche Portion Humor all das Unerträgliche (für den Leser) erträglich zu machen. Und wenn es auch kein echtes Happy End gibt (selbst für Jesus ist es zu schwer, seinen Vater zu erlösen), so macht es dennoch Mut. Es ist ein wahrhaft poetisches Buch mit Inhalten, die unter die Haut gehen. (Für Erwachsene und Kinder ab 10 Jahren )
Faszinierend-unheimliches Flair der Maschinen-Dystopien Agnès de Lestrade, Valeria Docampo: „Die große Wörterfabrik“ Von Melanie Grundmann
Agnès de Lestrade: "Die große Wörterfabrik" Mit Bildern von Valeria Docampo Mixtvision Verlag 2010 40 Seiten, Euro 13,90 ISBN 978-3939435266
„Die große Wörterfabrik“ ist eine kleine Fabel über die Macht der Liebe, die sich weniger in Worten als vielmehr in Blicken, Handlungen und Gefühlen Ausdruck verschafft. Paul und Marie leben in einem Land, wo Worte selten sind und teuer erstanden werden müssen. Manchmal fangen die Kinder Wörter ein und berichten sie stolz ihren Eltern oder heben sie für besondere Anlässe auf. Auch Paul findet ein paar Wörter, aber sie passen nicht, um seiner Liebe für Marie Ausdruck zu verleihen. Da taucht plötzlich Oskar auf, Sohn reicher Eltern, der Marie mit allen Worten zu bezirzen vermag. Paul glaubt aufgeben zu müssen, doch ein Lächeln sagt oft mehr als tausend Worte... Dieses Buch besticht vor allem durch seine sehr charmante Ästhetik, die in den beeindruckenden Illustrationen von Valeria Docampo das faszinierend-unheimliche Flair kommunistischer Maschinen-Dystopien des frühen 20. Jahrhunderts einfängt. Assoziationen zu „Metropolis“ aber auch japanischen Mangas liegen nicht fern. Doch am Ende triumphiert die Liebe der Menschen über das repressive Regime der Maschinen. Ein Buch, das zum Nachdenken anregt über die Bedeutung materieller Güter und immaterieller Werte. (Ab 4)
Die Rezensentin ist Kulturwissenschaftlerin und Autorin. Zuletzt ist von ihr erschienen: "Dandiana: Der Dandy im Bild englischer, französischer und amerikanischer Journalisten des 19. Jahrhunderts" (Verlag Monsenstein und Vannerdat). Zudem hat sie übersetzt: Aubrey de Grey, Michael Rae:Niemals alt!: So lässt sich das Altern umkehren. Fortschritte der Verjüngungsforschung (Verlag transcript)
Innehalten mit einer tollen Hauptfigur Tarik A. Bary: „Der König der Dinge“ Von Susan Müller
Tarik A. Bary: „Der König der Dinge. Eine Erzählung aus Ägypten“ Aus dem Arabischen von Doris Kilian Atlantis Verlag 2004 182 S., Euro 13,90 ISBN 978-3715204970
Karims Eltern gehen auf große Auslandsreise. Zurück bleibt Karim, der auf ein Internat muss. Dort erlebt er, ein fulminanter Einstieg für ihn und für den Leser in die Geschichte, Erstaunliches. Die Gegenstände, leblose Dinge beginnen mit ihm zu sprechen! Sie bitten ihn um Hilfe, ob ihrer schlechten Behandlung. Karim möge doch den anderen Schülern mitteilen, dass auch sie eine „Seele“ haben und nicht zerstört oder misshandelt werden wollen. Karim ist ja „der Neue“ und hat noch keine Freunde. Er macht direkt Bekanntschaft mit den tonangebenden Schülern. Da er sich aber nichts gefallen lässt, werden diese schnell zu Feinden. Aber nicht nur zu seinen - die anderen Schüler gehen ihnen lieber aus dem Weg. Doch Karim bekommt Hilfe von Hamir und Nabil, die auch seine Freunde und Zimmerkameraden werden. Denen berichtet er von dem Anliegen der misshandelten Dinge. Die zunächst skeptischen unter ihnen lassen sich schnell überzeugen. Sie mekren, dass Karim einen Draht hat zu den Dingen und sie zu ihm. Sie beschützen Karim. Karims Besonderssein ruft einen furchtbaren Neider auf den Plan, Susa. Karim durchschaut Susa nicht und schlägt die Warnungen seiner Freunde in den Wind. Susa will hinter Karims Geheimnis kommen; als dies aber nicht gelingt, weil die Dinge mit ihm eben nicht sprechen, verrät er Karim an die „Fieslinge“ im Internat. Die wiederum haben ihre mächtigen Väter im Rücken, nur wird es dem Direktor mittlerweile auch zu bunt, wie die Söhne sich aufführen und benehmen. Er glaubt Karim und akzeptiert die Forderungen der Dinge, die Karim ihm überbringt. Der Direktor ignoriert den Einfluss der Väter und verweist die drei Grobiane der Schule. Die Dinge werden ab sofort pfleglich behandelt und ehren ihren Helden Karim. Er bekommt im Beisein von den stolzen Hamir uns Nabil die Auszeichnung „König der Dinge“ verliehen. Dieses originelle, in seiner Feinsinnigkeit kaum wiederzugebende Buch zeigt in kindnahen Bildern, dass es oft gedankenlos von uns ist, wie wir mit Gegenständen umgehen, nur weil sie laut unserer Auffassung nichts spüren. Das Nachdenken darüber, das Innehalten führt die jungen Leser auch zu ihrem Umgang mit Menschen – eine Fabel also, nicht mit Tieren, mit Dingen. Gut zu lesen, eine tolle Hauptfigur zur Identifikation und eine Thematik schön verpackt, über die wir uns viel zu selten Gedanken machen. (Ab 12)
Die unerträgliche Niedlichkeit des Seins Der Susanna Rieder Verlag bringt die Roger Hargreaves Mr. Men und Little Miss-Serie in einer deutschen Neuübersetzung heraus. Endlich. Von Jan Fischer
Niedlich. Wirklich unglaublich niedlich. So sehen sie aus, Roger Hargreaves Kreaturen, Mr. Glücklich, Miss Glanz, und wie sie alle heißen: Rundliche bis eckige Wesen, die deren hervorstechendste Eigenschaft ihnen ihre Namen gibt, und immer wieder für Verwicklungen sorgt. Um die 70 dieser Wesen haben sich Roger Hargreaves und sein Sohn Adam ausgedacht, eine Auswahl davon erscheint jetzt in Susanna Rieder Verlag in einer komplett neuen Übersetzung. Es ist erstaunlich, dass die Mr. Men und Little Miss es in Deutschland nie so richtig geschafft haben – natürlich, wenn man die Figuren sieht, kommen sie einem sofort bekannt vor, aber in den englischsprachigen Ländern und in Frankreich gibt es seit den 70ern, seit dem ersten Buch Mr. Tickle (dt. Mr. Kitzel) einen regelrechten Hype um diese Figuren, mit allem Drum und Dran, vor allem aber einer riesigen Merchandise-Palette, die hierzulande nie so richtig angekommen ist. Vielleicht liegt das an der alten Übersetzung – wie man von Little Miss Plump zu Unsere Rosi Rundlich kommt, ist zwar irgendwie schon nachvollziehbar, aber doch etwas abwegig – die Titel der alten Übersetzung klingen alle ein wenig verstaubt, uninteressant, altbacken mit einem erhobenen Zeigefinger aus Omas Moralküche. Dabei sind die Bücher oft erstaunlich pointenlos – manchmal belehrend (Mr. Glücklich erklärt uns, zum Lachen müsse man nur die Mundwinkel hochziehen), aber oft eben auch nicht (Mr. Umgekehrt kommt in die Stadt, verursacht Chaos, und als er wieder weg ist, reden alle wie er). Tatsächlich wirken die Mr. Men und Little Miss-Bücher erstaunlich frisch – die Entstaubungsaktion mit der Neuübersetzung tut ihnen gut. Sie wirken aber nicht nur frisch, sondern geradezu wie ein kleiner Zerrspiegel, der der Welt da vorgehalten wird. Natürlich, es sind Stereotype, aber interessant gefundene Streotype – auf jeder Feier gibt es einen Mr. Ungeschickt, der die Teller fallen lässt, und einen Mr. Größenwahn, der den Snob raushängen lässt.
Roger Hargreaves Mister Men und Little Miss Neu übersetzt von Nele Maar und Lisa Buchner Susanna Rieder Verlag 2010 jeweils 32 Seiten, Euro 2,10 Mister Glücklich ISBN 978-3-941172-13-5, Mister Perfekt ISBN 978-3-941172-14-2, Mister Umgekehrt ISBN 978-3-941172-15-9, Mister Schlotter ISBN 978-3-941172-16-6, Miss Hokuspokus ISBN 978-3-941172-17-3, Miss Glanz ISBN 978-3-941172-18-0, Miss Sturkopf ISBN 978-3-941172-19-7, Miss Purzelbaum ISBN 978-3-941172-20-3 Die Titel sind
einzeln oder in einer Verkaufsbox zu beziehen
Ein originelles Buch voll Subversivität. In diesem Land, in dieser Zeit Amy Krouse Rosenthal: "Die kleine Eule, die nicht immer so lange aufbleiben wollte"
Amy Krouse Rosenthal: "Die kleine Eule, die nicht immer so lange aufbleiben wollte Mit Illustrationen von Jen Corace Aus dem Englischen von Anu Stohner Hanser 2010 36 Seiten, Euro 9,90 ISBN 978-3446234673
(librikon) Ein wirklich gutes Bilderbuch kann man nur mit Liebe und Fürsorge für das Detail schreiben, illustrieren, übersetzen und verlegen. Deshalb ist „Die kleine Eule, die nicht immer so lange aufbleiben wollte“ ein wirklich gutes Bilderbuch. Die Illustrationen sind eben darum so herrlich, weil sie nicht etwas kalkuliert Kindliches ausstrahlen und doch durch und durch für Kinderaugen gemacht sind. Kein Deut „naivlich“, stattdessen schön, herzlich, dabei, hohe Illustrationskunst, karg und abstrakt gehalten – eine Augenweide. Text und Bild korrespondieren auf wohlüberlegte Art und Weise. Eine harmonische Mischung: Seiten mit über das Gesamte reichende Bilder, dann comicartige Bilderfolgen in zum Comic genau verdrehter Manier (die Bilder sind die Gedanken in Luftblasen, der Text findet sich darunter.) Verdreht und umgekehrt, wie die Geschichte, die erzählt wird. Sie lebt davon, dass die Erziehung der Eltern andersherum ist, als Menschenkinder es kennen. Eine Eule darf nicht früh ins Bett gehen. Die Eltern nerven. „Spiel noch ein Stündchen, dann kannst du schlafen gehen“, schlug Mama Eule vor. „Eine ganze Stunde?“, fragte die kleine Eule. „Nur eine Stunde“, sagte Mama Eule.“ Die Eltern wollen sie wach halten, mit allen Mitteln. Das ist schmunzlerisches Urgestein! Doch ist es nur eine harmlose Tauscherei? Verkehrte Welt, das ist ein bekannter Kinderbuchtopos, siehe zum Beispiel „Es waren einmal eine Mama und ein Papa“ von Siv Widerberg und Eva Lindström. Für die kleine Eule ist die verkehrte Welt jedoch, im Unterschied zum bisher Dagewesenen, keine von ihr bewusst erlebte Umkehrung, kein Spielchen mit den in Wahrheit allmächtig bleibenden Erwachsenen. Es sind die Gesetze, denen sie sich unterwerfen muss als Eulenkind, es sind Eulengesetze und damit im Grundsatz aus der gleichen Legislative entspringend und von der gleichen Exekutive, den Eltern, ausgeführt wie Menschengesetze. Das Verbotene ist erlaubt, das Erlaubte verboten – doch nicht um einer Verwechslungskomödie willen. Die Eule ist ein Nachttier, daher die Umkehrung; keine Umkehr der Regelhaftigkeit. Und daher, von Verkehrung keine Spur mehr, sind die Reaktionen von kleiner Eule und kleinem Mensch ganz dieselben. Die Gesetze, an die ich mich halten soll, die muss ich überprüfen können, besonders, wenn ich mich täglich gegen sie sträube, das sind die Gedanken, die „Die kleine Eule“ auslöst, bei Eltern und beim Kinde. Denn selbstverständlich wehrt sich auch das Menschenkind im echten Leben nach Kräften und trägt einen halben Sieg davon – die Geschichte von der kleinen Eule erzählt nicht nur von Konfrontation („Wenn ich groß bin, dürfen meine Kinder so früh in Bett, wie sie wollen.), sondern von Liebe („Da deckten die Eltern ihre Kleine schön warm zu, gaben ihr ein Küsschen auf den Schnabel…“) und befindet sich damit mitten in dem, was die Menschlichkeit in der Familie ausmacht (und was Staatsbetreuungszwang nie erreichen wird). In unserer Zeit, in diesem Land: Ein originelles Buch voll zarter Subversivität. (Ab 3)
Literarisches Abstecken Juliane Kayser: „Malchen und die vergessene Zeit“ Von Miriam Schneider
Juliane-Sophie Kayser: „Malchen und die vergessene Zeit“ Mit Illustrationen von Bernhard Oberdieck Wellhöfer Verlag 2009 47 S., Euro 14,80 ISBN 978-3939540113
Das Genre Zeitreise-Roman hat schon viele Schriftsteller angezogen; es birgt so unendlich große Möglichkeiten, sich von Zwängen zu befreien und ganz in intelligente Gedankenspiele zu verfallen. Auch in der Kinderliteratur sind die Versuche Legion, und einige Bücher von ihnen sind gelungen. Zu diesen lesenswerten Werken gehört das Büchlein der Kinderbuchautorin Juliane Kayser. Es führt die achtjährige Hannah zurück in die Mitte des 19. Jahrhunderts, hin zu einer Freundin, wie sie eine bessere in der Gegenwart nicht finden kann. Und doch vergisst Hannah ihr eigentliches Leben nicht, wie auch? Die Leser sind ihr nie einen Schritt voraus, man fühlt mit ihr, obwohl nicht –wie so oft im Kinderbuch- mit dem Holzhammer auf Identifikation gesetzt wird. Die Autorin zeigt sprachliches Feingefühl, und so ist „Malchen und die vergessene Zeit“ auch ein –wie so selten im Kinderbuch- literarisches Abstecken des Terrains des Zeitreise-Sujets. Die historischen Hintergründe (Schauplatz: Heidelberger Schloss) werden nicht ignoriert oder verdreht; hier kann der Leser sich beruhigt vor Fantasy geschützt wissen. Glücklich fügen sich zu der Erzählung die Illustrationen von Bernhard Oberdieck, der einige Erfahrung mitbringt und dieses Debut gestalterisch weder zu Massenware noch zu einem ungekonnten Außenseiter werden lässt. (Ab 8)
Mit einem Faden, dem man gerne folgt "Die Abenteuer von Schnäddi und Höppi" Von Marc Jacques Mächler
Christine Grossenbacher / Beat Widmer: Die Abenteuer von Schnäddi und Höppi Mit Illustrationen von Bernhard Oberdieck Schnäddi und Höppi Verlag 2008 119 Seiten, CHF 28.- ISBN 978-3033015449
Das Königreich Waldwiesen ist in heller Aufregung. Der König Kasimir hat in ein paar Tagen Geburtstag und es soll ein riesige Fest geben und Onkel Zinni, der Tüftler und Labormeister des Reiches, soll das goldene Feuerwerk vorbereiten. Bei der Vorbereitung explodiert ihm aber sein ganzer Vorrat an Gold und ohne Gold gibt es kein Feuerwerk. In den Schleierbergen gibt es Gold. Sodann macht sich Zinni auf. Der Hase Höppi hat wieder einmal Stubenarrest bekommen, weil er seinem Onkel Zinni im Labor geholfen hat, auch wenn es seine Eltern verboten haben. Das macht ihn sehr traurig. Als sein Freund Schnäddi vorbeikommt, entschliesst sich Höppi, ein Held zu sein, und überredet seinen Freund, ihn auf dem gefährlichen Weg in die Schleierberge zu begleiten, um Onkel Zinni zu helfen, Gold zu finden. Ihr Weg führt sie in der Nacht durch den Geisterwald, wo sie -von unheimlichen Lichtern und Geräusche umgeben- ziemlich Angst bekommen. Umso erleichterter sind sie, als sie endlich Onkel Zinni antreffen. Zusammen brechen sie am anderen Tag auf, um Gold in einem Bach der Schleierberge zu waschen. Die berüchtigte Waschbärenbande, welche in der Nacht vorher aus dem Gefängnissturm ausgebrochen ist, kriegt Wind von der Sache, und natürlich, wie es sich für gute Räuber gehört, haben sie nur noch eines im Sinn: das Gold der Abenteurer zu klauen. Es wird gefährlich, und nur mit klugen Finten und mit dem Herzen voller Mut können Onkel Zinni, Höppi und Schnäddi ihr Gold verstecken. Es gelingt ihnen sogar, die drei Räuber der Waschbärenbande in eine Falle zu locken, wo die Hellebarden des Königs die Gauner festnehmen können. Das goldene Feuerwerk zu Ehren des Königs wurde gerettet und die drei Abenteuer werden als Helden gefeiert. "Die Abenteuer von Schnäddi und Höppi" liest sich sehr fliessend. Die Geschichte ist äusserst gut durchdacht, so dass alles seinen Sinn ergibt und das Finale sehr spannend ist. Es zieht sich ein wunderbarer Faden durch die Geschichte, welchem man sehr gerne folgt. Und man fragt sich stetig: was kommt als nächstes? Der Text ist gespickt mit vielen Details, sodass das Königreich Waldwiesen im Kopf zu leben beginnt. Die Charaktere der Figuren sind fein gezeichnet und sehr vielfältig. Die verschiedenen Tiere für die jeweiligen Figuren und deren Charakteren sind sehr feinfühlig gewählt und passen gut zusammen, was ihnen umso mehr Leben einhaucht. Die Illustrationen im Buch sind exzellent gemacht. Sie sind farbenfroh, voller kleiner Details und die Würze des ganzen Buches. Sie laden ein zu verweilen. Als ich das Buch gelesen habe, war ich gerade in Afrika. Während ich mich in die Literatur vertieft hatte, fühlte ich mich wie nach Europa zurückversetzt, zu den Tieren und Pflanzen, die mir ja so bekannt waren. Das Buch ist eine kleine Reise in eine märchenhafte Welt, die einem einerseits heimatlich erscheint, andererseits durch ihre packende Beschreibung und dem kunterbunten Leben darin; trotzdem entführt, in eine fabulöse Sphäre, in welcher man gerne Gast ist. Mit der letzten gelesenen Seite des Buches bedauerte ich es sehr, diese Welt schon wieder verlassen zu müssen.
Der Rezensent ist angehender Biologe und Kinderbuchautor. Zuletzt erschien von ihm das Kinderbuch „Wenn die Vögel violett singen“.
Das seinesgleichen sucht David Macaulay: "Das große Buch vom Körper" Von Anne Spitzner
David Macaulay: "Das große Buch vom Körper" Mit Texten von Richard Walker Aus dem Englischen von Wolfgang Hensel Ravensburger Verlag 2010 335 Seiten, Euro 24,95 ISBN 978-3473552474
Für Kinder, deren Wissensdurst auch durch die geduldigsten Eltern nicht gestillt werden kann, hat David Macaulay sich das optimale Gegenmittel ausgedacht. Mit seinem „großen Buch vom Körper“ liefert der Kinderbuchillustrator ein Meisterwerk ab, das seinesgleichen sucht. Seite um Seite ist gespickt mit brillanten Bildern, die lustig und informativ zugleich sind. Der Weg der Nahrung durch den Körper wird hier genauso spielerisch erklärt wie das Zusammenspiel von Nerven und Muskeln bei der Bewegung von Armen und Beinen. Die Beispiele, an denen David Macaulay das Wissen über den menschlichen Körper festmacht, sind aus dem Leben gegriffen – drehen sich beispielsweise um Fußballspielen oder Eis essen – und liegen sowohl sprachlich als auch inhaltlich nahe an der Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen. Im Gegensatz zu einigen bekannten Büchern dieser Art dienen die Illustrationen hier nicht lediglich als inhaltliche Unterstützung der Textpassagen, sondern bilden die Hauptattraktion auf jeder einzelnen Seite. Ihnen wohnt ein subtiler Humor inne, der sich nur an manchen Stellen offen Bahn bricht, der jedoch kaum übersehen werden kann. Die kleinen Cartoons, die sich teils am Rand der Bilder, teils aber auch mitten darin befinden, regen zu Diskussionen über das soeben Gelernte an, oder zum Nachdenken. „Das große Buch vom Körper“ ist ein Buch, das man sowohl allein als auch in Gesellschaft lesen kann – beim Lesen habe ich mir teilweise gewünscht, die Biologiebücher in der Schule wären so toll illustriert gewesen. Das hätte den Unterricht wahrscheinlich ganz anders werden lassen. Das Schöne an Macaulays Buch ist jedoch, dass es die Begeisterung am und die Neugierde auf den menschlichen Körper weckt, obwohl es kein Schulbuch ist – wahrscheinlich aber gerade deswegen. Zwanglos und verspielt zeigt das Buch dem Leser sein Innerstes und offenbart Geheimnisse und Wunder, von denen die meisten wahrscheinlich nicht einmal wussten, dass sie sie besitzen. Alles in allem eine großartig bebilderte Reise ins Innere des eigenen Körpers. (Ab 8)
Die
Rezensentin ist angehende Biologin
und publiziert zudem Krimis.
Empfehlenswert aus vielen Gründen Christiane Böhm: „Wie lebten Prinzen und Prinzessinnen in Wirklichkeit?“
Christiane Böhm: Wie lebten Prinzen und Prinzessinnen in Wirklichkeit? oder Erbsen ohne Ende!: Kinderalltag im bayerischen Königshaus Dreesbach Verlag 2009 192 Seiten, 22 Euro ISBN 978-3940061362
(librikon) „Wie lebten Prinzen und Prinzessinnen in Wirklichkeit?“ fragt der Titel dieses originellen Kindersachbuches und beantwortet ihn in einer Fülle von Kapiteln, in denen das Prinzenleben im allgemeinen, aber an einzelnen Beispielen (heißt: an Prinzen und Prinzessinnen) geschildert wird: Lebendig, immer spannend, die Details mit sicherer Hand und kundig ausgewählt. Doch damit ist das Urteil über dieses Buch, das in seiner schlichten, einfach schönen Gestaltung, die ein Gemisch zwischen Familienalbum und dezent-geschmackvollen Kochbuch ist, sehr anziehend wirkt) noch nicht ganz gesprochen. Kinderalltag hat Freuden und Ängste, und oft sind sie sich über Generationen und Gesellschaftsschichten ähnlich. Darauf setzt die Autorin und erzählt ganz nah an den Kindern von heute von den Königskindern. Das leidenschaftliche Interesse vieler kleiner verkleideter Spiel-Prinzen und -Prinzessinnen wird durch Wissen nicht zerstört, hier nicht. Vielmehr wird behutsam mit ihm umgegangen, und dennoch erfährt man viel jenseits des Klischees. Spielzeug, Eltern, Erziehung, Privatlehrer, Reisen, Feste … Die Monarchie wird nicht glorifiziert, wenn auch ein Hang zum Demonstrationsreichtum erlaubt sein muss; basisdemokratische Elternhäuser mögen ihren Kindern dies verzeihen angesichts eines Buches, das so warm und liebenswürdig (und auch immer mal wieder mit einem Augenzwinkern) daherkommt. Übrigens nicht nur bayerischen Kindern, auch wenn die Wittelsbacher die „Beispielfamilie“ sind und sich die Besichtigungsratschläge auf deren Residenzen beziehen (auch unseren jungen Testlesern aus Berlin und Westfalen hat die Lektüre viel Spaß gemacht – als überregionales Magazin mit ebenfalls großer Münchner Leserschaft hat Librikon mehrere Kinder sich auf das Buch stürzen lassen). Zwischen den seelenlosen Hochglanzsachbüchern, die sich mit Infohäppchen, Kästchen und bunten Graphiken eher an Marketing-Abteilungen als an jungen Lesern orientieren, ist dieses Sachbuch eine wohltuende, eine intelligente Ausnahme. Dem Bildungshunger der Kinder, aus dem häufig genug zerstörerisch Profit geschlagen wird, wird hier auf ehrliche Art entgegengekommen. In seiner unaufdringlichen Art strahlt der in Weiß gehaltene Band die notwendige Ruhe aus, die Kinder beim Lesen brauchen. „Wie lebten Prinzen und Prinzessinnen in Wirklichkeit?“ lohnt sich also in vielerlei Hinsicht. (Ab 7)
Staunenswerte Reise um die Welt "Wohnen in fernen Ländern für Kinder erzählt" Von Vera Mayer
Charles und Josette Lénars: Wohnen in fernen Ländern für Kinder erzählt Mit Texten von Caroline und Martine Laffon Illustrationen von Frédéric Malenfer, aus dem Französischen von Cäcilie Plieninger Knesebeck 2009 73 Seiten, Euro 14,95 ISBN 978-3868730012
Das Buch hinterlässt auf den ersten Blick und beim ersten Durchblättern einen tollen Eindruck: Und dieser trügt nicht – die Begeisterung hält an, wenn man alles gelesen, alle Photos bestaunt hat. „Wohnen in fernen Ländern. Für Kinder erzählt“ unternimmt eine Reise um die Welt, Häuser von Naturvölkern, von Nomaden, von Kulturen aus allen Teilen der Welt. Aber es ist nicht nur eine Aneinanderreihung von Kuriositäten, wie man sie häufig in monothematischen Sachbüchern findet, es stellt neben spannenden Besonderheiten dar, auf welchen Gegebenheiten das Wohnen fußt. Man versteht, dass der Mensch mit seinem Wohnen auf die Natur antwortet und dass Wohnen die ständige Frage nach den ureigensten Bedürfnissen stellt. Die Überlegungen, wie sehr sich bei uns das Thema „Wohnen“ verselbständigt hat, wie sehr die Menschen inmitten einer hochentwickelten Immobilienwirtschaft die eigenen Ansprüche aus den Augen verlieren, auch sie werden von diesem kundigen Buch angekurbelt – es ist kein „All Age“-Sachbuch, das auf Kosten der Perspektive der Kinder ginge, aber auch für Erwachsene kann die Lektüre wirklich anregend sein. Das recht eng gesteckte Thema bewirkt, dass es nicht ganz konsequent durchgehalten wird; irgendwann driftet es zu völkerkundlichen Betrachtungen ab. Doch das schmälert nicht die schönen Empfindungen, die dieses Hochglanzbuch hervorruft: Fernweh, Abenteuerphantasien, sich in anderes Hereinträumen. Es ist bewegend für hiesige Heranwachsende zu sehen, wie sehr Kinder in anderen Regionen zum Leben und Wohnen dazugehören, wie bitter der Verlust einer familiären Wohnkultur ist, den allein sie zahlen. Wie jede Horizonterweiterung lädt „Wohnen in fernen Ländern“ zum Nachdenken über die eigenen Verhältnisse an. Aber natürlich ist es kein politisches Manifest, sondern einfach ein sehr anschaffenswertes, schönes Sachbuch. (ab 9)
Eine Mutter haben Fröhlich, tiefgehend: Brigitte Jünger: "Der Tontsch" Von Sarah Wittenberg
Brigitte
Jünger: Jungbrunnen Verlag 2009 109 S., Euro 13,90 ISBN-13: 978-3702658120
Der Tontsch heißt eigentlich Anton, aber alle seine Freunde nennen ihn eben den Tontsch. Er lebt seit ein paar Jahren in einem Kinderheim, und jetzt findet er heraus, dass seine Mutter ihn plötzlich abholen kommen soll. Seine Mutter, deren Briefe er nie gelesen hat, seine Mutter, die ihn nur in das Kinderheim bringen musste, weil sie schwer krank war. Aber Anton kennt diese Mutter gar nicht und er weiß nicht ob er bei ihr leben will. Im Kinderheim ist es besser, keine Mutter zu haben, denn dann gehört man wirklich dazu. Doch dann kommt alles viel besser, als der Tontsch es erwartet hätte. Blitzschnell hat er sich bei seiner Mutter eingewöhnt und sie lieben gelernt. Sie, ihr Moped und ihre feuerroten Haare. Doch diese Haare verstecken ein dunkles Geheimnis, wie der Tontsch bald erfährt, denn sie sind gar nicht echt. Unter den echten Haaren seiner Mutter hatte ein böses Monster gewohnt, und das mussten die Ärzte hinausschneiden. Klar, dass sie dazu die echten Haare der Mutter scheren mussten. Jetzt ist seine Mutter wieder ganz gesund und dem Tontsch gefällt es in der Wohnung, doch eine Sache wird immer schlimmer: und das ist die Schule. Es fing mit harmlosen Neckereien eines anderen Jungen an, doch als dieser dem Tontsch die geliebte Schultasche klaut, der Tontsch seine Bücher in einer Tüte zur Schule trägt, wird der Lehrer wütend - auf den Tontsch. Jeden Tag scheint er etwas an Anton auszusetzen zu haben, und eines Tages sperrt er ihn im Klassenschrank ein und vergisst ihn dort. Der Tontsch verbringt die halbe Nacht in diesem Schrank, bevor ihn seine Mutter findet. Ein schließlich zum Guten führender Wendepunkt. Nun wird endlich alles gut, denn der alte Lehrer wird von der Schule verwiesen und auch die Klassenkameraden sind viel netter zu Anton. Dieses Buch ist auf eine besondere Art geschrieben. Allein die liebevollen Wortspiele von Antons Mutter und ihre fröhlich-originelle Art schließt der Leser sofort ins Herz. Die Dramatik des Lehrerfehlverhaltens zeigt, neben dem Mobbing unter Schülern, ein weiteres noch immer existentes Thema unserer Gesellschaft auf, das oft verschwiegen wird. Die Auflösung des Problems ist liebevoll geschrieben: Der Schreckens-Schrank wird von den Kindern bunt angemalt und die Türen werden ausgehängt. Auch das Bild eines Heimkindes wird sehr realistisch gezeichnet. Man fühlt mit Anton, der erst so gar nicht weiß, wie er mit der lebensfrohen Frau umgehen soll, die so tut, als wäre er nie fortgewesen, gleichsam zeigt es dem Leser auf, wie wunderbar es ist, eine Mutter zu haben, es erinnert einen an schwere Zeiten in der Schule, aber auch an Freundschaften, die in düsterer Zeit Halt geben. (ab 8)
Eine fesselnde Geschichte mit liebenswerten Charakteren Ulrike Kuckero: „Alice im Mongolenland“ Von Sarah Wittenberg
Ulrike Kuckero: Alice im Mongolenland Thienemann 2009 224 S., Euro 12,90 ISBN 978-3522181563
Alice hat das Down Syndrom. Ihre Augen stehen schräg. Und sie hat Zoe, ihre Zwillingsschwester, die schon lange genervt von den Fragen anderer Kinder ist, warum Alice so anders aussieht. "Weil sie aus der Mongolei kommt.", patzt sie eines Tages zurück. Zoe tut es sofort schrecklich leid, aber in Alice hat sich dieser Gedanke nun festgesetzt, und sie will unbedingt mit ihrer Familie in die Mongolei fliegen. Welche Abenteuer sie dort erwarten und was für ein Glück es eigentlich war, dass Zoe die Geschichte mit der Mongolei damals erfunden hat, können die Mädchen damals noch nicht ahnen. Zoe und Alice sind nicht nur Zwillingsschwestern, sie fühlen sich auch einander ganz nah, und dass Alice das Down Syndrom hat und Zoe hochbegabt ist, stört dabei wenig. Ihre Eltern haben sogar eine Schule gegründet, damit die beiden Mädchen zusammen bleiben können. Auf dieser Schule dürfen alle Kinder, egal ob hochbegabt oder etwas langsamer, in ihrem eigenen Tempo am Unterricht teilnehmen. Zoe nimmt bereits den Physik-Stoff durch, der ihrem Alter um zwei Jahre voraus ist, während Alice manchmal einfach nur die Ziegen füttert und Bilderbücher angucken kann. Nach Zoes dahingeworfenem Satz handeln allerdings alle Bücher, die Alice interessieren, von der Mongolei. Der Gedanke, dass sie selbst aus diesem fernen Land kommen soll, lässt sie nicht mehr los. Umso unglaublicher, dass sie bei einem Wettbewerb den Hauptgewinn und damit Flugtickets für sich und ihre ganze Familie in die Mongolei erhält! Zoe ist ein bisschen genervt von dem vielen Wirbel um ihre Schwester. Manchmal ist sie sogar ein bisschen eifersüchtig, aber im Ernstfall hält sie immer zu Alice, zum Beispiel wenn eine alte Frau am Flughafen fragt, wie man denn mit ‚so einem Kind‘ fliegen kann, dann fragt Zoe ihren Papa einfach ganz laut, wie man denn in ‚so einem Alter‘ noch fliegen kann und alles ist wieder in Ordnung. Aber dann: Alice verschwindet! Weg! In der Mongolei! Ein Nomadenjunge findet Alice und bringt sie zu seiner Familie. Die Nomaden glauben, Alice sei ein von den Geistern angekündigter, hoher Gast, und nehmen sie aufs Herzlichste auf. Als später auch Zoe und ihre Eltern zu den Nomaden kommen, haben sie die Möglichkeit, in echten Nomadenzelten zu schlafen. Sie nehmen sogar an einem Fest teil, das eigens für Alice veranstaltet wird. Ganz nebenbei erfährt man viel Interessantes über das Leben einer Nomadenfamilie in der Mongolei und die verschiedenen kulturellen Sitten und Bräuche, die von der Autorin sehr gut recherchiert sind. Ulrike Kuckero hat schon einige Kinderbücher verfasst, und problematische Familienkonstellationen greift sie häufiger auf. Sie kann für Kinder erzählen, die passenden Zusammenhänge schaffen, darum ist die zunächst oberflächlich wirkende Verbindung Mongolei und Down-Syndrom verzeihlich. Sie behandelt in diesem Buch das Thema einer geistigen Behinderung auf eine wirklich wundervolle Art und Weise. Natürlich ist Alice "anders", daran deutelt Ulrike Kuckero nicht, aber sie überwindet für ihre Leser jede Scheu vor der Hauptfigur, so dass der Leser Alice schon nach den ersten Seiten ins Herz schließen muss. Alice’ Gedanken sind manchmal komisch und manchmal auch sehr ernst. Sie liebt ihre Familie über alles und ihre Familie liebt sie. „Alice im Mongolenland“ ist gut geeignet, um Kindern das Down Syndrom näherzubringen, im Schulunterricht oder zuhause. Aber auch für betroffene Familien kann es eine sehr wertvolle Lektüre, da mit Zoe als Protagonistin die Rolle des Geschwisterkindes sehr einfühlsam geschildert wird. Zoes und Alices Geschichte fesselt. Durchgehend spannend, wirkte nichts aufgesetzt. Es ist ein Buch, das Gefühle erlaubt, und bei Alices Abschiedssatz kamen mir beinahe die Tränen. Ein empfehlenswertes Buch.
Über das Buch und seinen "Werdegang"
wird im Librikon Leseletter 3/2010
berichtet werden.
Johannes Haußner: "Hausnears Geschichten" Von Anne Spitzner
Johannes Haußner: "Hausnears Geschichten" 86 Seiten mit 64 farbigen Abbildungen (Linolschnitte) Format 26,5 x 18,6 cm Buchkinder e.V. Euro 18,90 ISBN 3-938985-02-X
Ein Buch voller fantastischer Geschichten und bunter, toller Bilder – erzählt und gemalt von einem der ganz Kleinen. Wie, das geht nicht? Doch, das geht! Johannes Haußners „Hausnears Geschichten“ sind im Projekt „Buchkinder“ entstanden. Dieses Projekt, eine Initiative des Freundeskreises Buchkinder e.V., hat sich auf die Fahnen geschrieben, Kinder beim Schreiben ihrer eigenen Geschichten zu unterstützen. Ziel ist es, ihnen nicht wie ein Lehrer über die Schulter zu schauen, jeden kleinen Fehler zu korrigieren (und den Kindern damit den Spaß am kreativen Schreiben oft unwiderruflich zu nehmen), sondern begleitend daneben zu stehen, wenn die Buchkinder ihren Einfällen freien Lauf lassen. Inwieweit es sinnvoll ist, das zu veröffentlichen, wäre ich durchaus zu diskutieren bereit gewesen, bevor ich das Buch gelesen hatte. Ich hätte angemerkt, dass die Rechtschreibfehler nicht korrigiert worden sind und noch einiges mehr, aber ehrlicherweise muss ich zugeben, dass diese Bedenken bereits beim Lesen der ersten von den neun kleinen Geschichten verschwunden sind. Es ist ein Buch, geschrieben von einem Kind, und jede einzelne der Geschichten hat mich mehr überrascht als die davor. Da gibt es überraschende Wendungen am Ende, haarsträubenden Grusel, witzige Pointen und Kopfkino wie bei den ganz Großen. Für penible Rechtschreibfanatiker ist es natürlich immer noch nicht zu empfehlen. Aber allen anderen dürfte es enorm viel Spaß machen, darin zu lesen – und hoffentlich ein Ansatz sein, mit dem Einprügeln der diversen Rechtschreibreformen in die Köpfe kleiner Kinder anders umzugehen – womöglich sogar so kreativ wie die Buchkinder. (Ab 5)
Die Rezensentin ist Krimi- und Kinderbuchautorin.
„Soraya entdeckt das Meer“ oder die Geschichte eines Wandels in der Fremdwahrnehmung Ein Bilderbuch von Andrea Karimé Von Nazli Hodaie
Andrea Karimé: „Soraya entdeckt das Meer“ Mit Bildern von Anette von Bodecker-Büttner Picus Verlag 2009 32 S., Euro 14,90 ISBN 978-3854521488
Soraya, das kleine Kamel, langweilt sich in seiner vertrauten Umgebung und sehnt sich nach der Fremde, nach Abenteuern. Die anderen Kamele warnen es davor, in die Fremde zu gehen, denn sie sei die Stätte des schrecklichen blauen Dschinns. Soraya bricht trotzdem auf, begegnet dem vermeintlichen Monster und erkennt in ihm das Meer. Das kleine Kamel kehrt mit erweitertem Horizont zurück und berichtigt das Fremdbild der anderen Kamele, indem es sie mit der Wirklichkeit konfrontiert.
Näheres Kennenlernen des Fremden ist ein bedeutender Schritt auf dem Weg zu interkultureller Verständigung. Dadurch, so die einschlägige Literatur, bietet sich die Möglichkeit, eigene Fremdbilder auf deren Wahrheitsgehalt zu überprüfen und ggf. zu revidieren. Eine objektive Fremdwahrnehmung sowie ein hinsichtlich der Stereotypen sensibilisierter Blick sind die Folgen. All dies veranschaulicht das Bilderbuch „Soraya entdeckt das Meer“ auf kindgerechte, jedoch keineswegs vereinfachende Weise. In der Gestalt von Soraya und den anderen Kamelen werden dem jungen Leser verschiedene Muster der Fremdwahrnehmung vor Augen geführt: Das kleine Kamel Soraya sehnt sich nach Neuem, nach Fremdem, das seinen Horizont erweitert und ihm die alltagsbedingte Langeweile vertreibt. Für seine Artgenossen hingegen ist die Fremde von vornherein mit Gefahren verbunden. Sie ist die Stätte des monströsen „blauen Dschinns“, vor dem Kamele auf der Hut sein sollten. Bereits an dieser Figurenkonzeption gestaltet die Autorin unterschiedliche Fremdwahrnehmungsmuster: Einerseits aufgeschlossene, unvoreingenommene Neugier der Fremde gegenüber, andererseits ein vorurteilsbeladenes dämonisierendes Fremdbild. Die erste Begegnung von Soraya mit der Fremde stellt die Zählebigkeit von Vorurteilen und deren Einfluss auf die jeweilige Fremdwahrnehmung bestens dar. In Ermangelung weiterer, objektiver Deutungsmuster greift das sonst unvoreingenommene kleine Kamel im ersten Moment unwillkürlich auf das ihm bekannte, von den anderen Kamelen gezeichnete Fremdbild zurück und glaubt, im „riesige[n], schreckliche[n] Ungetüm […] am Fuße des Berges“ den „böse[n] blaue[n] Dschinn“ zu sehen. Bemerkenswert ist hier auch, dass das Kamel seine – nun vorurteilsbeladene – Fremdwahrnehmung selbst im Angesicht der Realität nicht zu revidieren vermag. Vielmehr passt es die Wirklichkeit an dieser an. Die Befreiung von dem voreingenommenen Fremdbild erfolgt erst durch die Entschlossenheit, sich dem fremden Wesen zu nähern. Die Annäherung führt zu einem schlagartigen Zurechtrücken von Sorayas Fremdwahrnehmung. Das kleine Kamel erlebt das Fremde nicht als Monster, sondern als was dieses ist: Wasser. Nach dieser unwillkürlichen Korrektur nimmt sich Soraya nun Zeit, reflektiert bewusst sein Fremdbild und revidiert dieses. Als Folge dieses näheren Kennenlernens schätzt es das Fremde richtig und objektiv ein und erkennt in ihm das Meer. Die Reflexion und Revision des eigenen Fremdbilds genügt Soraya jedoch nicht. Es gelingt ihm sogar, den anderen Kamelen die Unrichtigkeit ihrer Wahrnehmung vor Augen zu führen. Es entfacht damit in ihnen den Wunsch, ebenso das Eigene, Vertraute, vermeintlich Richtige hinter sich zu lassen, um in der Fremde eine neue Welt zu entdecken. Das kleine Kamel wird dadurch indirekt zum Vermittler zwischen zwei Welten stilisiert. Das ist eine Rolle, die für die interkulturelle Verständigung unentbehrlich ist. Die bereits erwähnten, textimmanent skizzierten Muster der Fremdwahrnehmung werden durch die Illustrationen ergänzt und unterstützt. Durch ein Cocktail-Glas mitten im Beduinenzelt wird z.B. dargestellt, dass das kleine Kamel in seiner Euphorie für die Fremde übersieht, dass die Fremde schon längst in seinem Alltag angekommen ist. Ein weiteres Beispiel bietet die Abbildung eines Wolkenschlosses in einer aus westlicher Sicht typisch orientalischen Weise. Pikant ist, dass gerade ein nach der Art europäischer Wüstenreisender gekleideter Mann im Fesselballon nach diesem – wohlgemerkt – Produkt der Fantasie Ausschau hält. Während das erste Beispiel für eine lückenhafte, im realen Leben durchaus vorhandene Selbstwahrnehmung steht, unterstreicht das zweite Beispiel noch einmal das klischeehafte Fremdbild, das das Fremde nach eigenen, meist realitätsfernen Vorstellungen gestaltet. Mit „Soraya entdeckt das Meer“ haben Andrea Karimé und Anette von Bodecker-Büttner ein Buch geschaffen, das sowohl im Text als auch in der Illustration ausgewogen und ansprechend ist und v.a. nicht stereotypisiert. Die einzige Ausnahme sind dabei jedoch die arabischen Rufe und Ausdrücke, die ohne nähere Bedeutungserklärung die Geschichte durchziehen. Für den sprachunkundigen Leser sind sie unverständlich. Und sie arabisieren bzw. orientalisieren die Atmosphäre in einer Weise, die wohl nicht im Sinne der Handlung sein kann. (Ab 4)
Die Rezensentin ist am Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität in München tätig. Von ihr liegt zum Thema vor: „Der Orient in der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Fallstudien aus drei Jahrhunderten“ (Peter Lang 2008)
Oili Tanninens Buch „Nunnu“ ist putzig bis fast zur Schmerzgrenze Von Jan Fischer
Oili Tanninen: "Nunnu" Aus dem Finnischen von Elisabeth Buchner Rieder Verlag 2008 31 S., Euro 14,50 ISBN: 978-3941172043
In Finnland ist sie vergessen, in Deutschland nie aufgetaucht: Oili Tanninens große Zeit waren die 60er und 70er, als ihre Kinderbücher „Nuunu fliegt“, Nunnu rettet Möksös Hut“ und, als erstes Buch der Trilogie, „Nuunu“ erschien, und sie kurz danach an zwei Zeichentrickserien mitwirkte. Heutzutage gibt es selbst in der finnischen Wikipedia keinen Eintrag mehr. Grob gesagt, geht es in „Nuunu“ darum, dass die Sandmännchen-Version Nuunu mit ihren zwei Begleitern, dem motzigen Möksö und dem Aufwecksandmännchen Hoppu ( das Geschlecht der drei, genau wie ihre verwandtschafts- oder sonstige nVerhältnisse bleiben unklar) Professor Prilli zum Einschlafen bringen muss, was sich schwierig gestaltet, weil das Ende dessen langen Bartes verschwunden ist. Zu sagen, dass es grob gesagt darum geht, ist wichtig und richtig, denn wie auch die Zeichnungen (besser: die Bastelpapiercollagen) scheint die Handlung zuerst einfach und gradlinig, bis – bei den Zeichnungen beim zweiten Draufschauen – alles viel komplizierter und bunter wird, als es scheint. Professor Prilli schläft dann zwar ein, aber bevor das passieren kann, müssen noch zehntausend kleine Umwege genommen werden, unter anderem über Riesenvögel und eine Igelfamilie, die das Ende des Bartes für ihren Cousin aus Sizilien hält. Das ist die kompliziertete Seite. Die einfach Seite ist die: „Nuunu“ hat keinerlei Anspruch, mehr zu sein als ein Buch, dass man mal eben den Kindern zum Einschlafen vorlesen kann. Keine Belehrungen, kein doppelter Boden, nichts, das zum Nachdenken anregen soll, nichts sonst als eine niedliche Geschichte und bunte Bilder dazu, eine bezaubernde Retronaivität, die vielen Einschlafbüchern auf dem Markt abgeht. Das macht die Wiederentdeckung der „Nuunu“-Trilogie zu einer echten Entdeckung, und die verspätete deutsche Übersetzung zu einem Retrobonbon, das zwar süß ist und klebt, aber nicht so sehr, dass man nicht noch mehr davon lutschen wollen würde. (Ab 3)
Siehe dazu den
Leserbrief
in der Rubrik "Einspruch!"
Von der großen Freude an den kleinen Dingen Pauli Neumann und Martina Krause: „Lieschen Paradieschen“ Von Susan Müller
Pauli Neumann: „Lieschen Paradieschen“ Mit Bildern von Martina Krause Papierfresserchen MTM 2008 24 S., Euro 13,90 ISBN: 978-3940367280
Zwar hat sich Lieschen nur verhört, als sie statt Radieschen Paradieschen versteht, aber das ist gar nicht so schlecht! Denn bei ihrer Frage danach, die sie den Tieren stellt, die sie im Garten trifft, ist jedem etwas anderes paradiesisch. Der Feldmaus sind es ihre Jungen, der Katze ihr Platz in der Sonne. Lieschen geht aufgeweckt und neugierig durch den Garten, wobei sie immer wieder etwas Neues entdeckt. Und an jedem einzelnen Tier, jeder Pflanze oder einfach nur am Sonnenlicht kann sich Lieschen erfreuen. Aber die roten, gut gewachsenen Radieschen gefallen ihr besonders gut, so dass sie diese fürs Frühstück mitnimmt. Und nun kann man sagen: Das Frühstück wird paradiesisch für Lieschen durch die Radieschen. Ein wunderbares Kindermachwerk, welches die Schönheit der Welt und den kleinen Dingen, an denen man sich freuen kann, kindgerecht beschreibt. (Ab 2)
Sehr lohnender Einstieg in das so komplizierte Thema "Nahostkonflikt" Valérie Zenattis „Leihst du mir deinen Blick?“ Von Andrea Livnat
Valérie Zenatti: „Leihst du mir deinen Blick? Eine Freundschaft zwischen Jerusalem und Gaza“ dtv pocket 2009 192 S., Euro 6,95 ISBN 978-3423782234
Wie erklärt man Jugendlichen den Nahost-Konflikt? Wie kann man den Schrecken im Alltag vermitteln? Wie lassen sich die Standpunkte der beiden Konfliktparteien ebenbürtig darstellen? Die französische Autorin Valérie Zenatti hat diese Fragen in einem sehr empfehlenswerten Jugendbuch, das in deutscher Übersetzung bei Dtv erschienen ist, wunderbar gelöst. "Leihst Du mir deinen Blick?" erzählt die Geschichte einer Freundschaft zwischen Jerusalem und Gaza. "Wir leben in Zeiten der Finsternis, der Trauer und des Schreckens. Die Angst ist wieder da." So beginnt das Buch aus der Sicht der 17-jährigen Tal, die in Jerusalem lebt. An die Selbstmordattentate in ihrer Stadt hat sie sich bereits gewöhnt, als jedoch ein Anschlag in einem Cafe in ihrem Viertel sechs Tote fordert und damit die Katastrophe in unmittelbare Nachbarschaft rückt, beginnt sie sich quälende Fragen zu stellen: "Ich möchte gerne wissen, wer ich bin, was mein innerstes Wesen ausmacht. Wodurch würde sich mein Tod von jedem anderen Tod unterscheiden?" Das Attentat hat ihren Körper unbeschadet gelassen, "aber in meinem Kopf ist alles in tausend Scherben zersplittert". Tal beginnt, ihre Gedanken aufzuschreiben. Und mehr noch, die Idee wächst in ihr, dass sie diese Gedanken an jemanden schicken muss, an jemanden "von der anderen Seite". Und so schreibt Tal einen Brief an ein unbekanntes "Du" mit der Bitte um Rückantwort per Email. Den Brief steckt sie in eine Flasche und gibt diese ihrem Bruder Eytan, der im Gazastreifen seinen Militärdienst ableistet und die Flasche dort ins Meer werfen soll. Und tatsächlich erhält Tal Antwort. Allerdings nicht, wie sie es erwartet hatte, von einem palästinensischen Mädchen in ihrem Alter, sondern von "Gazaman", einem jungen Palästinenser, der sie mit Zynismus und Ironie überschüttet. Seine erste Email soll auch seine letzte sein, denn er sei "kein Affe, den man im Käfig beobachtet, weil man wissen will, welche Ähnlichkeiten er mit dem Menschen hat." Doch Tal lässt nicht locker, schreibt wieder und wieder an Gazaman und knackt schließlich mit ihrer Offenheit seine schroffe Hülle. In wechselnden Perspektiven lässt Zenatti die Email-Freundschaft wachsen und Vertrauen entstehen. Dabei bietet das Buch einen sehr guten Einblick in das Alltagsleben der beiden Konfliktparteien auf persönlicher Ebene, ohne sich dabei in Schuldzuweisungen oder auf der Suche nach der "Wahrheit" im Nahostkonflikt zu verheddern. Für Jugendliche ist die Form des Briefromans sehr ansprechend, die Autorin lässt die Leser außerdem in die Gedankenwelt der beiden Protagonisten eintauchen, ohne dabei wertend zu sein. Insgesamt ist das Buch ein sehr lohnender Einstieg für Jugendliche in das so komplizierte Thema "Nahostkonflikt". dtv stellt auf seiner Webseite außerdem Vorschläge für die Aufbereitung im Unterricht zum Download zur Verfügung. (Ab 12)
Die Rezensentin lebt in Tel Aviv und ist Chefredakteurin des Internetmagazins www.hagalil.com.
Hubert Schirnecks "Die grüne Nudelsuppe spielt Geige" Von Tordis Schuster
Hubert Schirneck: "Die grüne Nudelsuppe spielt Geige" Jungbrunnen Verlag 2008 88 S., Euro 12,90 ISBN 978-3702657956
Hubert Schirneck präsentierte sein neuestes Werk „Die grüne Nudelsuppe spielt Geige“ bereits im Sommer 2008 auf dem Erlanger Poetenfest. Genauso wie Schirneck liest, nämlich sehr gelassen, so fließt auch sein Erzählstil. Mit absoluter Leichtigkeit und einem schönem Satzrhythmus erzählt er in kurzen Episoden die kleinen und großen Alltagsprobleme der vier Freunde Der Lange, Der Kurze, Der Breite und Der Schmale. Einmal erhält Der Lange das Geburtstagsgeschenk seiner Träume, ein anderes mal landen die vier in einem genialen Wunschrestaurant oder haben Probleme mit Seeräubern und Kugelblitzen. Schirneck besitzt ein tolles Gefühl für Stimmungen und für die richtigen Pointen, bei denen es einem warm ums Herz wird oder Kinder herzlich lachen. Klare Strukturen und Wiederholungen machen das Buch kindgerecht und verleihen den kleinen Geschichten eine ganz eigene Ästhetik. Das Buch ist gespickt mit echter Kinderlogik: Der Lange geht zum Beispiel sofort ins Fundbüro, da er seine gute Laune verloren hat. Und auch Erwachsene werden dieses Buch mögen: Der Autor arbeitet auf mehreren Ebenen, die sehr oft für Kinder aber auch mal für Erwachsene Komik erzeugen, zum Beispiel wenn der Herr im Fundbüro beteuert, gute Laune habe er sicher nicht! Es besteht Ähnlichkeit zu Peter Bichsels Klassiker „Kindergeschichten“, denn Schirnecks Werk mutet bisweilen philosophisch an, etwa wenn der Breite sich fragt, auf was die Menschen denn so warten. „Die grüne Nudelsuppe spielt Geige“ ist ein Buch über Freundschaft, das Wünschen, das Träumen, das Wundern und die Welt verstehen lernen. Empfehlenswert!
Die Rezensentin ist Kinderbuchautorin („So geht’s Marie! Schulkind-Geschichten“). Jüngst ist von ihr der Essay „„Die instrumentalisierte Kinderliteratur. Ein Plädoyer für mehr Ästhetik im Kinderbuch" (ISBN 978-3-938531-61-7) erschienen.
Eine originelle, dreiste Geschichte Morten Ramsland, Vitali Konstantinov: „Als Bernhard ein Loch in den Himmel schoss“ Von Brigitte Bjarnason
Morten Ramsland: „Als Bernhard ein Loch in den Himmel schoss” Mit Bildern von Vitali Konstantinov Boje Verlag 2009 32 S., Euro 12,95 ISBN 978-3-414-82170-6
„Als Bernhard ein Loch in den Himmel schoss“ ist eine ungewöhnliche, fantastische Geschichte, die auch kleine Lesemuffel begeistern wird. Insbesondere Jungen werden sich mit der Hauptfigur identifizieren können und Interesse an dem Buch zeigen. Bernhard liebt, wie die meisten Jungen, Pistolen. Mit einer Pistole fühlt er sich stark, obwohl er seine Schwester damit kaum beeindrucken kann. Als er im Wald eine richtige Pistole findet, hat dies ungeahnte Folgen. Er schießt ein Loch in den Himmel, und es passieren merkwürdige Dinge. Sturzbäche von Wasser strömen hinab, und Bernhard lernt einen alten Indianer kennen. Bernhard bekommt Gelegenheit, seine Fehler wiedergutzumachen und zeigt, dass er auch ohne Pistole ein tapferer, angstloser Junge ist. Der Autor Morten Ramsland und der Illustrator Vitali Konstantinov bilden, meiner Meinung nach, ein unschlagbares Team. Die in gedämpften Farbtönen gehaltene Illustration hat Wild West Charakter, ist progressiv und ergänzt den Inhalt der Geschichte. Der Text ist klar, verständlich und hat die passende Länge. Das Buch „Als Bernhard ein Loch in den Himmel schoss“ ist ein originelles, mutiges Kinderbuch, das Kindern gefällt, aber nicht bei allen Erwachsenen Anklang finden wird. Ziel guter Kinderbücher sollte sein, Begeisterung zum Lesen zu wecken. „Als Bernhard ein Loch in den Himmel schoss“ erfüllt diese Forderung.
Der Sekte entronnen Ungeahnte Kraft: „Die erste Stimme“ von Avram Kantor Von Susan Müller
Avram Kantor: „Die erste Stimme, ich und mein Bruder – mein Bruder und ich“ Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler Hanser 2008 208 S., Euro 14,90 ISBN-13 9783446209039
Er ist stumm, aber das ist eigentlich alles, was ihn von seinen Geschwistern und anderen Kindern unterscheidet. Denn er kann hören, lesen, schreiben und ist vor allem total pfiffig. Dass er schreiben und lesen kann, bleibt allerdings erst einmal sein Geheimnis. Und daher auch, dass er den Computer bedienen kann. Als dann sein Bruder beginnt, sich komisch zu verhalten, kommen ihm seine heimlichen Fähigkeiten zugute, denn er kann des Bruders Tun nachrecherchieren. Dabei spürt er eine Sekte auf, deren Versprechungen sein Bruder aufgesessen ist und die ihn verändert hat. Der geliebte Bruder gerät sich im Banne der Sekte in den Teufelskreis, vor denen immer gewarnt wird; Gehirnwäschen und falsche Versprechungen etwa. Doch in „Die erste Stimme, ich und mein Bruder – mein Bruder und ich“ werden auch andere, fremdere Vorgehensweisen der Sekte zum Thema. Zum Teil dürfen die Leser mit Erklärungen rechnen. Doch die ungefähr zu schließende Bedeutung reicht zum Verständnis (also deswegen nicht davon vom Lesen abhalten lassen!) Unser Held bleibt namenlos, nie wird sein Name erwähnt, aber er ersteht dennoch in deutlichen Bildern vor einem; eine große Qualität dieses Buches von Avram Kantor, dem 1950 in Haifa geborenen Autor, der einige Zeit in Deutschland gelebt hat. Als die Hauptfigur hinter das Geheimnis des Bruders kommt, gibt er sein eigenes auf, um zu helfen. „Wenn es einen Unterschied macht zwischen dem, was der Mensch mit Worten sagt, und dem, was er wirklich will: Wofür braucht man dann Worte?“ Gerade, weil er keine Worte formulieren und nur Laute von sich geben kann, kommuniziert er mit Mimik und Gestik. Als die Männer, in deren Fänge sein Bruder geraten ist, ihn deshalb verlachen, beleidigen und gar verletzen, verständigt er sich mit einem Zettel. Zunächst erstaunt, dann erbost, eilt der große Bruder ihm zu Hilfe. Und folgt dem kleinen, stummen, aber so mutigen Bruder nach Hause. Unser Romanheld genießt die Nähe zu seinem Bruder, und dieser wird wohl nie wieder „zurückgeblieben“ als Bezeichnung für seinen Retter benutzen. Ein wunderbares Buch, in einer anderen Kultur spielend, eindeutig und authentisch, über die Macht von Sekten und die Ohnmacht der Opfer. Gefahren werden fühlbar, so wie die Hilflosigkeit der Familie gegenüber der Situation. Aber auch die ungeahnte Kraft, die man entwickelt, wenn es nur noch begrenzte Möglichkeiten zur Hilfe gibt! (Ab 12)
Ein poetisches Abenteuer: Suzy Lees „Welle“
Suzy Lee: „Welle“ Baumhaus Verlag 2009 40 S., Euro 11,90 ISBN 978-3833904264
(librikon) „Welle“ ist ein Wagnis. Ein Mädchen steht am Strand und schaut auf das Meer. Gemeinsam mit den Möwen. Dann rennt es vor den Wellen weg, die Möwen mit ihm. Sie drehen sich gemeinsam um und schimpfen auf die Wellen ein. Es gelingt: Die Wellen machen vor ihnen halt. Vielleicht. Nicht eindeutig, ob sich das Wasser dann langsam nähert und ihnen gehorcht. Die Möwen und das Mädchen planschen im Wasser, erst ein wenig, dann sehr. Doch nun kommt die Riesenwelle, sie rasen davon. Das Mädchen hält inne, allein, dreht sich um und streckt die Zunge heraus. Die Welle wehrt sich, nass liegt das Mädchen am Boden. Muscheln, Seesterne, was man so alles findet, entdeckt das Mädchen, die Möwen sind wieder herbeigeflogen. Hoch die Arme und die Fundstücke zeigen! Dem Schirmanfang. Der gehört zur Mutter, sie gehen davon, das Mädchen winkt noch den Möwen. Eine sanfte, freudig-beruhigende Pointe, nach einer aufregenden Geschichte. Aber: „Welle“ ist ein Buch, das ohne Worte, dennoch genau und handlungsreich diese Geschichte erzählt. Jedoch bedient sich „Welle“ keiner braven Bilderabfolge; es wählt die Sprache der Illustrationskunst, ohne „Illustration“ zu sein. Suzy Lee, südkoreanische Künstlerin, hat Lebenslust und Geborgenheit in Ästhetik geformt. Schlichte Bilder, viel Weiß, dazu nur noch blau und schwarz. Reduziert, aber mit Verve gemalt, ein poetisches Abenteuer.
Ein fröhliches, mit Liebe gestaltetes BilderbuchLászló Varvasovszky: „Gilbert“Von Brigitte Bjarnason
László Varvasovszky: "Gilbert" Residenz Verlag 2008 44 S., Euro 12,90 ISBN: 978-3-7017-2048-4
Gilbert, der kleine Elefant ist ein lieber Kerl. Leider ist sein Rüssel viel zu lang geraten und bringt ihn immer wieder in Schwierigkeiten! Er benimmt sich wie ein Elefant im Porzellanladen, sagen seine Eltern. Sein Freund erklärt ihm, was dieses Sprichwort bedeutet. Doch als Gilbert in einem Porzellanladen eine wertvolle Vase rettet, stellt sich heraus, dass so ein langer Rüssel viele Vorteile hat und auch Elefanten einen Porzellanladen betreten können, ohne etwas kaputt zu machen. Die Geschichte von Gilbert, dem tolpatschigen Elefantenkind ist nett und unterhaltsam. Sie zeigt, dass in jedem eine besondere Begabung steckt, auch wenn er sich, wie Gilbert, manchmal wie ein Elefant im Porzellanladen benimmt. Der Text ist humorvoll und frech, das Buch liest sich flüssig und hat die richtige Länge. In der Mitte ist ein Raptext eingeschoben, der witzig, aber vom Inhalt her für kleinere Kinder weniger geeignet ist. Für etwas ältere Kinder könnte allerdings eine Rapeinlage der Vorlesenden sehr erheiternd sein! Die feinfühlige, künstlerisch gelungene Illustration unterstreicht den optimistischen Charakter der Geschichte und lädt zum mehrmaligen Anschauen ein. Gilbert ist ein fröhliches, mit Liebe gestaltetes Buch, das Spaß beim Vorlesen verspricht.
Die Rezensentin ist Bilderbuch-Expertin und Mitarbeiterin der Librikon-Redaktion.
Ein Buch voller Erfindungskunst! Jörg Hilberts „Die Pappenheimer“ Von Clelia Klapp
Jörg Hilbert: „Die Pappenheimer“ Terzio Verlag 2008 153 S., Euro 12, ISBN: 978-3-89835-752-4
Hier ist nicht nur das Buch aus Papier. Auch die Wesen, die sich darin entfalten, sind aus Papier gemacht. Servietten-Allee drei, vierte Etage, fünfter Schlitz. Hier wohnt Papierfräulein Schnipsel, Bewohnerin von Pappenheim, wo es das normalste von der Welt ist, sich in die Tiefe zu stürzen, Zeitungsmänner bis auf die Unterhose auszuziehen, um die neuesten Zeitungsnotizen zu lesen und bei Bedrohung an Gegenständen kleben zu bleiben. Dass der Mistkäfer Skarabäus das alles andere als normal findet, kann Schnipsel so gar nicht verstehen, muss sie sich doch sehr über diese kugelrunde Gestalt wundern, die weder liniert noch kariert am Körper ist. Und so kann Dr. Falzbein gar nicht umhin, als dem aus Sicht der Pappenheimer eindeutig übergewichtigen Käfer eine strenge Diät zu verschreiben. Daraus, dass die eigene Denk- und Lebensweise als selbstverständlich vorausgesetzt und auf den anderen übertragen wird, resultiert nicht nur ein großer Teil des Witzes in diesem Buch, es führt uns auf eindrückliche Weise vor, wie jedes Individuum in seiner eigenen Vorstellungswelt lebt und es nicht die eine „richtige“ Sicht auf die Welt gibt, sondern vielmehr verschiedene Arten, die Welt zu sehen und wahrzunehmen. Eine Geschichte, die uns zeigt, wie bereichernd und spannend es ist, sich für fremde Welten zu öffnen. Schnipsel und mit ihr der Leser kann sich kaum der Faszination entziehen, mit der schöpferischen Hingabe der Mistkäfer Skarabäus sein behaglich funkelndes Heim erschaffen hat. Indem der Autor und Zeichner diese Impression in eines seiner ausdrucksstarken und durchaus kunstvoll gestalteten Bilder umgesetzt hat, bekräftigt er die Ideenfreude und Lebendigkeit seines Kinderromans. In eine andere Welt einzutauchen, bedeutet hier auch, vom anderen zu lernen: Durch die kühnen Taten des Käfers animiert, entwickelt sich das schreckhafte unter Flugangst leidende Papierfräulein zu einer mutigen Heldin, die in einem waghalsigen Flug die gefürchteten Menschenkinder in die Flucht zu schlagen vermag. Auch Skarabäus wird durch die papierne Welt inspiriert. Er findet aus seiner Lebenskrise heraus, lernt sich selbst anzunehmen und erkennt, dass Kaninchenköttel den wertvollen Nutzen haben, dass man darin Eier legen kann. Hier helfen sich verschiedene Lebensformen gegenseitig - sogar die vermeintlich für Eindringlinge gehaltenen Menschenkinder werden zu Rettern in der Not und bescheren den Pappenheimern eine neue Bleibe, in der die Kraft der Fantasie sich voll entfalten kann. Begeisterter pappenheimer Raschelapplaus! (Ab 6)
Die Rezensentin ist Literaturwissenschaftlerin und Mitarbeiterin der Librikon-Redaktion.
Und finden unser Leben eigentlich gut, wie es ist! Auch für Erwachsene: "Spieglein, Spieglein" Von Berta Berger
Aylin Yavuz: „Spieglein, Spieglein … Für alle Prinzessinnen, die ihr Glück noch nicht gefunden haben“ Mit Illustrationen von Mirjam Gille Gillvuz Verlag 2007 36 S., Euro 16,95 ISBN 978-3940434012
Wussten Sie, dass Prinzessinnen in einer Welt mit Hochhäusern und Straßenbahnen leben, dass Schneewittchen Apfelkuchen isst und dass sie arbeiten geht? Wussten Sie, dass die Prinzessin aus „Der Froschkönig“ eine gestresste Hausfrau und Mutter ist, der oft alles zuviel wird und dass Arielle in unserer heutigen Welt im Rollstuhl sitzen würde, so ganz ohne Beine? Und dass auch Prinzessinnen bei Ärzten im Wartezimmer sitzen und dort andere Prinzessinnen treffen, die ebenfalls mit ihrem Leben unzufrieden sind? Das alles wissen sie nicht? Sie glauben auch nicht, dass die Glitzer- und Glamourwelt der Prinzessinnen sie nicht glücklich und zufrieden macht, sofern sie in so einer leben? Dann lesen Sie dieses Bilderbuch. „Spieglein, Spieglein ...“ ist kein Bilderbuch für Kinder. Weder die Sprache, die auf erwachsene Leser zugeschnitzt ist, noch den Sinn dahinter würden junge Leser verstehen. Und doch hat es für mich einen künstlerischen Wert, denn die Collagen, die dieses Buch zu einem einzigartigen Meisterwerk machen, sind interessant und witzig, und vor allem sagen sie mindestens genauso viel aus wie der Text. Müssen denn bloß immer nur Kinder Bilderbücher zum Anschauen und (Vor)Lesen bekommen? Ich meine: Nein. Warum sollen denn wir Erwachsenen nicht auch einmal was zum Blättern und Staunen in der Hand halten dürfen? Und seien wir ehrlich: Geht es uns Frauen nicht allen mal so, wie den Prinzessinnen in diesem Buch? Essen wir nicht mal alle ein bisschen über den Hunger, sind wir nicht alle mal von Kind und Mann genervt? Träumen wir denn nicht alle mal davon, wie es wäre wenn ... ja, wenn alles besser, anders wäre? Ja, wenn wir Prinzessinnen wären? Und nach diesem Buch? Sind wir wieder ein Stückchen realistischer. Finden unser Leben eigentlich gut, wie es ist, denn Prinzessinnen haben es auch nicht immer einfach. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann suchen sie ihr Glück womöglich immer noch.
Die Rezensentin ist Schriftstellerin. Zuletzt
ist von ihr "Die Prinzessin, die von der Liebe nichts wissen wollte" (Autumnus
Verlag) erschienen.
Unser Quartalsrat IV / 2008:
Ueli Ambühl: "Leni holt Hilfe"
Mit Illustrationen von Lika Nüssli Atlantis Verlag 2008 32 S., Euro 13,90 ISBN 978-3715205588
Und warum?
(librikon) „Leni holt Hilfe“ ist ein erstaunliches Buch. Es führt mitten in das Archaische der Bergwelt: Eine Kuh kalbt, der Tierarzt muss kommen, Leni fährt die schneebedeckten Berge mit ihrem Schlitten herab. Aber ihre Jagd ins Tal findet heutzutage statt. Sie rodelt an Autos vorbei, es gibt Handys, es ist unsere Welt, in der das Bilderbuch, bei dem Text und Illustrationen wundervolle Widerhaken für die Wahrnehmung sind, spielt. Ein atemloses Abenteuer, bei dem gerade durch das gute Tempo sein Grundzug – die Selbstverständlichkeit des Nebeneinanders von Archaischem und Moderne – ins Verständnis der Kinder eindringt. „Leni holt Hilfe“ gehört aus grundsätzlichen Überlegungen in Winterbuchrepertoire. Das Zeug zum Lieblingsbuch hat es außerdem.
Guten Morgen, Wahrheit und Witz! Gregs Tagebuch Band 2 „Gibt’s Probleme?“ ist das „Best of Kaputtlachen“
Jeff Kinney: "Gregs Tagebuch 2 - Gibt's Probleme?" Baumhaus Verlag 2008 ISBN: 978-3833936333 224 S., Euro 12,90
(librikon) Wir hatten uns ja nachweislich (siehe Rubrik „Tipps zum Thema – Bücher zum Kaputtlachen“) schon beim ersten Band von Gregs Tagebuch amüsiert, und wir hatten es nachweislich (siehe Rubrik „Wider die Leseförderung“) ernsthaft empfohlen. Angesichts des großen Erfolges in den USA war ja schon klar, dass es Nachfolgebände geben würde, einfach wegen kommerzieller Überlegungen. Die aber genügen ja meist nicht, um zweite Aufgüsse auch inhaltlich zu empfehlen. Hier schon. „Gregs Tagebuch 2“ hat zwar das exakt gleiche Konzept wie „Greg 1“, hat sich aber dennoch aus dem Korsett, das nun öde werden könnte, befreit. Hat Greg 1 noch rein von den Klamaukereien gelebt, von überzogenen Witzeleien aus dem Schülerleben, ist der zweite Band nun anarchischer geworden. In den kurzen, als Tagebucheinträge eines Jungen getarnten Erlebnissen wird nun die Gesellschaft genau beobachtet. Nicht immer steht das Muster des Trottels, bei dem alles schief geht, im Vordergrund, weil die Details, die zur Pointe führen, genau und treffend sind und das Augenmerk auf anderes lenken. Sich entsetzlich langweilende Rentner in Altenheimen. Überwachungswahn. Denkverbote in einem „Sekundärtugenden“ fördernden Lehrplan. Überhaupt scheinen damit aus Amerika wieder die Persiflagen auf unsinnige pädagogische Korsetts zu kommen, die hierzulande noch im „Pisa“-Übereifer undenkbar sind. Daneben steht Gregs echtes Leben, voller Videospiele und Taschengeldbetrugsversuche. Der Autor Jeff Kinney nutzt die Perspektive des harmlosen Greg, um Zynismus und Unverlogenheit durch echt gute Witze aufzudecken. Da sind dann auch noch welche dabei, die das Zeug zum running gag in der Familie haben. „Greg 2“ ist das „Best of Kaputtlachen.“ (Ab 8)
„Ich bin die Plastikente, ich bin der Wombat“ Das Mädchen in der perfekten Familie Von Silvia Overath
Karen McCombie: "Das verrückteste Mädchen der Welt und die ganze Wahrheit über Luftschokolade" Aus dem Englischen von Michaela Koldziecjok Ravensburger Verlag 2008 256 S., Euro 12,95 ISBN 978-3473347353
Heather P. Smith lacht, als ihr Vater die Familie verlässt! Die Situation ist aber auch seltsam: Heather hat Goldtinte auf der Nase, ihrer Mutter rutscht das Handtuch vom Kopf und Heathers Freundin hat einen Bissen Toast im Mund, der sie aussehen lässt wie einen Hamster. Bis sie anfängt zu lachen, hat Heather P. Smith geglaubt, in der perfekten Familie zu leben: Der Vater Zahnarzt, lässt seine Kinder bei Gesellschaftsspielen gewinnen, der Mutter brechen die künstlichen Fingernägel niemals ab, die kleine Schwester Tallie bügelt die Kleider ihrer Puppen und sieht immer niedlich aus, und neben Jo-Jo, ihrem Bruder. vor der Schule zu stehen, ist eine echte Herausforderung für Heather, weil alle Mädchen stets zu schmachten beginnen. Nur sie selbst, das Mittelkind, das mit einer Saugglocke in die Welt geholt wurde, lässt sich nicht in einem Satz fassen. Dafür ist sie viel zu chaotisch. Ihr Emailname ist Wombat, ihre Haare fallen nie so schön wie die der besten Freundin, und außerdem hat sie am 1. April Geburtstag und wechselt dauernd ihre Hobbys. Es ist ihre Perspektive, aus der „Das verrückteste Mädchen der Welt und die ganze Wahrheit über Luftschokolade“ erzählt wird, die Perspektive eines 13jährigen Teenagers, der die ersten zwei Monate nach dem Auszug des Vaters erlebt. Und diese Perspektive überzeugt. Sie überzeugt in einer Geschichte, die nicht nur eine Scheidungsgeschichte ist, sondern auch eine übers Erwachsenwerden. Heather ist eine Heldin, die, mit ihrem Kuscheltier-Not-Radar ausgestattet, alte Zimmergenossen von der Straße holt und dann irgendwie die Familie noch zusammenhält, als die Mutter das Bett nicht mehr verlässt. Sie bringt ihre kleine Schwester in die Schule, macht Bohnen mit Toast, schreibt zuckersüße-sehnsüchtige Mails an den Vater, den sie am liebsten anschreien würde und versteht auch später die Liebesprobleme eines Gruftiemädchens, das spontan bei ihnen einzieht. Dabei verliert Heather nie die Lust am Essen und den Blickwinkel von jemand, der die Hobbys vielleicht so oft wechseln muss, weil er so viele interessante Dinge sieht. „Meine Helden des Alltags sind Müllmänner“ sagt Heather zum Beispiel und muntert sich selbst auf: „Trotz der ernüchternden Erkenntnis, dass ich wie eine Kreuzung zwischen windzerzaustem Pferd und Erdmännchen aussah, fühlte ich mich heute schon bedeutend zuversichtlicher“. Karen McCombies Buch lebt von einem sehr individuellen Figurenensemble, schnellen Dialogen und lustigen Handlungen. Dazu kommen viele unnötige Informationen (Nagellack hält sich im Kühlschrank länger und in einer Tafel Luftschokolade stecken 2200 Luftbläschen), die das Ganze großartig zu lesen machen. Diese intelligente Heldin hat so eine humorvolle Sicht auf die Welt, dass man ihr gerne länger als 255 Seiten folgen würde, wenn sie am Ende vielleicht sieht, dass ein Chaosmoment zum Erwachsensein dazu gehört. (Ab 11)
Very british Eine Waisenkind-Geschichte: "Das Tal der Geheimnisse"
Charmian Hussey: "Das Tal der Geheimnisse" Aus dem Englischen von Marie Rahn Mit Illustrationen von Christopher Crump Hanser 2008 496 S., 17,90 Euro ISBN: 978-3-446-20985-5
(librikon) Topos Waisenkind. Da ist Charmian Hussey nicht auf Neuland unterwegs, schon gar nicht als britische Autorin. Gelernt ist gelernt: Es gibt die Erbschaft, den Notar, das gruselige Haus und die Bedingungen, die der einzige Erbe zu erfüllen hat. Der hat sein letztes Jahr Internat hinter sich und fährt nun zu dem geheimnisumwitterten Herrenhaus, nach dem man im Dorf niemanden fragen kann, weil alle sich fürchten vor dem, was dort vor sich geht. Das Schicksal der Eltern: Kann Stephen es jetzt erfahren? Doch im Garten des Herrenhauses packt ihn Erstaunen, nicht Grauen. Dort steht alles voller Pflanzen, die es in Europa nicht gibt. Sein Onkel, der Naturforscher, hatte sie von seinen fernen Reisen mitgebracht. Hussey hat den Mut, sich aller Klischees zu bedienen, sie greift in jeden schon lange brodelnden literarischen Topf. Aber als Leser hat man nicht das Gefühl, dass sie das tut, um ein Erfolgsbuch zu landen. Dazu ist das Buch zu ehrlich. Und dann ist es eben auch noch britisch. Wäre es deutscher Provenienz, würde spätestens beim Thema Naturschutz Pathos und Belehrung den Stift geführt haben. Nicht so hier. „Das Tal der Geheimnisse“ ist unaufdringlich. Damit empfiehlt sich dieses Buch sehr. (Ab 10)
Etwas zum Verweilen Und so gut, dass man es immer wieder liest!
Von Berta Berger Alexander Kostinskij: Davids Träume Sankt Michaelsbund 2007 128 S., 19.- ISBN: 978-3939905-06-6
Alexander Kostinskij lädt uns mit seinem Buch „Davids Träume“ auf eine Reise ein. Wir begleiten ihn ein Stück in die Vergangenheit, in eine Zeit, in der es noch keine Fernsehapparate gab und keine Computerspiele. Er entführt uns nach Russland und lässt uns ein wenig am jüdischen Alltag teilhaben. Und die dritte und wichtigste Reise, die wir mit Kostinskij machen dürfen, geht in die Stadt Glück. Sie ist eine Stadt mit wunderbaren Einwohnern, sodass man sich wünscht, man möge ein Weilchen mit ihnen verweilen, und sie näher kennen lernen. Da ist Haim Zuckkermann, ein außergewöhnlicher Ofensetzer, der es mit seiner Kunst fertig bringt, eine unglückliche Stadt in die Stadt Glück zu verwandeln. Dort leben unter anderem „ein Märchen, das noch nie erzählt worden war“, das aber schlussendlich doch noch dazu kommt, erzählt zu werden, ein kitzeliger Elefant mit einem Sonnenbrand auf seinem Bauch und Anna, die an ihrem Traum festhält, auch wenn er noch so hoffnungslos scheint und damit die Stadt Glück vor dem schwarzen König rettet. In dieser ungewöhnlichen Stadt feiert die Nacht ihre Geburtsnacht mit Gästen, Geschenken und einer Torte. Vielen anderen großen und kleinen, menschlichen und tierischen Einwohnern dürfen wir über ihre Schultern schauen und mit ihnen mit leben. Es sind aber nicht nur Märchen, die der Autor erzählt, sondern schon fast philosophische Betrachtungsweisen, die er in einer kindgerechten, charmanten Weise vermittelt. So erfahren wir, warum es wichtig ist, Träume zu haben und ihnen manchmal zu folgen, warum man den Beruf eines Trödlers nicht erlernen kann, wohin der Sommer geht und warum man keine Fahrkarte in die Stadt Glück kaufen kann. „Davids Traum“ ist ein Buch, das wie jedes andere mit Worten gefüllt ist. Aber im Gegensatz zu vielen anderen hat es zwischen den Zeilen Platz für Träume und Gefühle. Und die klingen auch noch nach, wenn man das Buch zu Ende gelesen hat und mit Bedauern feststellen muss, dass man sich im eigenen Wohnzimmer und nicht in der Stadt Glück befindet. Fazit: Ein Buch, das man gerne öfter als einmal liest und das mit jedem Mal noch an Faszination gewinnt. (Für jedes Alter)
Die Rezensentin ist Schriftstellerin und schreibt u.a. auch Märchen. (siehe „Von der Prinzessin, die von der Liebe nichts wissen wollte“ (Autumnus Verlag 2008))
Eva Lindström beschreibt in ihrem Kinderbuch „So ein Glück!“ ein Stück echte Kindheit Von Tordis Schuster
Eva Lindström: "So ein Glück!" Hanser 2006 128 S., € 12,90 ISBN: 978-3-446-20697-7
Mats und Roj sind zwei ziemlich normale schwedische Jungs, die irgendwie normale Eltern haben, und auch sonst eher einen durchschnittlichen Kinder-Alltag zwischen Oma-Besuch, Kindergeburtstagen und Haustieren führen. Doch in dieser Alltäglichkeit verbirgt sich das Besondere: Jede einzelne dieser episodenhaften Geschichten, die wie aus den zwei Kinderleben heraus gepflückt scheinen, ist originell und besonders. Keine einzige endet mit einer „netten“ Auflösung, sondern stets mit einer, die Kinder hundertprozentig ernst nimmt. Dieses Buch stellt die kreativen Spielideen und komischen Gedankengänge, die sehr spezielle kindliche Logik, kleine Kinderglücke aber auch Kinderängste in den Mittelpunkt, oder besser gesagt, es hebt sie auf einen Sockel. In einer von Erwachsenen geprägten Welt lässt es Kindermomente zu etwas Besonderem werden. „So ein Glück!“ scheint wie aus der Hocke erzählt, so nah ist die Erzählhaltung an den kleinen Protagonisten angelegt. Die Autorin erreicht dies – abwechselnd aus Mats oder Roj´ Perspektive – durch sinnlich-konkrete Details. Oft ist der Ton sehr pragmatisch und trocken, und gerade deshalb witzig. Kinder können sich beim Lesen sehr gut mit den Charakteren identifizieren. Aber auch für Erwachsene ist „So ein Glück!“ witzig, authentisch und höchst originell zu lesen, gerade weil die Welt erneut aus der Sicht eines Kindes gesehen werden kann. Die Autorin Eva Lindström zählt in Schweden zu den bekannten Kinderbuchautoren, was nach dem Erbe, das Astrid Lindgren hinterlassen hat, auch etwas heißen darf. Kein Wunder bei diesem Talent, den Kindern eine authentische Stimme zu geben. So ein Glück, dass es Bücher wie dieses gibt! (Ab 6)
Die
Rezensentin ist Kinderbuchautorin ("So geht's Marie! Schulkind-Geschichten",
Autumnus Verlag) und leitet Schreibwerkstätten.
Nicht alle Tage Ein Buch, das man sich nicht entgehen lassen sollte: "Zirkus Tornado" Von Steffen Wunder
Hanne und Klaus Hagerup: "Zirkus Tornado oder Wie Ingebrigt das Fürchten verlernen sollte" Nagel und Kimche 2007 176 S., 14,90.- ISBN 978-3-312-00977-0
Zirkusabenteuer, Tagebuchroman oder Detektivgeschichte? Der Roman des norwegischen Schriftstellers Klaus Hagerup und seiner jüngsten Tochter Hanne ist eine perfekt abgestimmte Mischung aus allen Dreien. Erzählt wird die Geschichte von Karsten, einem ängstlichen Igel, der nie seine Stacheln aufstellt, aus Furcht, er könnte jemanden verletzen. Er selbst bezeichnet sich als einen der Helden der Geschichte, auch wenn er im eigentlichen Geschehen eine eher passive Rolle hat. Der zweite ängstliche Protagonist ist Ingebrigt, ein kleiner Zirkusjunge, für den es nichts gibt, wovor er sich nicht fürchtet. Die Sachen, vor welchen er Angst hat, reichen von Ratten und Spinnen über Dunkelheit bis zur Angst, anderer Leute Kuchenkrümel in den Mund zu kriegen oder von zwölf Damen auf einmal getröstet und beschmust zu werden. Alles beginnt damit, dass Karsten unter das Auto der Zirkusfamilie Nieverzagt kommt, Gott sei Dank aber unversehrt bleibt. Die Mitglieder der Familie Nieverzagt halten ihn für einen Hamster, aber das ist Karsten ganz recht, denn so darf er im kalten Winter bei ihnen bleiben. Familie Nieverzagt sind die Eltern Ingar und Ingri, die Zwillinge Ine und Ida und das Nesthäkchen Ingebrigt. Sie gehören zum kleinen Zirkus Tornado und zu den schlechtsten Zirkusartisten der Welt. Schon vieles haben sie versucht, aber immer wieder Zirkusdirektor Tornado zur Weißglut gebracht. Zur Jahresabschluss-Galavorstellung sollen sie nun eine Menschenpyramide hinbekommen. Dann würden sie ihre Festanstellung erhalten. Anderenfalls würden sie entlassen werden. Das wäre schlecht, denn Familie Nieverzagt liebt das Zirkusleben über alles. Das einzige Problem dabei ist Ingebrigt, der sich natürlich nicht traut, als Spitze auf die Pyramide zu klettern. Von nun an passieren im Zirkus einige Vorfälle. Den Aristen werden wichtige Sachen gestohlen, so dem Zauberer das Kaninchen, dem Jongleur die Bälle oder dem Mäusedompteur die Mäuse. Ohne diese Dinge können sie nicht mehr auftreten und so muss Direktor Tornado immer wieder sein Programm umstellen. Die Vorstellungen werden dadurch nicht unbedingt besser. Darum beschließen Ine und Ida eine Dedektei zu gründen. Ingebrigt wird ihr Dedektivinnenassistent und Karsten sein Assistenzassistent. Sie müssen nun in Höhlen, Ballspiel-Center und auf Schminkpartys gehen, um nach den gestohlenen Sachen zu suchen. Ingebrigt muss ständig Dinge tun, wovor er sich fürchtet. Aber oft ist es auch mutig, Angst zu haben. Und auch für Karsten sind diese Abenteuer nicht einfach. Die Frage ist nun, ob Ingebrigt es schaffen wird, seine Angst zu verlieren. Und außerdem: Was hat es mit dem Hutmacher auf sich, der auf einem Berg wohnt, den aber noch nie jemand gesehen hat, und um den sich jede Menge Gerüchte drehen? Nicht uninteressant ist auch, wer nun der Dieb ist. Der Leser wird sich Gedanken machen und so manchen verdächtigen. Die Lösung ist aber alles andere als vorhersehbar. Man wird sicher überrascht sein. Die Geschichte ist wie ein Tagebuch angelegt und spielt in der Zeit vom ersten bis vierundzwanzigsten Dezember. Somit erhält sie vor allem dem Ende zu einen weihnachtlichen Touch. Vor jeden Eintrag stellt Karsten einen Spruch, der ihm bei seiner Angst sehr geholfen hat. Ob sie auch dem Leser helfen werden, wird sich zeigen. Zu Beginn jedes Kapitels ist auch je eine Fürchteliste von Karsten und Ingebrigt zu sehen und immer wieder taucht im Buch das veränderte Programm auf. Humor kommt durch Karstens witzigen Schreistil hinzu. Er kommentiert alles aus der Igelperspektive und sieht die Dinge oft etwas anders als wir Menschen. Einen Igel, der schreiben kann und sich auch noch mit E-Mails auskennt, trifft man nicht alle Tage. Genauso wenig wie einen solch ängstlichen Jungen wie Ingebrigt. Deshalb sollte man sich dieses Buch auf keinen Fall entgehen lassen. (ab 6)
Der Rezensent ist angehender Skandinavist und Kinderbuchautor ("Also bin ich ein Pinguin", Autumnus Verlag 2008)
Eine wundervolle Dokumentation der ersten Schritte ins Erwachsenenleben: "Die Sache mit Zwille" Von Anne Spitzner
Jan Koneffke: Die Sache mit Zwille Hanser 2008 208 S., Euro 14,90 ISBN 978-3446230941
Die Sache mit Zwille, die Jan Koneffke in seinem gleichnamigen Buch beschreibt, passiert Florian, einem zwölfjährigen Jungen aus einer kleinen Stadt am Bodensee. Florian, den alle immer noch Floh nennen, hat vier Schwestern, einen Workaholic als Vater, eine Mutter, die den nur-arbeitenden Vater verlassen hat, und er hat keine richtigen Freunde. Bis er auf Zwille trifft. Zwille, der schon fast ein Erwachsener ist, eine kranke Mutter zu pflegen hat und von einer Freiheit redet, die Florian sich nicht vorstellen kann. Trotzdem werden aus den beiden ungleichen Jungen Freunde – doch es muss noch eine Menge passieren, bis sie sich dessen wirklich sicher sein können. Mit großartigem Einfühlungsvermögen stellt Jan Koneffke die Gefühlswelt seiner Hauptperson Florian dar. Man fühlt sich zurückversetzt in die Zeit, in der man selbst so alt war und in der man selber nicht wusste, wie man sich benehmen soll, um vor den Gleichaltrigen gut dazustehen. Gerade, wenn Floh sich besonders erwachsen verhalten möchte, geht alles in die Hose, aber weil er ein großes Herz hat, kann ihm weder die Bande von Kleinkriminellen, in die er zwischendurch hineingerät, noch die erste große Liebe dauerhaft etwas anhaben. Als er Zwille trifft, entdeckt er, dass auch die Erwachsenen nicht immer Recht haben, und er hält zu seinem angeblich mit Drogen handelnden und randalierenden Freund, obwohl alle ihn davon abbringen wollen. Floh kennt Zwille besser. Dieses Buch ist eine wundervolle Dokumentation der ersten Schritte ins Erwachsenenleben. Es handelt von Freundschaft, von Niedertracht, vom ersten Ver- und Entlieben, von Angst und auch von dem Mut, der irgendwo tief in einem Menschen verborgen liegt, so tief, dass man gar nicht weiß, dass man ihn besitzt. Es handelt von der einsetzenden Pubertät, von Geschwistern und Eltern, die einem plötzlich so hassenswert erscheinen, die immer peinlich und zu fürsorglich sind, obwohl sie es doch nur gut meinen – und man selber das im tiefsten Inneren auch weiß. Überdies ist das Buch auch noch fesselnd geschrieben, was mit einer detaillierten Darstellung ja nicht immer Hand in Hand geht – aber Jan Koneffke schafft das im Handumdrehen. „Die Sache mit Zwille“ ist ein Buch, das man auf keinen Fall in die Hand nehmen sollte, um „mal eine halbe Stunde zu lesen“ – denn es packt einen ruckzuck, absorbiert die gesamte Aufmerksamkeit, und wenn man aufblickt und auf die Uhr sieht, stellt man fest, dass mehr als zwei Stunden vergangen sind. Mich zum Beispiel hat die Geschichte so sehr gefangengenommen, dass ich fast das Aussteigen vergessen und meine Bushaltestelle verpasst hätte.
Unser Quartalsrat III / 2008:
Edward van de Vendel: "Superguppy"
· Boje Verlag 2008 · 64 S., Euro 9,90 · ISBN 978-3414821522
Und warum?
(librikon) Ein großes Glück, wir ahnten es schon bei anderen bedeutenden Niederländern, ist die Ähnlichkeit von Deutsch und Holländisch. Denn so verlieren die Gedichte von Edward van de Vendel, (trefflich übersetzt von Rolf Erdorf) nicht an Charme, sondern sind auch in der Übertragung ein Freudenfest an Wörtern, Bildern, Reimen. "Superguppy" vereint obendrein alles, was Kinderherzen bewegt. Lustig und ernsthaft, verständlich und metaphorisch. Alles wie im echten Leben, und doch alles Gedicht.
Keine Panik! -Rennen mit Roxy für Leseanfänger- Von Silvia Overath
Phyllis Reynolds Naylor: "Roxy rennt!" Aus dem Amerikanischen von Ilse Rothfuss, mit Illustrationen von Regina Kehn dtv 2008 128 S., Euro 5,95 ISBN 978-3423713078
Roxy Triller hat große Ohren. Richtig große. Und sie stehen ihr vom Kopf ab wie zwei Zuckerdosenhenkel. Mit ihnen traut sich Roxy in der neuen Schule nicht auf den Pausenhof, weil die Hacker-Bande ihr schon einmal die Ohren mit Isolierband an den Kopf geklebt hat. Nun wollen sie ihr einen Hut schenken und dafür ihre Ohren in die Löcher einer Unterhose stecken. Roxy rennt also, dabei will sie doch mutig sein. Roxy ist neun Jahre alt und wäre gerne so mutig wie ihr Onkel Trutzfuß, der mit Lord Distelbacke, einem berühmten Entdecker, Krokodile jagt oder die Wüste durchquert. Im Lauf der Geschichte werden Roxys Ohren immer phantastischer, sie sind am Ende rosig, rund - kurz: die „schönsten, prächtigsten, wunderbarsten Zuckerdosenhenkel-Ohren der Welt“. So viel Optimismus ist vergnüglich. „Roxy rennt“ von Phyllis Reynolds Naylor ist ein gewandt geschriebenes Buch mit viel Bewegung. Das beginnt schon damit, dass Roxy auf einem Müllcontainer balanciert und dann mit der ganzen Hacker-Bande zuerst im Meer und dann auf einer Insel landet. Man prügelt und beißt sich am Strand, bis die wahren Feinde auftauchen: Die Bankräuber Ratte und Schlangenauge, die hierher geflüchtet sind und allen, die sonst noch ihre Insel betreten, die „Kehle aufschlitzen“ wollen. Da Roxy aber „Lord Distelbackes Handbuch der Gefahren und Fallstricke“ gelesen hat, weiß sie, wie man einen Bären auf die Schnauze haut oder sich im Schnee versteckt. Am wichtigsten dabei ist: Keine Panik. So kann es Roxy fast alleine mit Schlangenauge aufnehmen und die ganze Hacker-Bande retten. Die werden am Schluss zum Roxy-Triller-Fanclub und trinken mit Onkel Trutzfuß und Lord Distelbacke Tee. Denn auch wenn Roxy, von Schlangenauge verfolgt, sich kurzfristig zu helfen weiß (immerhin will der sie umbringen), sind es doch ihre Antennenohren, die den rettenden Hubschrauber der Entdecker hören können. In Roxys Leben geht es manchmal ein wenig grob zu, aber schließlich will sie auch lernen, mutig zu sein. Diese Welt hier, die sich zwischen lockerer Fiktion und rasanter Realität bewegt, lädt dazu ein, sich hundert Seiten lang zu amüsieren. Als Glossar finden sich die gesammelten Überlebenstipps von Lord Distelbacke, die Roxy gerettet haben. Das müsste den Leseanfänger eigentlich sofort von der Lebensnotwendigkeit von Literatur überzeugen. Und davon, nie in Panik zu geraten. Denn wer weiß, wann man unter der nächsten Lawine liegt.
Die
Rezensentin studiert "Kreatives Schreiben" und lebt derzeit in London.
Mit nur ein paar Worten eine ganze Palette an Gefühlen Ein Kennerbuch: Will Gmehlings "Einen Luchs am Hals haben" Von Anne Spitzner
Will Gmehling: "Einen Luchs am Hals haben" Mit Bildern von Jens Rasmuss Residenzverlag 2008 158 S., 12,90.- ISBN 978-3701720354
Man sagt Luchsen völlig zu Recht nach, dass sie besonders gut sehen können. Und Luchsfreund und Kinderbuchautor Will Gmehling muss wirklich Augen wie einer von ihnen haben, jedenfalls fürs (Zwischen-) Menschliche. In seinem Buch „Einen Luchs am Hals haben“ stellt er das unter Beweis. Einfühlsam und gut beobachtet erzählt er die Geschichte des einsamen Herrn Egons, der im Wald ein Luchsbaby in seinen Rucksack steckt, es großziehen will und erst später feststellt, dass er keine Ahnung hat, „wie man so was macht“. Gleichzeitig ist die Geschichte die von Carlo König, dem elfjährigen Nachbarn von Herrn Egon. Zufällig erfährt er von dem Luchskind, und eine Weile ist er sehr glücklich, bis sich dann seine Mutter einschaltet – eine alleinerziehende Mutter, die Herrn Egon ausnehmend gut gefällt… Aber es gibt kein Happy End – dieser bitteren Erkenntnis müssen sich alle Beteiligten genauso unausweichlich stellen wie auch der Entwicklung des Luchskindes Miri zu einer ausgewachsenen Raubkatze-, und dennoch: Das Buch ist eine schöne, eine spannende Lektüre, die sich mit Luchskrallen in einen hineinkrallt und es beinahe unmöglich macht, das Buch aus der Hand zu legen, sobald man die ersten Seiten gelesen hat. „Einen Luchs am Hals haben“ ist eine ganz große Liebesgeschichte, aber keine im herkömmlichen Sinne. Es ist eine Liebeserklärung an das Leben, das auch dann schön sein kann, wenn man im Kanal arbeitet und eigentlich nur mit Ratten zu tun hat. Es ist nicht nur die Liebesgeschichte zwischen zwei Erwachsenen, sondern auch die zwischen Mensch und Tier und zwischen vaterlosem Jungen und kinderlosem Vater. Behutsam erzählt Gmehling von einem Spießer, der eigentlich keiner ist und das nur vergessen hat. Dabei spricht er Dinge, die im vermeintlich wahren Leben der Erwachsenen zwischen den Zeilen verschüttet gehen, so natürlich aus, wie sie ein Kind sagen würde. Mit seinem leichten und leicht verständlichen Stil ist das Buch sehr geeignet für Kinder, bietet sich aber auch erwachseneren Lesern an. Mit nur ein paar Worten versteht Gmehling es, eine ganze Palette an Gefühlen zu malen und wachzurufen - die Einsamkeit des Herrn Egon genauso wie die Gefangenschaft des Luchskinds. Zurückhaltend gewählte Worte lassen Platz für Fantasie; gleichzeitig wird Miri, der kleine Luchs, so wirklichkeitsnah beschrieben, dass man merkt, was für ein Luchskenner Will Gmelhling ist. Die Geschichte deckt alles ab, ist lustig und traurig zugleich, und mit einem lachenden und einem weinenden Auge wartet man darauf, dass alles zu Ende geht, weil man gleichzeitig wissen will, wie es denn nun ausgeht mit Miri, Carlo und Herrn Egon, und trotzdem nicht möchte, dass das Buch fertig gelesen ist und man die Figuren schon wieder verlassen muss, die man durch das aufregendste Abenteuer ihres Lebens begleitet hat. Aber dafür kann man das Buch schließlich nochmal lesen.
Die
Rezensentin ist Mitarbeiterin der Librikon-Redaktion.
Mit Raffinesse, gewitzt und lustig "Verschwörung auf Castle Cant" Von Susan Müller
Kevin P. Bath: "Verschwörung auf Castle Cant" Aus dem Englischen von Klaus Weimann dtv 2007 399 S., 8 Euro ISBN: 978-3423712156
Lucy Wickwright ist ein völlig normales, mit ihrem Leben zufriedenes und glückliches Kind. Ihr Vater ist Kerzenmacher, sie hat eine Mutter undeinen kleinen Bruder Casio. Für das alljährliche Fest am nahe gelegenen Schloss bekommt ihr Vater den Auftrag für eine besondere Kerze. An diesem außergewöhnlichen Tag wird Lucy unter einem Vorwand von einer Kundin in der Werkstatt des Kerzenmachers aufgehalten. Ihre Familie, so das Ziel, soll ohne Lucy, zum Fest fahren. Die drei kommen dort nie an. Sie verunglücken tödlich. Lucy wird zur Waise. Sie kann dieses Schicksal kaum begreifen, ist aber froh, dass sie vorerst bei ihrem Onkel wohnen darf. Dieser ist sich nicht sicher, ob er ausreichend für Lucy sorgen kann und sie genügend beim ihm fürs Leben lernt. Er nimmt dankbar das Angebot an, dass Lucy sich im Schloss als Zofe der Thronfolgerin Pauline verdient machen kann. Da Pauline nur wenig jünger als Lucy ist, überredet sie diese ständig zu neuen Streichen, deren Bestrafung allerdings nur Lucy auszubaden hat. Es sind keine bösartigen Streiche und derart humorvoll detailliert beschrieben, dass man - trotz des dramatischen Hintergrundes- schmunzelnd liest - so ist das Buch angelegt. Der Einfall mit der Wäschekanone, der allerdings ist der Anfang zu einigen Verwicklungen und Enthüllungen im Schloss und vor allem im Leben der Lucy Wickwright. Mit dieser „Attacke“ während einer Hinrichtungszeremonie, die später in Kerkerstrafe umgewandelt wird, halten einige im Schloss Lucy für eine „Verbündete der Sache“. Die „Sache“ ist ein Plan, die Schlossbewohner davon abzubringen, Kaugummi, das beliebteste Stück Süßigkeit am Schloss, für teures Geld zu importieren. Lucy wird, ohne es zu wollen, für die Sache eingespannt. Sie ist stolz und aufgeregt, schließlich wird sie über Nacht zur Spionin und soll ein wichtiges Dokument stehlen und dem eigentlichen Eigentümer zurückzubringen. Dies ist der Spannung aber nicht genug, denn während der Erfüllung ihrer Mission belauscht Lucy ein Gespräch, was sie allerdings erstmal auf Pauline bezieht, die laut dieser Unterhaltung auf keinen Fall Herrin werden soll. Sie erkennt, dass auf dem Schloss durchaus böse Charaktere ihr Unwesen treiben. Ihr Beschützerinstinkt ist geweckt, ohne dass sie ihre andere Mission aus den Augen verliert. Jetzt geht es aber erst richtig los, denn Lucys Erzählungen ihrem Onkel und auch gegenüber ihrem „Auftraggeber“, bringen das eigentliche Geheimnis ans Tageslicht. Mit viel Einfühlungsvermögen und der Kunst, ein Kind darzustellen, das aufgrund seiner nicht leichten und ungewöhnlichen Kindheit den scharfen und wachen Verstand eines Erwachsenen hat, wird dieses Buch zum echten Lesevergnügen. Der Leser ist erleichtert, als sich seine Ahnung bestätigt, wer auf keinen Fall Herrin auf diesem Schloss werden darf - denn das ist Lucy selbst. Sie ist die uneheliche Tochter des Schlossherren, wie er den beiden Mädchen auf dem Sterbebett gesteht. Pauline und Lucy sind also Halbgeschwister, und das beflügelt Lucy ums Mehrfache, Pauline aus dem Kerker zu befreien und mit ihr gemeinsam zu fliehen. Kindlich schlau gelingt ihr das, und sie entkommen auch den Verfolgungsangriffen ihrer Widersacher. „Lucy wischte sich die Wangen, nahm ihre Schwester bei der Hand und zusammen brachen sie auf, um herauszufinden, wohin ihr Weg sie führen würde.“
Mit Raffinesse hält das Buch bis zum Schluss, was es bereits am Anfang verspricht – spannend, aufregend, gewitzt und lustig.
Die
Rezensentin ist Mitarbeiterin der Librikon-Redaktion.
Über die Aufmerksamkeit, Fragen stellen zu können und sie (wie Sokrates) auch unbeantwortet zu lassen Inhaltlich wie optisch wunderschön: „Herr Grinberg & Co.“ Von Silvia Overath
Gila Lustiger: "Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück" Mit Illustrationen von Vitali Konstantinov Berlin Verlag 2008 108 S., Euro 14,90 ISBN 978-3827007735
Eigentlich hatte Mathilda ihren Freund Paul mit Herrn Grinberg verkuppeln wollen. Pauls Großmutter war gestorben. Paul hatte niemanden mehr, der ihm bei Stadt-Land-Fluss von einem Tier mit Namen Bamelero erzählte, das angeblich im russischen Dschungel wohnt. Und Herr Grinberg saß jeden Tag auf der Bank unter der Kastanie, wo auch Paul mit seiner Großmutter immer Kirschen gegessen und Kerne gespuckt hatte. Nur sprach der ältere Mann nicht. Er las Zeitung, während Mathilda ihr Pausenbrötchen mit Herrn Grinbergs Hündin Holstein teilte und der Meinung war, dass Herr Grinberg der richtige wäre, um einmal ein Auge auf Paul zu werfen. Nur, dann ist Mathilda, der proklamierten Heldin, etwas dazwischengekommen. Vielleicht die Glücksgebete an „Rabbijesumarieaallahbuddhagott“ oder die Suche nach Worten für Szenen, die Erwachsene nicht genug beachten: Wie zum Beispiel, fragt sich Mathilda, nennt man den Moment, kurz bevor man hungrig in ein belegtes Brot beißt, oder das Gefühl, sich müde an seine Mutter zu schmiegen, die einem dann durchs Haar streicht? „Herr Grinberg & Co.“ von Gila Lustiger ist ein Buch, das auf Alltagsmysterien vertraut. Ohne der Linie einer Geschichte allzu stringent zu folgen, werden hier Momente von heiterer Schönheit in den Episoden von Mathilda und ihren Freunden versteckt. Manchmal muss man die Heldin suchen, sich in den Fußnoten am Ende jedes Kapitels orientieren. Aber lässt man sich darauf ein, zwischen den Kapiteln etwas zu lustwandeln, erfährt man viel mehr über die Figuren als in einer planen Erzählung. Zum Beispiel, dass Pauls Großmutter Ordnung auch nicht zu sehr schätzte und Grammatik zum Beispiel für ein gefährliches Nagetier hielt... Die „Geschichte vom Glück“ spiegelt die Vielfalt des echten Lebens wider - und bringt Vertrauen in eine Welt, in der die ganz eigenen Themen, eigenen Probleme einen liebevollen Blick verdienen. Und Probleme haben sie alle: Simon, weil seine Eltern sich getrennt haben, Tina, weil sie zu dick ist, Herr Grinberg, der sich in seine italienische Haushälterin verliebt und Holstein, die immer Hunger hat. Mathilda sehnt sich nach einer Hängematte im Zimmer, die „ultimativ“ wäre, schreibt Fünfen in Mathe und ist sowieso sehr damit beschäftigt, in alle Dinge ihre sommersprossige Nase zu stecken. Ob die kleinen Helden sich einmischen oder fast zufällig einander begegnen: Sie helfen sich, wenn sie beginnen sich zuzuhören und wenn sie neugierig bleiben. Sie geben das „Buch der Fragen“ weiter, das seit Generationen durch Kinderhände geht. Denn um Fragen geht es hier: Um die Aufmerksamkeit, sie stellen zu können und sie (wie Sokrates) auch unbeantwortet zu lassen. Um einen Kinderblick, der zwar keine schmutzigen Socken sieht, dafür aber Steine, die sich langweilen könnten. Immer wieder findet man wunderschöne Sätze, die auch erwachsene Leser erfreuen müssen: „Jeder Mensch hat einen blauen Fleck auf der Seele“, sagt Simon, der später unter der Kastanie sitzt und sich umsieht: „Es kam ihm vor, als wäre die Zeit in feine Baumwolle gewickelt." Von manchen Kindern, wie von Simon, hätte man vielleicht gerne mehr erfahren. Aber dadurch, dass einzelne Geschichten eher angerissen als auserzählt werden, bietet „Herr Grinberg & Co.“ viele Möglichkeiten, sich die Geschichten weiterzuspinnen und sich selber irgendwo zu finden. Humorvoll lassen die Illustrationen von Vitali Konstantinov einen Hundekopf neben den Zeilen erscheinen oder spielen einen Ball über mehrere Seiten. Die Leichtigkeit, mit der hier Episoden verbunden werden, entdeckt man bei diesem schönen Buch auch auf optischer Ebene. Paul wird übrigens kurzzeitig Chefkoch von Herrn Grinberg und backt nach dem Rezept seiner Großmutter den „Freiheitskuchen“ mit Heidelbeeren.
Die
Rezensentin studiert "Kreatives Schreiben" und lebt derzeit in London.
Eine Autobiographie der Sinne und der Erinnerungen Mohiedin Ellabad: "Das Notizbuch des Zeichners" Von Dr. Tarik Abdel Bary
Ellabad Mohieddin: Das Notizbuch des Zeichners Nord-Süd Verlag 2008 30 S., Euro 13, 80 ISBN 978-3314015953
Der bekannte Künstler Mohiedin Ellabad legt mit seinem wundervollen Buch "Das Notizbuch des Zeichners" eine neue und schöne Form der Kinderliteratur vor. In dem Band erzählt Ellabad seine eigenen Erinnerungen an Ereignisse und Orte, die sich auf die eine oder andere Weise in sein Gedächtnis eingegraben haben, und zwar wegen ihrer Farbe, ihrer Form, ihres Klangs, ihres Geruchs, der Weise, wie sie sich anfühlten oder weil sie ihm aus Gründen, an die er sich nicht mehr erinnern kann, gefielen. Das Buch erscheint wie eine Autobiografie der besonderen Art. Es ist eine Autobiografie der Sinne, der Erinnerungen und der Eindrücke. Es handelt sich um eine Sammlung von Kurzgeschichten über kleine Begebenheiten, wie wir sie alle in unserer Kindheit geliebt haben. Sie berichten von Übergangssituationen und Momenten, die uns in besonderen Augenblicken unseres Lebens anrühren und konsequenterweise einen schönen Eindruck hinterlasssen, weil sie am Anfang unserer Kontakte und unseres Wissens um das Leben mittels unserer fünf Sinne standen – oder auch vielleicht, weil diese Begebenheiten und Orte wirklich entzückend waren. Vielleicht kannten wir in diesem frühen Alter keine andere Form der Ereignisse außer ihrer hübschen Erscheinung. Wie konnte Ellabad über lange Jahre hinweg all diese minutiösen Details und zarten Eindrücke, die wir alle vergessen, wenn wir heranwachsen und mit größeren und wenigeer schönen Dingen konfrontiert werden, in seiner Erinnerung, seinem Bewusstsein und seinen Sinnen bewahren? Das ist hier die Frage. Mohiedin schreibt über all die kleinen Erinnerungsstücke, zum Beispiel über alte Fotos, auf denen die Leute noch traditionalle ägyptische Kleidung wie den Gilbab (eine Art Kittel) und ein Stirnband trugen. Daneben gibt es eine alte Ansichtskarte mit einer Briefmarke darauf, die das Bild König Fuads zeigt, eines Mitglieds der königlichen Familie aus der Zeit vor der Julirevolution von 1952. In seinen Erinnerungen gibt es auch einen Busfahrschein. Wenn auch Museen und berühmte historische Monumente eine gewisse Art Erinnerungsstücke sind, so sind doch diese kleinen Dinge die liebenswerten Souvenirs derer, die sie sowohl mit all ihren Sinnen als auch als persönliche Erinnerungen im Gedächtnis bewahren. Der Autor wechselt von Erinnerungsstücken zu Träumen, frühen Eindrücken und zum Beginn der Interpretation der Welt vom Blickpunkt eines kleinen Jungen aus und aus der Perspektive der ersten Ereignisse überhaupt heraus: zum ersten monatlichen Taschengeld, dem ersten Notizbuch und der ersten Liebe – wie sie begann bis hin zur ersten Berührung. Die Ereignisse, die das Buch aufgreift, sind zweifellos einfach. Sie sind jedoch einfach in philosophischer Weise. All diese Träume und ersten Begebenheiten wurden vom Autor auf geschickte Weise aufgezeichnet. Er schildert die Entwicklung seiner Beziehung zu ihnen von den ersten Augenblicken an, und zwar von solchen Momenten an, in denen sein Gedächtnis und seine Vorstellungskraft aktiver dabei waren, sie zu ersinnen als dass sie Wirklichkeit gewesen wären. Dann schreitet er fort zu jenem Zeitpunkt, in welchem solche Erstereignisse ohne kindliche Einbildungkraft real wurden. In diesem Moment werden die Dinge weniger schön. Alles ohne Ausnahme wird normal. Sogar jene fernen Länder mit magischen Namen wie "Parfümküste". Wir entdecken das mit dem Autor, aber ohne die schöne Illusion, genannt Vorstellungskraft, die es uns erlaubt, das Leben und die Ereignisse aus einem Blickwinkel zu sehen, der von der Realität abweicht, hätten wir nicht die schönen Geschichten und die wundervoll farbigen Bücher gesehen, die ein Leben kreieren, wie wir es uns vorstellen und eines, in dem wir leben. Ich frage mich: ist das reale Leben wirklich so verschieden von dem, das wir in den Geschichten, die wir erzählen, und in den Bildern, die wir und die anderen uns ausmalen – aus unserer Vorstellungskraft, vermischt mit Realität oder manchmal auch fern von ihr? Sind Vorstellungen die Wirklichkeit, die wir uns wünschen? Ist Realität die Vorstellung, die andere eines Tages gewünscht haben? Das sind einige Fragen, die sich mir gestellt haben, als ich das lustige und interessante Buch "Das Notizbuch des Zeichners" las. Was wirklich spannend ist, ist, dass der "Zeichner-Autor" den Leser von Erinnerung und Erzählung hin zur Bildung führt. Er lehrt den Leser, das Leben als eine Realität entgegenzunehmen, als eine Vorstellung, als Erinnerung, als Fotos, Farben und Berührung, als Eindruck, als Erklärung und als Technik. Er führt den Leser Schritt für Schritt weiter, bis beide das Geheimnis des Rezepts und der Philosophie des Zeichnens, die die Philosophie der Kunst ist, entdecken. Schließen Sie sich mir an und lesen Sie diesen Absatz: Ein kluger Zeichner ist jemand, der alle jene Erinnerungen und Einzelteile des Wissens miteinander vermischen kann. Dann produziert sein Stift schöne und wirklichkeitsnahe Wölfe. Sie haben jedoch keine Ähnlichkeit mit den Wölfen, wie wir sie in den Schulbüchern finden. Ellabads Stil ist hauptsächlich von Einfachheit und Klarheit gekennzeichnet, er ist leserorientiert. Er ist aber auch von Erzieherischem wie es von den Eltern oder Lehrern kommt, geprägt. Das mag in diesem Buch nicht ausdrücklich in Erscheinung treten, es ist jedoch in einer didaktischen Form eingeschlossen. Der Wortschatz ist einfach und klar. Schwierige Worte werden im Text erklärt und nicht in Fußnoten. Das macht den Text leserfreundlich, da es schwierige und leichte sowie vertraute und unbekannte Worte miteinander verbindet. Dies ist derselbe Geist, der das Verhältnis zwischen Autor und Leser charakterisiert. Der Autor lässt den Leser alles sehen: sowohl die schönen als auch die weniger angenehmen Zeiten. Seine Zeichnungen machen diesen Geist deutlich sichtbar. Zeichnungen und Text sind so eng miteinander verflochten, dass die Zeichnung quasi zum Text und der Text zur Zeichnung wird. Die Erinnerungen und Arbeitstechniken wirken aufeinander ein wie ebenso auch leichte und schwierige sowie vertraute und ungewohnte Einzelheiten. Das mag der Grund dafür sein, dass die deutsche Fassung und der arabische Originaltext in einem zweisprachigen Buch veröffentlicht wurden.
Words are too many to come to an end on "The Painter's Notebook". The analysis above is on writing; double and more needs to be written on painting, the style of which takes us to purely Arab and Oriental heritage. It further takes us to the beautiful and naïve world of childhood … to the world of old oriental stories such as “Arabian Nights” and “Kalila and Dimna”… etc. Ellabad’s paintings actually take us to the magical and picturesque worlds of ornamentation and Arabic handwriting.
Der
Rezensent lebt in Kairo und ist Kinderbuchautor und Übersetzer ins Deutsche.
Teil wertvollen Literaturgutes: Tamara Ramsays "Kleine Dott" Von Susan Müller
Tamara Ramsay: Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott Prignitz-pur Verlag 2007 254 S., Euro 19,90 ISBN 978-3000225680
Manch einer kennt vielleicht das Schild, das am Rande der Autobahn steht, wenn man Berlin in Richtung Ostsee oder Hamburg verlässt und das in die Naturlandschaft Prignitz einlädt. Doch was diese für uns hinter den Kulissen bereithält und die kleine Dott damit in Verbindung bringt, sollen wir erst in diesem eindrucksvollen Buch erfahren. Dott heißt mit richtigem Namen Dorothea und ist die älteste der drei Geschwister der Familie Kersting. Sie sollte in der Nacht des Johannisfeuers eigentlich in ihrem Bett liegen und bei ihren Geschwistern sein, als die Neugier und ihr Unmut darüber, noch immer wie ein kleines Kind behandelt zu werden, über die Vernunft siegen. Sie stiehlt sich aus dem Haus und schleicht über die Wiesen, um das Feuer aus der Nähe sehen zu können. Dabei verfängt sich die Rennefarre in ihrem Schuh. Ab sofort ist sie für das menschliche Auge unsichtbar. Hin- und hergerissen zwischen Unsicherheit, Angst und vorübergehender Erleichterung ob der entgangenen Strafe, die sie als Ausreißerin erhalten hätte, stellt sie fest, dass sie, solange sie nicht von der Unsichtbarkeit erlöst ist, die Sprache der Tiere versteht und diese sie auch sehen können. Damit beginnt die abenteuerliche Reise der kleinen Dott durch die Prignitz. Ich könnte jetzt Details verraten, aber ich bin unschlüssig, wie viel davon - denn ich möchte keinesfalls zuviel dem wunderbaren Werk vorwegnehmen oder die Spannung schmälern. Es sei aber soviel verraten: Die kleine Dott muss sich mit den Tieren arrangieren, und um sich deren Akzeptanz sicher zu sein, erhält sie drei Aufgaben, die es zu bestehen gilt und denen sie sich stellt. Sie begegnet ihnen unerschrocken - verlässt sie auch zwischenzeitlich der Mut. Dott erringt die Freundschaft großer, kluger und anerkannter Tiere und erweist sich dieser würdig. Ihr Weg in den Sümpfen und Mooren der Prignitz erweist sich oft als schwierig, doch als sie sich damit abgefunden hat, dass sie ihre Schuhe nicht einfach ausziehen kann, sondern die Renefarre sie weiterhin nur für Tiere; koboldähnliche Wesen und bereits Verstorbene sichtbar sein lässt, fügt sie sich in das Unerlässliche und versucht das Beste aus ihrer Situation zu machen. Dank der bildlichen Beschreibung in schillernden Farben sehen wir vor unseren Augen die Wälder und Wiesen mit schwarzen Seen und Flüssen und erleben gespannt manchen Kampf der kleinen Dott. Wir können uns vorstellen, wie sie ärgerlich den Mund verzieht, wenn ihr die Landschaft immergleich erscheint, schlammig und moorig. Wie ihr kleines Köpfchen arbeitet, ob sich der Aufwand des beschwerlichen Weges zu Frau Harke, der Herrin der Prignitzer Natur, welche endgültig über Dotts Schicksal entscheidet, lohnt. Wenige Minuten später aber begibt sie sich auf diesen. „Ein Kind eben, es empfindet heiß den Schmerz und ebenso heiß die Freude“, es ist offen für allerlei Einflüsse. Im Lauf ihrer Reise - als sie für die Eule, die zum Werkzeug der Menschen geworden war, einen Arzt aufsuchen muss - kommt sie zu Herrn Doktor, der sie zwar auch nicht sehen kann, aber ihre Geschichte glaubt und sie umsorgt und ihr hilft. Dieser hat vier Freunde, die alle auf ihre Weise ihre Liebe zur Heimat beweisen wollen: Der Lehrer schreibt über die Pflanzen, Tiere und Landschaften der Prignitz, der Herr Pfarrer nimmt sich alter Sagen und Sitten an, der Organist ist spezialisiert auf alte Klosteranlagen und der Herr Doktor selbst beschäftigt sich mit alten Chroniken über die Vergangenheit der Prignitz. Diese vier geben ihr den Rat mit auf den Weg, die Gabe der Renefarre zu nutzen und die damalige Zeit zu erkunden, um das Erlebte kundzutun. Es fasziniert mich, dass dadurch nicht nur die Landschaft mit ihrem schönen und manchmal schaurigen Wesen dargestellt wird, sondern auch, dass das kleine Menschenkind (wie Dott oft von den Tieren genannt wird) mit ihrem Mut eine Zeitreise unternimmt in die früheren Jahrhunderte. Tamara Ramsay lässt uns so Geschichtliches, Sagen und Legenden miterleben und gibt Gelegenheit dazuzulernen. In jeder Sage steckt ja bekanntlich ein Fünkchen Wahrheit; wir erfahren von Machtkämpfen, von Sachsen und Wenden, von vielem mehr! Ich persönlich fiebere und fühle oft mit Dott, so auch am Schluss dieses Buches, als Dotts Verlangen, ihrer Familie zu helfen, unbändig wird - und die Spannung auf ein fortsetzendes Werk steigt. Dieses Buch beflügelt die Phantasie und die Vorstellungskraft: „An der Grenze der Prignitz Richtung Mark Brandenburg mit Schlössern und Parkanlagen und verträumten Seen, dahinter die Prignitz mit schwarzen Tränenflüssen, die dunkle Leidenspforte des Reichs“. Der Wunsch wächst, sehr bald nicht nur das Schild an der Autobahn zu lesen, sondern selbst auf den Spuren der kleinen Dott zu wandeln. Das Buch ist für Sagenliebhaber, Landschaftsinteressierte und Märchenkenner ein „Muß“. Schlichte, ausdrucksvolle Zeichnungen runden das phantastische Prosawerk ab. Im Nachwort ist zu lesen, dass es das Buch bereits Jahrzehnte mit einigen Neuauflagen gibt. Das verwundert nicht, denn es ist ein Teil wertvollen Literaturgutes. Die Rezensentin ist Mitarbeiterin der Librikon-Redaktion. Lesen Sie auch das Portrait von Tamara Ramsay (Rubrik „Portrait um 11 – Autoren“)
Ob Stadt oder Buch: Bresel lockt Von Alexandra Geiselhart
Gerhard Gemke: Die hohle Schlange, das Labyrinth und die schrecklichen Mönche von Bresel Ueberreuter 2008 352 S., 16,95 Euro ISBN: 978-3800053759
Mit dem Roman "Die hohle Schlange, das Labyrinth und die schrecklichen Mönche von Bresel" hat der studierte Musiker Gerhard Gemke einen facettenreichen, sprachlich-humorvollen und spannenden Abenteuer-Krimi für Jugendliche verfasst. Der Leser darf ereignisreiche Frühlings- und Sommerwochen in der Stadt Bresel am Breselberg miterleben. Die Geschichte beginnt in der auf dem Breselberg gelegenen Burg Knittelstein, in welcher die elfjährige, sehr musikalische Josephine von Knittelstein-Breselberg – kurz Jo genannt – mit ihrem Vater Baron Eduard und ihrer – dafür prädestiniert sie schon ihr Name – bösen Stiefmutter Baronin Tusnelda lebt. Das junge Mädchen fühlt sich einsam auf der Burg, aber gerade das Alleinsein steigert ihre Neugierde und Unternehmenslust. Und so geschehen schon alsbald sehr seltsame Dinge: Jo beobachtet Tusnelda, wie diese den Knittelsteiner Burgring – eine goldene Schlange mit hohler Zunge – mit einer undefinierbaren roten Flüssigkeit füllt und Oskar Sievers, einen Bürger der Stadt Bresel, für das Erkunden der Stollen im Breselberg-Inneren engagiert. Jo selbst findet einen doppelseitig beschrifteten, nur zur Hälfte vorhandenen Zettel: die Komposition eines unbekannten Meisters auf der einen und so etwas wie ein Koordinatenmuster auf der anderen Seite. Das intelligente Mädchen findet heraus, dass das Durchstechen der Noten und das Verbinden der so entstandenen Punkte eine Art Karte ergibt: eine Darstellung des Knittelsteiner Labyrinths im Breselberg, welches durch einen Vorfahr der Knittelstein-Breselberger entstanden ist, der eine Rutsche vom Burgturm zum Rathaus bauen lassen wollte. Natürlich erkundet die mutige Jo eines schönen Tages das Labyrinth. Währenddessen geschehen aber auch in der Stadt Bresel interessante Dinge: Die drei Freunde Lisa, Jan und Freddie beobachten zufällig seltsame Geschäfte zwischen den Mönchen des Klosters Sankt Florian und Tusnelda, worauf sie sich keinen Reim machen können. Auch finden sie einen Zugang in den Breselberg. Und natürlich können sie der Versuchung nicht widerstehen. Die Erkundigungstour entpuppt sich jedoch als gefährlich, da die Kinder sich ausgerechnet einen Gewittertag ausgesucht haben. Aber letztlich endet die Tour höchst positiv: Denn Freddie, Lisa und Jan treffen im Inneren des Berges auf Jo, und alle gemeinsam finden den Weg zurück ans Tageslicht. Dass Jo nach diesem lebensgefährlichen Abenteuer als Retterin der anderen deren neue Freundin wird, ist da nur zu logisch. Neben all diesen Ereignissen stirbt urplötzlich Oskar Sievers – auf nicht sehr natürliche Art und Weise. Und er ist nicht der letzte, der stirbt. Er ist ebenfalls auch nicht der letzte, der mit dem Knittelsteiner Burgring in Berührung kommt. Dieser Ring ist doch tatsächlich mit einer aus giftigen Pilzen gewonnenen Flüssigkeit gefüllt und wird von der bösen Baronin Tusnelda sehr zielorientiert eingesetzt: Wer ihren auf Geldgier beruhenden Plan, das Innere des Breselbergs zur illegalen Müllentsorgung zu nutzen, durchkreuzt, wird beiseite geschafft. Zur Zielerreichung ist natürlich auch Teamwork ganz wichtig: Da auch vom Kloster Sankt Florian einige unterirdische Stollen erreichbar sind, beteiligen sich einige Mönche nur zu gern an den finsteren Machenschaften der Baronin. Aber mit den detektivischen Fähigkeiten der Kinder hat keiner der Kriminellen gerechnet, und so kehrt in Bresel bald wieder Ruhe ein. Das häufige Wechseln der Schauplätze und das Fehlen eines einzelnen Protagonisten kann den Leser die Lektüre manchmal als anstrengend empfinden lassen. In der gesamten Erzählung kommt es zudem auf Details an. Wer jede Kleinigkeit aufmerksam verfolgt, hat schnell mehr Ahnung und Wissen vom Geschehen als die einzelnen Stadtbewohner selbst. Vieles in der Geschichte basiert auf Zufällen, wofür detaillierte Darstellung und auch das stete Einführen neuer Charaktere notwendig erscheint. Einige der so entstehenden Randgeschichten rauben allerdings einen Teil der Spannung. Nichtsdestotrotz überzeugt der Roman aufgrund seines großartigen Plots und nicht zuletzt aufgrund des sehr kreativen Sprachgebrauchs, der zum Lachen reizt. In welcher Stadt heißt ein Mitarbeiter der Stadtreinigung schon Radolf Müller-Pfuhr? In diesem Punkt lockt Bresel – ob Stadt oder Buch – wirklich sehr. (Ab 12)
Die Rezensentin ist studierte Linguistin.
Von Trommlern, Zauberern und wilden Tieren
Von Markus Detterbeck und Almut Kirmse 6 afrikanische Märchen mit Liedern, Spielen, Tänzen zum Erzählen, Anhören und Darstellen Fächerverbindende Materialien zu Musik, Deutsch, Kunst und Sachunterricht - inklusive Audio-CD Helbling Verlag 2007 88 S., Euro 29,50 ISBN 983-385061-358-3
Bringt Afrika nah Von Melanie Grundmann
Ein neues Kinderbuch, das auch pädagogisch eingesetzt werden kann, erzählt von Afrika. Das kulturelle Erbe Afrikas wird traditionell mündlich, in Form von Geschichten und Liedern, tradiert. Die Geschichtenerzähler sind nicht nur Sprachrohr des Königs, sondern auch die Bibliothek des Volkes. Sie halten die Geschichte lebendig und geben sie weiter. Fixierte Geschichten gibt es kaum, stattdessen verändert sich jede Geschichte mit jedem Erzähler: Neues wird hinzugedichtet und die Geschichte an die Lebensumstände des Erzählers oder der Zuhörer angepasst. Musik und Tanz spielen eine wichtige Rolle im afrikanischen Geschichtenerzählen, denn sie markieren die emotionalen Höhepunkte. Oftmals werden die Zuhörer durch Tänze und Gesänge involviert und nehmen Einfluss auf den Verlauf der Geschichte. Markus Detterbeck und Almut Kirmse haben ein Buch konzipiert, das diese multimediale Form des Geschichtenerzählens erlebbar macht. Verschiedene Geschichten werden hier erzählt und mit pädagogischen Materialen angereichert. So eignet sich das Buch primär für den Einsatz an Schulen und Freizeiteinrichtungen, es kann aber auch innerhalb der Familie zum Einsatz kommen. Neben den Geschichten selbst, traditionelle Erzählungen, die die Autoren von ihren Afrika-Aufenthalten mitgebracht haben, finden sich verschiedene Ansätze, die die Kinder dazu animieren, selbst kreativ zu werden und eigene Geschichten zu entwickeln. Als Anreiz werden Lieder und Tänze angeführt. Die Texte der Lieder sind sowohl auf Deutsch als auch im Original mit Aussprachehilfen angegeben. Die Begleitung von Instrumenten wird ebenfalls dokumentiert und auch Bewegungsanleitungen (wie "auf die Oberschenkel patschen" oder "die Brust trommeln") sorgen für ein unterhaltsames Ausschöpfen des kreativen Potentials. Alle Lieder sind auf authentischen Instrumenten und mit Gesang, wie auch rein instrumental, auf einer CD versammelt, die dem Buch beiliegt. An jede Geschichte sind Aufgaben geknüpft, in denen die Kinder ihre Fantasie einfließen lassen können: Mal werden verschiedene Erzählformen geübt, dann Bilder gemalt, Collagen, Masken oder Bühnenbilder gestaltet oder Trommeln gebaut. Dazwischen streuen die Autoren immer wieder landeskundliche Informationen, die den Kindern die Kultur Afrikas näher bringen, so z.B. die Bedeutung von Masken aber auch Informationen über traditionelle Wohnformen, das Klima oder die Tiere Afrikas. Unterrichts- und Spielmaterialen finden sich ebenfalls zum Ausdruck auf der beigelegten CD. "Von Trommlern, Zauberern und wilden Tieren" bringt Kindern die afrikanische Kultur auf spannende und spielerisch-kreative Weise näher und überzeugt vor allem durch die abwechslungsreiche Kombination von Text, Musik, Tanz, Malerei und Spiel.
Unser Quartalsrat II / 2008:
Ellabad Mohieddin: Das Notizbuch des Zeichners
Nord-Süd Verlag 2008 30 S., Euro 13, 80 ISBN 978-3314015953
Und warum?
(librikon) Schon der Titel des Buches ist tragend, und er trägt: „Das Notizbuch des Zeichners“ ist kein Bilderbuch mit einer Geschichte. Hübsch erdacht mit Anfang und Ende – nein, hier hat ein Schrift-, Sprach- und Zeichenkünstler in all seiner ihm gegebenen Kreativität – und da ist Mohieddin Ellabad sehr bevorteilt worden – aus seiner Kindheit erzählt. Wie er wurde, was er ist! Ägypten und seiner reichen Kultur lässt sich so besser nachspüren als durch manch dickes Sachbuch. „Das Notizbuch des Zeichners“ endet nicht, auch für den Leser nicht. Etwas zum Immerimmerwiederlesen.
Despereaux: Von einem, der auszog das Fürchten zu verlernen
Von Kate DiCamillo dtv 2005 240 S., Euro 7,95 ISBN: 978-3423709538
Eine faszinierende Kombination unterschiedlicher Charaktere Von Susan Müller
Kate DiCamillo hat diese eigene, fabelhafte Art zu schreiben, die den Leser besonders einbezieht. Alles beginnt mit der kleinen schmächtigen Maus Desperaux und wird dann im weiteren Verlauf um andere Personen oder sagen wir: Lebewesen ergänzt, deren Namen ich aber nicht ständig erwähnen werde, weil ich sie für zu kompliziert halte, um sie im ständigen Gebrauch zu nutzen. Das Namenchaos allerdings tut der Lektüre keinen Abbruch, denn man behält durch die Beschreibung der einzelnen Charaktere immer den Anschluss - ganz ohne sich deren Namen zu merken. Unsere kleine Maus Desperaux kommt sehr winzig und schmächtig auf die Welt und wird auch schnell zum Außenseiter, weil sie sich völlig maus-untypisch verhält. Aber das Verständnis der Familie hört gänzlich auf, als herauskommt, dass sich das kleine Mäuschen in die oberen Schlossräume geschlichen hat und sogar zu Füßen des Königs saß! Es wird von den eigenen Leuten zum Tode verurteilt. Aber unser Mäuserich gibt nicht auf, denn er hat sich in die Prinzessin verliebt und sein Auftrag für sich selbst heißt, diese zu beschützen. Und das heißt erstmal, selbst zu überleben, was Despereaux selbstverständlich gelingt, sowie es unserer Autorin gelingt, uns dies spannend und echt zu beschreiben. Das setzt Kate diCamillo fort, denn für den Mäuserich geht es jetzt erst richtig los, er muss gegen die Ratten, die ekligen, großen, blutrünstigen Ratten, bestehen und sich das Wissen um deren Pläne zunutze machen. Die Spannung steigt, als das Königshaus eine neue Magd bekommt, die nicht sehr helle ist und nur von dem Wunsch beseelt, selbst Prinzessin zu werden. Diese, ich will es mal Dummheit nennen, ist zusammen mit der Hinterlist einer Ratte eine sehr gefährliche Paarung, und so kann die Ratte die Magd mit falschen Versprechungen für ihre eigenen finsteren Pläne gewinnen. Sie entführen die Prinzessin in das Verlies, aber sie haben die Rechnung ohne unseren tapferen Mäuserich gemacht. Im Königshaus ist man sehr traurig, als die Kunde umhergeht, dass die Prinzessin verschwunden ist. Trotz seines kleinen Wuchses gibt Desperaux nicht auf, denn „Liebe ist etwas Mächtiges, Wunderbares, Lächerliches und kann Berge versetzen.“ Genau dieser Glaube macht es möglich, dass es, einem Märchen ähnlich, dem Mäuserich gelingt, die Prinzessin zu retten und den König wieder einmal lächeln zu sehen. Ganz wie es unserem Helden gefällt und womit er sich immer wieder Mut gemacht hat: "…lebten sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage.“ Eine faszinierende Kombination der unterschiedlichen Charaktere, die uns Kate DiCamillo anschaulich miterleben lässt. Diese Lektüre mit schönen schwarz-weiß Zeichnungen, die den Leser nicht überfluten, lässt uns erleben, wozu Glaube, Hoffnung, Zuversicht und Stärke genauso wie Wut und Verzweiflung und vor allem die Liebe imstande sind. Es ist der Autorin hervorragend gelungen, uns als Außenstehende mitfiebern zu lassen. Und am Ende der Geschichte sind wir alle mit Despereaux und diCamillo erleichtert über ihren Ausgang. (Ab 8)
Die wundersame Reise des Edward Tulane
Von Kate DiCamillo dtv 2007 144 S., Euro 7,95 ISBN: 978-3423712781
Verschiedene Facetten der Liebe Von Susan Müller
Sein Name ist Edward, zumindest am Anfang dieses Buches, als er noch einem jungen Mädchen gehört. Er ist ein Porzellanhase, aber nicht irgendeiner, nein, er ist modisch gekleidet und besitzt sogar eine Taschenuhr, die ihm dazu dient zu wissen, wann es drei Uhr ist und seine Besitzerin nach Hause zurückkommt. Ja, sehen kann er alles, denn seine Augen sind aufgemalt und daher immer offen, er hört auch jedes Wort, nur sprechen kann er nicht. Er ist gern bei dem Mädchen, allerdings hört er manchmal nicht richtig zu, und so unterstellt ihm die Großmutter fehlende Liebe - das ist zwar nicht wahr, denn er liebt eben anders, aber damit nimmt seine Reise ihren Lauf. Auf einem Kreuzfahrtschiff geht Edward über Bord und muss lange Zeit im Schlamm des Meeresgrundes ausharren. Irgendwann kommt ein Sturm auf, der ihn aus seinem Schlammgefängnis herauswirbelt und erlöst. Ein Pärchen wird seine neue Familie, die ihn zu einer „Susanna“ macht und liebevoll behandelt. Bis die Tochter des Hauses ihn für überflüssig hält und auf der Müllhalte entsorgt! Wieder ist der Hase lange Zeit verschüttet, aber er entdeckt: Er kann Gefühle entwickeln, wie Sehnsucht und Traurigkeit. Rettung naht in Form eines Hundes, und ab sofort ist er Begleiter eines Landstreichers und seines Hundes. Er heißt nun Jangles und liebt das neue Leben, bis sein jetziger Besitzer und der Hund aufgegriffen und die drei voneinander getrennt werden. Eine alte Frau findet ihn diesmal und nutzt ihn zu seinem Entsetzen als Vogelscheuche. Seine Gefühle sind inzwischen derart ausgeprägt, dass er Hoffnungslosigkeit empfinden kann. So ist es ihm eigentlich egal, ob ihn der kleine Junge befreit, der dies verspricht. Dieser möchte seiner kranken Schwester eine Freude machen und nimmt Bryz, wie er ihn nun tauft, mit. Die Kranke hat große Freude an dem Hasen und dieser schließt das Mädchen sehr in sein Herz. Vielleicht ist das ja die Liebe, wenn man jemanden vermisst oder traurig ist, wenn der andere leidet, fragt er sich. Es passiert etwas sehr Trauriges (damit sollte man sein Kind beim Lesen nicht allein lassen), und der Junge nimmt den Hasen und nutzt dessen Schnüre, die noch von der alten Frau an ihm sind, um ihn tanzen zu lassen und damit sein Abendessen zu verdienen. Die ganze Situation eskaliert und des Hasens Kopf zerspringt nach einem „Flug“ in viele Teile. Das Aus…. Nein, es gibt einen Puppendoktor, der ihn zusammensetzt und danach zum Verkauf anbietet. Im Gespräch mit seiner Puppennachbarin im Regal lässt er sein Leben Revue passieren und stellt fest, Gefühle haben ihn seit der Kreuzfahrt begleitet und jetzt will er eigentlich nur seine Ruhe. Aber die Puppe neben ihm überzeugt ihn davon, dass auch er einiges Tages abgeholt wird. Der Kreis wird sich schließen. Seine Reise hat sich gelohnt, er gelangt ans Ziel. Die Großmutter hatte sich geirrt, er, Edward Tulane hatte Gefühle, nur hat er erst im Laufe der Zeit begonnen, sie zu spüren. Es spielte keine Rolle, ob Edward Susanna, Jangles oder Bryze war, seine Besitzer hatten ihn gern und als vollwertig akzeptiert. Er selbst hatte Freude in deren Leben gebracht. Edward war weit gereist, aber er wusste jetzt, was Liebe ist, und er war wieder zuhause angekommen. Kate DiCamillo hat eine ganz eigene, aber sehr einfühlsame Art, Gefühle und deren Auslöser in eine bildhafte Sprache zu bringen. Sie bedient sich sehr erfolgreich des Porzellanhasen, um die verschiedenen Facetten der Liebe zu beschreiben und des Trostes. Freundschaft, Liebe und die Intensität von Gefühlen; ein großes Thema für ein Kinderbuch, und wunderbar in eine schöne Geschichte gegossen. (Ab 8)
Von Brigitte Sidjanski Minedition 2008 24 S., Euro 12,50 ISBN: 978-38665660770
Das Unwiederbringliche des Lebens
(librikon) „Der Fluss“ ist ein perfektes Zusammengehen von Bild und Text. Eine Allegorie auf das Schicksal: Fünf Lärchenzapfen machen sich auf den Weg, die Welt zu erkunden – eine „Wasserreise“ auf dem Fluss des Lebens. Sofort werden die Leser in die Stimmung, die man für eine solche Geschichte braucht, versetzt. Trennungsschmerz keimt auf, als ein Zapfen nach dem anderen seiner Bestimmung entgegengeht und bleibt, während die anderen weiterziehen. Die bange Frage: Ist mein Weg der richtige für mich, soll ich bleiben oder noch weitersuchen? springt aus dem Buch heraus mitten ins Herz. Die Absolutheit des Lebens, das Unwiederbringliche lässt sich durch dieses Bilderbuch erspüren; eine Melancholie ergreift einen. Dabei schwingt die Hoffnung immer mit, und sie bestätigt sich am Ende durch den Kreislauf des Lebens. Die Illustratorin hat den Ton des Buches genau getroffen. Ganz weit weg von Wimmelbüchern, von spaßigen Details, tief verankert in der Aussage der Geschichte. Impressionistisch getüpfelt, kann das Auge auf schönen, milden Farben und auf dem zarten Licht des Himmels ruhen. (Ab 5)
Der salzige Kuss
Von Gerda van Erkel Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler Rowohlt 2008 333 S., Euro 8,95 ISBN: 978-3499214264
Voller Lebensfreude Von Bruno Knöpfli
Gerda van Erkel inszeniert in ihrem Roman „Der salzige Kuss“ eine Konfrontation von drei schwer kranken Kindern, welche mit einem Spitalaufenthalt über längere Zeit behandelt werden. Trotzdem die Auswirkungen der Erkrankungen sich äusserst verschieden manifestieren, ist die Auseinandersetzung mit der Umwelt sehr ähnlich. Eindrücklich wird dargestellt, wie wenig die Gesellschaft von den Leiden und den Nöten der betroffenen Kinder begreift. Umso mehr sind diese in der Lage aufeinander einzugehen, so dass über deren Verständnis eine tiefe Einsicht auch für den Leser entsteht. Obschon die Geschichte als Roman erscheint, widerspiegelt sie realistisch die Auseinandersetzung, welcher solche Patienten ausgesetzt sind. Die Autorin erzählt die Liebesgeschichte zwischen Nienke und Kobe. Beide sind siebzehn Jahre alt. Nienke leidet an der Erbkrankheit „Mukoviszidose“ (Cysische Fibrose); Kobe an krankhaftem Übergewicht (Adipositas = Obesitas). In der belgischen Rehabilitationsklinik De Haan treffen die beiden aufeinander. Kobe soll dort abnehmen; Nienke ihren Gesundheitszustand stabilisieren. Doch schon nach den ersten Kapiteln scheint klar zu sein, dass Nienke den Kampf gegen die Mukoviszidose verlieren wird. Aus drei Perspektiven beschreibt Gerda van Erkel das Leben in der Klinik: Nienke schildert in einem ernsten, für eine Siebzehnjährige sehr erwachsenen Ton ihre Hoffnungen und Ängste, und ihre Versuche, den Eltern und Kobe die Hoffnung auf eine Verbesserung ihres Zustandes nicht zu zerstören. Kobe erzählt von seiner Angst, Nienke zu verlieren, beschreibt aber auch in zärtlichem Ton die schönen Momente mit seiner ersten grossen Liebe. Ausserdem erfährt man bei ihm viel über die gesellschaftlichen Umstände, in denen eine Krankheit wie das schwere Übergewicht entstehen kann. Auch Steffi, ebenfalls an Übergewicht leidend und die dritte Erzählerin, bringt dem Leser dieses Krankheitsbild näher. Im Verlauf der Geschichte wachsen die drei Jugendlichen zusammen, Steffi und Kobe erleben erste Erfolge, aber auch Rückschläge im Kampf gegen die Kilos. Sie haben die Chance auf ein „normales“ Leben ohne Übergewicht und kämpfen dafür, dieses Ziel zu erreichen. Nienke dagegen wird immer schwächer und bereitet sich schliesslich innerlich darauf vor, ihre Freunde und ihre Eltern für immer verlassen zu müssen. Trotz dieses eigentlich traurigen Plots ist das Buch voller Lebensfreude. Nienke besitzt die Fähigkeit, sich an den kleinen Dingen des Lebens zu freuen und doch den Verlauf ihrer Krankheit realistisch zu beurteilen: „Um kämpfen zu können, darf man die Hoffnung nicht verlieren, das haben mir meine Eltern beigebracht. […] Aber wenn ich den Zug doch verpasse, woran ich lieber nicht denke, dann ist es schade um jeden Sonnenuntergang, den ich versäume, um jede Schwalbe, die ich nicht zurückkehren sehe, um jedes bisschen Kobe, das ich noch nicht kenne.“ (Nienke, S. 33) Die Fähigkeit, das Leben trotz einer schweren Krankheit zu geniessen, ist bei jungen, von Mukoviszidose betroffenen Menschen oft stark ausgeprägt. Die Autorin hat dies mit Nienkes Position dargestellt. Der Roman basiert auf äusserst guten Recherchen. Einige wenige medizinische Details (zum Beispiel Nienkes implantierter Venenkatheter) könnten mit demselben Aufwand besser beschrieben sein. Die Betreuer in De Haan werden im Buch mit Mami und Papi angesprochen. Dies mutet den Leser zu Beginn der Geschichte eher seltsam an, beschreibt aber gut das enge Verhältnis zwischen Betreuern und Patienten sowie die Rollen als Bezugspersonen auf Zeit. Eindrücklich wird von der Autorin vermittelt, was es bedeutet, nicht der Norm zu entsprechen. Übergewicht, welches von Nichtbetroffenen oft belächelt wird und Anlass für Spott bietet, wird als ernsthafte Krankheit beschrieben und vom Leser nach der Lektüre differenzierter betrachtet. Der tägliche und sehr belastende Kampf von Nienke gegen die Komplikationen der Cystischen Fibrose ist ein Stück Realität, von der der normale Bürger kaum etwas mitbekommt und sich meist auch nicht darum kümmert. Das Buch schafft Verständnis für Aspekte unserer Welt, welche in der Regel verdrängt werden und deshalb von Vorurteilen überschattete, falsch verstandene, bittere Realität sind, obschon sich die Schicksale mitten unter uns abspielen. Der Roman ist spannend, lässt sich leicht lesen und bietet viel Information. Die zarte Liebesgeschichte zwischen den beiden Jugendlichen ist berührend und will in einem Zug gelesen werden. Dass dabei einige wenige Stellen leicht kitschig anmuten, schadet dem Gesamteindruck nicht.
Die Rezension, an der Mitarbeiter und Patienten beteiligt waren, hat Dr. med. Bruno Knöpfli, Chefarzt und Direktor der Alpinen Kinderklinik Davos, angefertigt.
Die Welt ist voller Löcher
Von Claire Didier / Roland Garrigue Aus dem Französischen von Sophia Marzolff Oetinger 2007 96 S., Euro 16,90 ISBN: 978-3789184147
Ungewöhnliche Verknüpfung Von Patricia Lambertus
Lucio Fontana (Künstler,
1899-1968) schnitt reale Löcher in seine Leinwand. Dieses tat er nicht, um sein
Bild zu zerstören, sondern um etwas anderes im Bildraum zu finden, um diesen zu
erweitern. Durch einen schlichten formalen Zusammenhang erfahren hier die unterschiedlichsten Dingen eine ungewöhnliche Verknüpfung. Die formale Gemeinsamkeit besteht aus dem "Nichts", dem Loch, einem Hohlraum, der erst und nur durch seinen Umraum zu existieren beginnt. Dieses informative Buch bringt auf spielerische Weise das Alltägliche, das Wissenschaftliche, das Mystische und das Phantastische unter einem Aspekt zusammen und lässt den Lesern die Welt in einem anderen Licht erscheinen. Aber wie Fontana geben sich Didier und Garrigue nicht nur mit dem Beschreiben und Abbilden zufrieden. Sie legen Hand an und stanzen reale Löcher in ihr Buch. Sehr konsequent! (Ab 5)
Die Rezensentin ist freischaffende Künstlerin und lebt und arbeitet in Bremen. WorldWideWeb:patricia-lambertus.de
Der kleine Hund, der unbedingt ein Mädchen haben wollte
Von Sari Peltoniemi Aus dem Finnischen von Anu Stohner Nagel & Kimche 2008 96 S., 9,90.- ISBN: 978-3312009817
Sorgt für Gesprächsstoff
(librikon) Lenka ist kein kleines Mädchen. Lenka ist ein Hund. Sie möchte ein Mädchen haben, bettelt die Eltern an und schafft es: Sie bekommt ihr kleines Mädchen. Aber ach, es weint, lässt sich schwer erziehen und verschwindet dann auch noch. Wenn es nicht Lenka hätte! Ein Buch, dessen Existenz man anzweifeln müsste, wenn es nicht leibhaftig vor einem läge. Es verlehrt die Welt, na gut, das wäre überschaubar. Aber alles dreht und wendet sich in einer Tour, von Absatz zu Absatz findet man sich nicht zurecht: Wie ist das jetzt? Lebt jetzt wirklich das Mädchen mit in der Hundehütte? Oder ist es eigentlich Lenka, die bei dem Mädchen lebt? Ist Lenka ein vermenschlichter Hund oder ein verhundeter Mensch? Sie fühlt wie ein kleines Mädchen, wird aber um kleinen Hund, wenn’s darum geht, ihr Mädchen zu retten. Kaum mit Lenka identifiziert, schon wühlt sie in Essenresten nach Hühnerknochen (nicht für sich, für den Fuchs). Dazu noch ein paar Brüche in der Handlung: Was für ein Durcheinander! Bevor jetzt die Plattitüden kommen, das wäre typisch für die durchgeknallten finnischen Künstler, sagen wir es ganz nüchtern: „Der Hund, der ein kleines Mädchen haben wollte“ ist eine in jeder Hinsicht verdrehte Lektüre, die lustig und aufregend zugleich ist, schnell gelesen, aber nicht schnell vergessen. Führt richtig in Spielereien ein, wie sie nur der Literatur vorbehalten sind, sorgt richtig für literarisch bedeutsamen Gesprächsstoff. (Ab 7)
Der kleine Hase und die Planeten
Text und Bilder von Gergely Kiss Picus Verlag 2007 32 S., 12,90.- ISBN: 978-3854528937
Hier stimmt alles
(librikon) „Der kleine Hase und die Planeten“ kommt unscheinbar daher. Das All ist so dargestellt, dass auf den Wiedererkennungseffekt gesetzt wird. Der fuchsrote Hase ist niedlich und lieb, man schließt ihn ins Herz. So ist der Weg in das Bilderbuch hinein geebnet. Und dann lässt es sich an seiner unbemühten Geschichte, seinen Erstaunlichkeiten und seiner liebevollen Motivwahl erfreuen! Das Abenteuer vom Hasen, der erst allein und einsam, dann mit einem Marsmenschen zusammen in einer Rakete losfliegt und Planet für Planet erkundet, um endlich Freundschaft mit dem gekränkten (weil degradierten) Pluto zu schließen, hat den Charme einer plätschernd dahinerzählten Gute-Nacht-Geschichte, in der Phantasie und Friedlichkeit Kinderglück bereiten. Der kurze, dennoch durchkomponierte Text und die Bilder, die genau das richtige aufgreifen und ergänzen, ergeben ein von Künstlerhand geschaffenes Gesamtwerk. Hier stimmt alles. (Ab 3)
Ich kauf mir einen neuen Bruder
Text und Bilder von Marie Hübner Ravensburger 2008 32 S., 11,95.- ISBN: 978-3473323708
Etwas Ehrliches
(librikon) Dieses Buch packt mit dem aussagereichen Titel „Ich kauf mir einen Bruder“ ein beliebtes Bilderbuch-Thema an: Streit unter Geschwistern. Doch verrät es, dass Autorin und Illustratorin Marie Hübner um die Familienwirklichkeit und sie in Text und Bild auf andere, wahrhaftige Weise umzusetzen weiß: 26 Seiten lang behandelt es den Streit und seine Folgen, dann folgt eine Seite Vertragen – das alte, gute, beneidenswerte Spiel zwischen Geschwistern. Marie Hübner malt in zeitgemäßem Stil. Details und ihre Überzeichnung, die Proportionen und Farben hat man alles schon einmal gesehen. Und dann doch wieder nicht: Da ist etwas Neues dabei, etwas Ehrliches und Unniedliches, das „Ich kauf mir einen neuen Bruder“ besonders macht. Geschichte und Bilder stimmen überein, man spürt: Keine Auftragsarbeit. Die Figuren mit den geränderten Augen sind Markenzeichen einer Illustratorin, die noch nicht richtungsweisend ist, aber mit diesem Buch ein Werk auf dem Weg dorthin vorgelegt hat.
Auch die Bösen haben eine Seele
Text von Sophia Paraschou Deutsch von Maria Sabbas-Scouras Ant Verlag 2006, 128 S., 9,90.- ISBN: 978-3981098310
Herrlich humorvoll Von Berta Berger
Ich hatte das Buch noch nicht einmal aufgeschlagen, schaute der Buchrücken schon vielversprechend aus: Dort steht nämlich, um dieses Buch zu lesen, muss man einige bestimmte Märchen (früher oder auch erst kürzlich) gelesen haben, der Arzt darf einem weder das Lachen noch das Denken verboten haben und man muss Fantasie wie ein Flugzeug, Humor wie ein Schiff und ein Gehirn wie ein geöffneter Fallschirm haben. Ich überlegte, und kam zum Entschluss, die wichtigsten Kriterien zu erfüllen, um mich an das Lesevergnügen zu wagen. Und ein Vergnügen war es tatsächlich. Sophia Paraschou mischt bekannte Märchen, würzt das Ganze mit einer Prise Ironie und heraus kommt eine Märchenparodie, bei der man herzlich lachen kann und (fast) schon Mitleid mit den Märchenbösewichten bekommt. Aschenputtels Verwandtschaft, Schneewittchens Stiefmutter, die zwei Schwestern der Schönen (die das Biest geheiratet hat), Rumpelstilzchen, die Hexe aus „Hänsel und Gretel“ und viele mehr werden vom „Bösen Wolf“ zu einem Kongress geladen, bei dem endlich Schluss mit der Diskriminierung der Bösen in den Märchen sein soll, denn auch die Bösen haben eine Seele. Und so schlecht, wie alle tun, sind sie ja gar nicht. Bald muss sich der böse Wolf eingestehen, dass es gar nicht leicht ist, so viele Gäste (besonders von diesem Schlag) zufrieden zu stellen. Haarig wird es, als sich unter die Zuhörer auch die guten Märchenfiguren mischen. Damit die Situation nicht eskaliert und der Kongress doch noch zu einem Erfolg wird, benötigt der Gastgeber Wolf all sein diplomatisches Geschick. Schließlich erreicht er das schier Unmögliche: Die Märchenschreiber und Sammler wollen die Märchen umschreiben, es soll keine Bösewichte mehr geben und zum Schluss kommt es sogar zur Aussöhnung zwischen Guten und Bösen. Nur, ob dieses Ende wirklich für alle zufriedenstellend ist? Dem bösen Wolf kommen so seine Zweifel, doch da sitzt er schon mit Rotkäppchen und deren Großmutter in einer Kutsche unterwegs zu den Galapagos Inseln... „Auch die Bösen haben eine Seele“ ist ein herrlich humorvolles Buch mit witzigen schwarz-weiß Illustrationen, das eine gewisse „Märchenfestigkeit“ voraussetzt. Auf dem Buchrücken steht: Nicht nur kleine Leser, sondern auch große werden ihre Freude an diesem Buch haben. Meiner Meinung nach eignet sich das Buch nicht für jüngere Kinder. Gerade die fühlen sich noch zu sehr in der Märchenwelt verhaftet, und Satire überfordert sie. Ich würde das Lesealter ab zehn Jahre ansetzen, wenn nicht sogar etwas älter, dann aber ist das Buch eines, das bestimmt im Gedächtnis haften bleibt.
Die Rezensentin ist Autorin und Librikon-Märchenexpertin. Demnächst erscheint von ihr die Märchensammlung "Die Prinzessin, die von der Liebe nichts wissen wollte" (Autumnus Verlag).
Jenseits der Farben
Text von Thierry Benquey Deutsche Fassung von Anne Bartsch Bilder von Marisa Jacobi Tby-liber 2007, 32 S., 12,90.- (zzgl. 2 Euro Versandkosten) ISBN 978-3-00-021421-9 Nur über den Verlag bestellbar! Unter www. tby-liber.com
Großer Raum für eigene Imaginationen Von Marc Jacques Mächler
“Benjamin lächelt bei dem Gedanken, dass Gerüche und Geschmäcker Farben haben können.” Man kann sich nun fragen, wie das gehen soll: Gerüche, Geschmäcker und Farben. Aber zuerst der Reihe nach… Benjamin ist ein kleiner Junge, der ins Bett gehen soll. Als er im Badezimmer sich die Zähne putzt, entdeckt er im Spiegel einen Regenbogen und sogleich darauf einen anderen Jungen, der sich Lucien nennt und Benjamin auf die andere Seite des Spiegels einlädt. Auf der anderen Seite trifft Benjamin auf eine fantastische Welt, in welcher man sich die Dinge nur vorzustellen braucht, und schon erscheinen sie. Lucien will von Benjamin wissen, ob er weiß, wie Schwarz schmeckt. Er weiß es nicht und darum lässt Lucien einen verbrannten Toast erscheinen. So schmeckt also Schwarz… Und um die Frage, wie Schwarz riecht zu beantworten, erscheint ein Traktor, der schwarzen Rauch produziert. So riecht also Schwarz… Und so beginnen die beiden Freunde zu entdecken, welche Farben, welche Gerüche, Geschmäcker, Berührungen und Geräusche haben. Um Gelb anzufassen, spielen sie in einem Sandkasten mit warmem, gelbem Sand. Um die Berührung von Grün zu spüren, zaubern sie sich inmitten von Brennesseln, und um zu wissen, wie sich Weiß anfühlt, tollen sie sich im Schnee. Die Zitrone schmeckt gelb, die Milch weiß und die Erdbeere rot. Wie hört sich Rot an? Es erscheint ein rotes Feuerwehrauto, welches mit seiner Sirene auf einen Notfall hinweist. So hört sich Rot an… Es erscheint ein brennendes Haus und Benjamin wird sich bewusst, dass der kleine Junge im flammenerfüllten Zimmer Lucien ist. Hitze fühlt sich rot an… Nach einer Weile in der verzauberten Welt wird es für Benjamin Zeit, wieder zurück nach Hause zu gehen. Müde, aber glücklich springt er durch den Spiegel zurück ins Badezimmer, fest entschlossen, seinen neuen Freund bald wieder zu besuchen. Denn nur als Kind kann er dorthin gehen. Dieses Buch für Kinder ist gefüllt mit farbigen Wahrnehmungen und Bildern. Es zeigt sehr schön, dass gewisse Dinge, die auf den ersten Blick keinen Sinn haben, auf den zweiten sehr wohl funktionieren. Ein Frage wie „Wie schmeckt Grün?“ mag zuerst komisch erscheinen, man merkt aber sehr schnell, dass viele Antworten möglich sind. Denkt man nur an die verschiedenen Geschmäcker, die grüne Pflanzen produzieren und wir als Tee genießen können! Es gibt viel mehr als nur einen Geschmack von Grün. Das Buch lädt dazu ein, sich vermehrt diese Fragen zu stellen. Die beiden Kinder tollen unbekümmert in ihrer Zauberwelt und lassen sich von ihren Sinnen berauschen, ihre Wahrnehmungskanäle sind bewusst geöffnet. Ist es nicht so, dass wir Menschen im Alltag manchmal vergessen, zu erleben? Kinder sind noch viel freier, sich dem Augenblick hinzugeben. Für mich bietet “Jenseits der Farben” eine ideale Gelegenheit, Kindern den Weg zu zeigen, wie sie gewisse Dinge erfahren könnten. Und auch wir Großen können daran wachsen. In diesem Buch wechselt der Schauplatz oft, und mit viel Liebe sind die Details der Wahrnehmungen, die Lucien und Benjamin erleben, beschrieben. Manchmal erscheint mir die Geschichte schon fast ein wenig psychodelisch, was einen großen Raum für eigene Imaginationen bietet. Vielleicht wird dem einen oder anderen beim Ausdruck “Gerüche von Farben” automatisch das Wort Synästhesie in den Sinn kommen. Synästhesie bedeutet: Zusammen wahrnehmen. In der Tat findet dieser Ausdruck in vielen verschiedenen Bereichen seine Anwendung: In der Architektur wie auch in der graphischen Gestaltung ist das “Zusammenwahrnehmen” der verschiedene Sinne sehr wichtig. Ebenso war Synästhesie ein wichtiges Stilmittel in der Romantik. Allgemein kann man der künstlerischen Verarbeitung der verschmolzenen Sinnen große Bedeutung geben. Sogar, wenn man am Computer Musik hört und dazu Farben und Formen produziert werden, kann man dieses Wort verwenden. Für die Neuropsychologie ist die genuine Synästhesie von großem Interesse. Genuin bedeutet soviel wie “echt” oder angeboren. In diesem Fall handelt es sich um Personen, die automatisch zu verschiedenen Sinnen andere Sinne aktivieren. Darum sehen Synästhetiker, wenn sie Musik hören, Formen und Farben, die sie nicht abschalten können - im Gegensatz zu den Synästhesien in “Jenseits der Farben”, welche alle freiwillig und bewusst erfolgen. Im Buch ist die Frage “Wie schmeckt oder riecht eine Farbe?” von Bedeutung. In der genuinen Synästhesie fragt man sich eher: Welche Farbe hat ein Geruch oder ein Geschmack? Für einen Synästhetiker ist der Geschmack einer Erdbeere nicht unbedingt rot. Denn in der “echten” Synästhesie macht der Geschmack die Farbe, unabhängig von der Farbe der Geschmacksquelle. Dies nur zur Unterscheidung. “Jenseits der Farben” ist voll von farbigen Synästhesien, und ich persönlich kann das Kinderbuch absolut empfehlen. Für Kinder und Erwachsene. Egal, ob ohne oder mit genuiner Synästhesie. Der Rezensent ist Experte für Synästhesie und betreibt die Webseite www.synaesthesie.ch Bitte beachten Sie auch das Interview „Welche Farbe hat das A?” Der Zugang zur synästhetischen Wahrnehmungswelt kommt nicht ganz automatisch" mit Marc Jacques Mächler in der Rubrik „Eine Frage der Kultur“
Unser Quartalsrat I/2008:
Susan Fletcher: Das Alphabet der Träume
Hanser 2007 384 S., 17,90.- ISBN 9783446209015
Und warum? (librikon) Für junge Mädchen ist der Schmöker „Alphabet der Träume“ ein Buch nicht nur zum Einmallesen. Die Autorin Susan Fletcher trifft den Ton bei allen Themen rund ums Erwachsenwerden. Was bei anderen peinlich oder geschmacklos ist, behält bei ihr seinen ganz eigenen Zauber. Es ist besonders schön, dass sie ihre Geschichte nicht in einer Fantasywelt spielen lässt, sondern auf die Magie einer früheren Zeit vertraut. Das „Alphabet der Träume“ versetzt uns in den Kosmos um Jesu Geburt und in den Kulturraum des persischen Reichs. Die Geschichte ist an die drei Könige aus der Bibel angelehnt. Natürlich, man merkt an der Perspektive und am Quizartigen Wissen schon, dass Fletcher Amerikanerin ist, auch werden die moralischen Maßstäbe mit der heutigen Zeit gemessen. „Alphabet der Träume“ ist ein Roman, der für Heranwachsende eine Geschichte um einen historischen Stoff erzählt und dabei die Gefühle und Gedanken der Leser trotz sensibler Themen geschmacklich sicher durch die Romanfiguren transportiert. Aufgehoben fühlt man sich in diesem Buch, das alle Klippen seines Genres jugendliterarisch elegant umschifft.
Das Buch wird im nächsten (kostenlos zu abonnierenden) Librikon-Leseletter rezensiert.
Der Papagei im Ofen
Text von Victor Martinez Übersetzt von Adelheid Zöfel dtv 2007, 204 S., 7,95.- ISBN-13: 978-3423623117
Authentisches vom untersten Ende der Gesellschaft Von Andreas Drouve
Autor Victor Martinez war ein mexikanisches Emigrantenkind im "Gelobten Land" USA, wo der alte Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Mythos oft damit endet, dass man Tellerwäscher bleibt. Unter elf Geschwistern wuchs Martinez in Fresno, Kalifornien, auf. Erfahrungen aus seinem eigenen Weg zum Erwachsen-Werden hat er in diesem Jugendbuch verarbeitet, das sich für LeserInnen ab 14 Jahre eignet. Aus der Sicht des 14jährigen Manuel legt er Zeugnis vom Schicksal einer Einwandererfamilie aus Mexiko ab, die sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlägt. Mit Maisbrei und zerbrochenen Träumen, mit Gelegenheitsjobs und Rassenkonflikten, mit Minderwertigkeitskomplexen und Klassendenken. In den sozialen Tiefen dümpeln die "Wetbacks", "diese illegalen mexikanischen Einwanderer", wie Manuels älterer Bruder einmal erklärt, die auf den Chilifeldern in einem solchen Akkord pflücken "als ging's um Leben und Tod". Illegal sind Manuel und seine Familie nicht im Land und dürfen sich am untersten Ende der Gesellschaft zumindest als etwas Besseres fühlen. Manchen geht es eben noch schlechter. Konflikte mit dem Gesetz stehen allenfalls zu befürchten, wenn der alkoholkranke Vater einen seiner cholerischen Anfälle bekommt. "Spannend vom Anfang bis zum Ende", geht es in dem Buch nicht zu, wie der Rückumschlag verheißt. Die Prädikate "authentisch", "ungeschminkt" und "lakonisch" treffen den Erzählton am besten, obgleich der Ernst der Sache mitunter ein wenig zu salopp daherkommt. Schließlich ist es keine leichte Kost, die hier episodenhaft aufgetischt wird: wenn die Schwester zuhause abtreibt oder der alkoholisierte Vater mit der Flinte Jagd auf die Mutter machen will. Der Buchtitel weist auf ein mexikanisches Sprichwort, das von einem Papagei erzählt, der glaubt, im Schatten zu sitzen und sich über die Hitze beklagt, während er tatsächlich im Ofen hockt. Treffender ist der komplette Originaltitel des Werks: "Parrot in the oven - mi vida". Und dieses "mi vida", dieses ganze Buch, stimmt nachdenklich. Es gibt exemplarisch Einblick in das Leben von Emigranten, ihren Alltag, ihre Sorgen, ihre Nöte; laut Verlagsangaben sollen sich heute sieben Millionen Mexikaner legal und 2,5 Millionen illegal in den USA aufhalten. Das Leben in der Ferne, bleibt festzuhalten, ist ein einziger Überlebenskampf, eine einzige Ungewissheit. In "Der Papagei im Ofen" geht es manchmal melancholisch zu, doch seine Hoffnung verliert Manuel bis zum Schluss nicht. Dass man den Ausbruch aus dem Elend und vorbestimmten Bahnen schaffen kann, hat Autor Martinez bewiesen. Er hat an der California State und an der Stanford University studiert und mit dem vorliegenden Buch den "National Award for Young People's Literature" gewonnen. Nicht verloren hat er - wie auch Protagonist Manuel - die tiefinnerste Verbundenheit zu Mexiko.
Der Rezensent ist Buchautor und Journalist mit Schwerpunkt Spanien und Lateinamerika.
Sinan und Felix
Text von Aygen-Sibel Celik Bilder von Barbara Korthues Betz-Verlag 2007 32 S., 12, 95.- ISBN: 978-3219112610
Die Hürde nehmen Von Aylin Yavuz
Das Thema Integration, Ein- und Auswanderung ist leider immer noch besetzt von Grenzen, entsprechend groß ist der Bedarf an Entstellung.
Das Kinderbuch „Felix und Sinan“ bricht solch eine Grenze. Begleitet von schönen
Illustrationen, geht es um eine wunderbare Geschichte über Freundschaft, Sprache
und Verstehen. Am Ende stellen die Freunde und auch die Leserinnen und Leser fest, dass es gar nicht so schwierig ist, sich mit der anderen Seite zu beschäftigen, und dass es sogar Spaß macht. Das wichtigste ist, das Felix erkennt, dass er sich auf seinen besten Freund verlassen kann. So zeigt das Kinderbuch „Sinan und Felix“, dass Integration auch auf beiden Seiten funktionieren kann und von Kindern gar nicht als Problem, sondern als spielerische und kreative Auseinandersetzung mit der Umwelt gesehen wird.
Die Rezensentin ist Illustratorin von Kinderbüchern und eine der Verlegerinnen des Yavuz-Verlages.
Frieda und ihre Brüder
Text von Beate Kirchhof
Picus Verlag
2007
Das gute Gefühl Von Susan Müller
Frieda ist gerade sieben geworden, und während sie sich am Morgen ins elterliche Bett kuschelt, lässt sie sich wie an jedem Geburtstag die Geschichte ihrer Geburt erzählen - von der Oma Hati sagt, es wäre eine schwierige Geburt gewesen und Frieda deshalb jetzt ja auch ein schwieriges Kind. Doch Friedas Papa sagt, das sei nicht weiter schlimm, denn er hat schwierige Kinder besonders lieb und entschuldigt Friedas Wutausbrüche, denn sie sei ja nicht böse, sondern hätte es eben als Zwischenkind nicht leicht, zwischen dem großen Lenni und dem kleinen wilden Prünchen, der gern mal durch die Mutter bevorzugt wird. Aber das gehört zu Familie dazu, genauso wie ein gesunder Lenni beim familiären Magen-Darm-Virus auch Zwieback essen muss, reine Vorsichtsmaßnahme der Mutter. Familie ist ehrlich und echt und so fühlt sie sich in diesem Buch auch an. Nervt der kleine Bruder Frieda auch ab und zu gehörig, so lässt sie ihn doch nicht allein schlafen, dafür hat sie ihn zu lieb. Und wenn Lenni, der Große, mal wieder von Albträumen gequält wird, übernimmt sie liebevoll die Beschützerrolle, indem sie in diesen Nächten bei ihm bleibt. Zu Friedas Leben gehören auch ihre Freunde Justus und Marie, mit denen sie einiges erlebt. Als sie nämlich neue Nachbarn bekommen, die Franzosen sind, ist eins klar: Der Froschteich im Garten von Justus´ und Maries Eltern muss bewacht und die kleinen Tierchen beschützt werden, weiß doch schließlich jeder, dass man in Frankreich gern Froschschenkel isst. Leider ist so eine Nachtwache nicht einfach und die Müdigkeit nicht zu beherrschen. Aber was nun, als am Morgen kein Frosch mehr zu sehen oder hören ist? Haben Frieda und ihre Brüder und Freunde versagt? Werden die Froschschenkel am Abend zum Grillfest angeboten, zu dem sie eingeladen sind? Vielleicht in der ekligen grünen Soße? Friedas Mama ist die Frage ihrer Kinder peinlich, der französische Nachbar lacht und irgendwann fangen die Frösche wieder an zu quaken. Leider bleibt die Frage, weshalb die Frösche zwischendurch verschwunden waren, für die Kinder ungeklärt. „Frieda und ihre Brüder“ berührt in unserer hektischen Welt, die zu wenig Zeit lässt für Familie. Es tut gut über Zusammenhalt und Gemeinsamkeiten und auch Unstimmigkeiten, wie sie in jeder Familie vorkommen, zu lesen. Familie, die echt ist, in guten wie in schlechten Zeiten. Die gemeinsam im Bett kuschelt und zusammen den Magen-Darm-Virus bekämpft. Die Episoden in diesem Buch erzählen einfühlsam über die Zuneigung und Liebe Friedas gegenüber ihrer Familie und den Eltern und Geschwistern untereinander. „Da steigt noch einmal eine Rakete auf und ich flüstere schnell: “Ich wünsche mir, dass nichts aufhört und immer alles wie jetzt ist.“ Man kann also viel von Beate Kirchhof erwarten und täuscht sich damit nicht. Aber stilistische Unglücklichkeiten trüben den Gesamteindruck doch. Warum nur brechen die Kapitel so abrupt ab? Wurde da doch nicht gewissenhaft durchkomponiert und nicht jede Geschichte für sich als kleines Kunstwerk erarbeitet? Die Unterstellung, dass auf der Suche nach Pointen, die Erwachsene schmunzeln lässt, alles erzählt war, dass die Kapitel enden dürfen, ohne auf den kindlichen Wunsch nach Abrundung Rücksicht zu nehmen – soll eine Unterstellung bleiben. Ein Buch, leichten Auges zu lesen, aus dem Leben und nicht dem Pädagogik-Labor. Das gute Gefühl bleibt, dass es nicht nur bei der eigenen Familie so zugeht wie in Friedas Familie und daher so schlimm auch nicht sein kann.
Die Rezensentin ist Mitarbeiterin der Librikon-Redaktion.
Das Tier in der Nacht
Text von Uri Orlev Bilder von Amelie Glienke Beltz & Gelberg 2007 108 S., € 9,90 ISBN-13: 9783407799227
Krise mit Tier Von Tordis Schuster
Viele Kinder kennen das Problem: Solange es hell im Zimmer ist, Mama oder Papa im Zimmer sind, ist alles in Ordnung. Doch wenn das Licht aus ist und man allein im Bett liegt, dann wird es lebendig, das Tier, das unterm Bett wohnt. Das Kind in Uri Orlevs Buch hat allerdings beschlossen, sich nicht mehr von dem Monster in seinem Zimmer terrorisieren zu lassen und fasst kurzentschlossen einen Plan: es zähmt das Tier. Im Laufe der Zeit werden die beide sogar Freunde. Diese ist eine Mut-Mach-Geschichte über Angst und die Überwindung der Angst, über Verlust und die Geborgenheit der Familie. Die zentrale Idee des Buches, dass Freundschaft über Furcht siegen kann, ist nicht schwer moralisch anmutend aufgedrückt. Nein, man findet sie zwischen den Zeilen. Das Schöne an Uri Orlevs Buch ist, dass er darin nicht nur eine originale Kinderrealität mit all ihren Wünschen und Ängsten eingefangen hat - das Kind philosophiert z.B. hinreißend über Gott und die Welt - man erfährt auch etwas über das Leben der Juden und Araber in Israel und dessen Einfluss auf den Alltag des Kindes. Kein Wunder, denn der Autor lebt seit 1945 in Israel. So muss der kleine Junge den Tod seines Vaters verarbeiten. Zum Glück kann das Tier dabei helfen, denn es kann durch die Welten gehen und Nachrichten überbringen. Es stört kaum, dass es sich bei dem kleinen Protagonisten um ein scheinbar perfektes Kind handelt, welches sich selbst ernst nimmt, kreativ ist, wissbegierig und zielstrebig nach Lösungen für seine Probleme sucht. Denn zwar folgt das Tier meistens brav dem Kind, mehr noch, es wird sein Freund, sein Schutzengel. Doch natürlich geht dabei auch nicht alles glatt, ein paar Mal kommt es auch zum Streit. Trotz aller Probleme ist sich das Kind am Schluss aber sicher: es würde sein Tier nie hergeben. Nur wenn es einmal einen Sohn bekommen sollte der sich wie er im Dunkeln fürchtet, dann will es ihm das Tier mal ausleihen. Denn so ein Tier sollte schließlich jeder haben.
Die Rezensentin ist Kinderbuchautorin und Dozentin für "Kreatives Schreiben Kinderbuch" an der Universität Hildesheim.
Wie die Prinzessin zur Erbse kam
Text von Mirjam Gille Illustrationen von Aylin Yavuz Gillvuz Verlag 2007, 19,95.- ISBN: 978-3-940434-00-5
Erfrischend anders von Berta Berger
„Wie die Prinzessin zur Erbse kam“ ist ein erfrischend anderes Bilderbuch. Die Geschichte erzählt von einer Prinzessin ohne Krone, dafür mit Turnschuhen, die „Erbsenmalerin“ werden will. Freilich hat sie die Rechnung ohne ihren Vater gemacht, der der Ansicht ist, Prinzessinnen sollten etwas „Schickes“ tun. Gott sei Dank trifft die Prinzessin einen Mops, der gerade für ein Windhundrennen trainiert. Das findet sie nun ebenso ungewöhnlich, wie er ihren Berufswunsch. Der Mops verliert das Rennen und gewinnt dabei doch – und die Prinzessin lädt zum Schluss doch noch zur Ausstellung ihrer Erbsenbilder. Der Text regt gleichermaßen zum Schmunzeln wie auch zum Nachdenken an, die Illustrationen heben sich von der Masse der gängigen Bilderbücher ab. Da verzeiht man gerne ein paar kleine Fehlerchen, die sich eingeschlichen haben. Ein Buch, das motiviert, das scheinbar Unmögliche zu versuchen, weil man nur gewinnen kann. Ein Buch, das animiert, zu träumen, weil Träume wahr werden können.
Die Rezensentin ist Autorin und Librikon-Märchenexpertin. Demnächst erscheint von ihr die Märchensammlung "Die Prinzessin, die von der Liebe nichts wissen wollte" (Autumnus Verlag).
Pepitschko
Text von Dagmar Pohland Illustrationen von Leonard Erlbruch Coppenrath 2007, 11,95.- ISBN-13: 9783815778890
Schöne Geheimnisse aus alten Zeiten Von Tamara Bučková
Es duftet nach Weihnachten. Und wonach duftet Weihnachten? Nach Weihnachtsgebäck, Weihnachtspunsch oder Weihnachtstanne. In den Büchern duftet Weihnachten nach geheimnisvollen Geschichten. Festliche Stimmung kann die Zeit anhalten und trotz allen heftigen Vorbereitungen lädt sie zum Erzählen ein. So ist es auch in dem kleinen Buch „Pepitschko“ der jungen Autorin Dagmar Pohland. „Das Glück kommt zu denen, die es erwarten. Nur müssen sie die Tür auch offenhalten“. Mit diesem Zitat von Thomas Mann und mit der Legende über das goldene Schweinchen, das nur am Heiligen Abend erscheint und Glück bringt, führt die Autorin ihre Erinnerungen an die Großmutter ein. Diese Erinnerungen verwandelt sie in Omas Erzählung über ihre Kindheit, über Weihnachten in der Nachkriegszeit in Prag und über Pepitschko, den Weihnachtskarpfen aus dem Prager Fluss Moldau. Karpfen ist in Tschechien ein typisches Weihnachtsgericht und wird auf den Märkten kurz vor dem heiligen Abend verkauft. Meistens wird er vom Fischhändler lebendig nach Hause gebracht. Sehr oft bekommt er einen Namen, wird zum „festen“ Bestandteil der Familie und das alles geht mit dem Karpfenessen selbstverständlich nicht zusammen. So ist es auch in Omas Familie geschehen. Mit Pepitschko haben die Kinder gespielt, Pepitschko sollte die Hauptattraktion im Zirkus sein, mit Pepitschko wollen die Kinder das Geld für die Familie verdienen! Was meint Papa davon, der den Karpfen töten soll? Dem Pepitschko wird am Heiligen Abend die Freiheit geschenkt. Und am Moldauufer sind mehrere Familien mit mehreren Kindern. Mehrere Karpfen dürfen das Leben wieder genießen. Und der Papa sieht das erste Mal das goldene Schweinchen, das allen ganz sicher Glück bringt. Es ist doch Weihnachten… Alle Zeiten haben ihre Rituale. Zu Weihnachten gehört Großmutters Erzählen über Pepitschko. Jedes Jahr ist die Geschichte ein bisschen anders. Vielleicht deswegen, weil die Oma schon alt ist und sich nicht genau erinnern kann, wie es damals mit Pepitschko wirklich war, vielleicht macht das die Weihnachtsstimmung…. Und genau das, was immer neu und anders ist, macht die Geschichte schön. Pepitschkos Geschichte bleibt auch für nächstes Weihnachten geheimnisvoll, und ungelöst bleibt auch das Geheimnis des goldenen Schweinchens… „Pepitschko“ ist ein dünnes Buch mit schöner Ausstattung, das schon vom Aussehen nach eine „Omageschichte“ verspricht. Die Authentizität des Erzählens aus Prag betonen tschechischen Namen (Großmutter ist in der Sprache der Autorin mit dem tschechischen Wort Babička bezeichnet, die Kinder heißen Jiri und Ondrej, Mama ist Božena, Papa Pavel). Authentisch sehen auch die schönen farbigen Bilder von Leonard Erlbruch aus, die im Buch reichlich zu finden sind. Das Papier wechselt die Farben, weiße Farbe ist nur für die Geschichte bestimmt, gelbliche Töne bilden den Hintergrund der Illustrationen, auf einigen gelblich gefärbten Seiten finden wir den Text und die Illustration. In alter Handschrift sind die Kapitelüberschriften angeführt. Das witzige Buch ergänzen schöne Minimedaillons der beiden Künstler – der Schriftstellerin und des Illustrators. Den Lesern stehen sowohl eine schöne Geschichte, als auch wichtige Informationen zur Verfügung. Und wen meinen wir, wenn wir über die Leser sprechen? Das Buch „Pepitschko – Das Geheimnis des Weihnachtskarpfens“ ist für nicht nur für die kleinen Leser bestimmt, sondern für alle, die Weihnachten und Weihnachtsgeschichten aus alten Zeiten lieben!
Die Rezensentin ist Germanistin und Bohemistin in Prag.
Wandas geheime Notizen
Text: Dagmar Geisler dtv 2007 128 S., 19 Euro ISBN-13: 9783423707657 Ab 8
Liebevoll in Zwickmühlen: Familie, Hund und Pferd von Susan Müller
Gerade erst ist die Familie Meier mit ihrem Hund Wuschelmeier weggezogen, schon schwant Wanda nichts Gutes, als sie sieht, dass ausgerechnet der Langweiler und Streber Fabian Schilling ins Nachbarhaus einzieht. Mit Freundin Katti schmiedet sie einen Plan, der die Schillings schleunigst wieder „vertreiben“ soll, den sie auch phantasievoll umsetzen. Ihre Mutter freundet sich währenddessen aber mit Frau Schilling an, so dass auch Wanda Fabian nicht immer aus dem Weg gehen kann. Katti verbringt viel Zeit mit ihrem Hobby, den Pferden, und so lernt Wanda Fabian näher kennen und er teilt mit ihr sein Geheimnis. Wanda kann ihn jetzt besser verstehen, was Katti nicht verborgen bleibt und das stellt die Freundschaft der beiden Mädchen auf die Probe... Ein liebevoll geschriebenes Tagebuch einer Schülerin und ihrer Nöte, die mit Zwickmühlen verbunden sind, in die man geraten kann, und wie sich zum Schluss alles auf- und erklärt und aus anfänglicher Ablehnung Freundschaft wird.
Die Rezensentin ist Mitarbeiterin der Librikon-Redaktion.
Was wirklich in Kinderköpfchen ist "Das ist kein Karton!"
Antoinette Portis: Das ist kein Karton! Hanser 2007 36 S., 12,90.- ISBN-13: 978-3-446-20909-1 Ab 3
(librikon) Der längste von den zwölf Sätzen in dem Bilderbuch „Das ist kein Karton!“ hat acht Worte. Und das, obwohl den bornierten Erwachsenen so viel erklärt werden muss! „Warum sitzt du in einem Karton?“ „Das ist kein Karton.“ Der Hase im, auf, neben dem Karton denkt, es ist gar kein Karton, aber es ist ein Karton. Oder doch nicht? Natürlich ist es kein Karton – es ist ein Auto, ein Berg, ein brennendes Haus, ein Roboter, ein Piratenschiff und noch vieles, was in Kinderköpfen alles mehr ist als in blinden Erwachsenenaugen. Buntes Gewimmel hat diese Sicht auf Phantasie nicht nötig: So sparsam die Sätze, so klar die Bilder. „Das ist kein Karton!“ wird überdauern. Es gehört in jeden Haushalt mit Kindern, Karton und Köpfchen.
Tag der Wunder
Text von Lutz Rathenow Bilder von Frank Ruprecht edition buntehunde 2007 26 S., 17,80.- ISBN 978-3-934941-28-1
Wie liebe Riesen schrumpfen und Drachen Regenbögen zaubern lassen Von Christina Schorpp
Es gibt Bilderbücher, die machen es einem leicht. Man öffnet sie und schon hat man sein Herz an knuddelige Eisbären, schillernde Fische oder pastellfarbene Hasen verschenkt. „Tag der Wunder“ ist nicht so ein Buch. Man schlägt es auf: kräftige, erdige Farben. Eigenwillig gezeichnete Gestalten. Keine Liebe auf den ersten Blick. Und der Text schafft noch mehr Distanz. Wie aus der Ferne beobachtet, wird hier über das Geschehen berichtet. Kein Kind wird sich mit den verschrobenen Helden der Geschichte identifizieren. Erwachsene allerdings werden so manch eigene unschöne Eigenschaft in den Figuren widergespiegelt sehen. Warum also überhaupt einen Blick in dieses Buch werfen? Es klingt wundersam, aber dieses Buch kann trotzdem bezaubern, wenn auch nicht jeden. Erzählt wird von einem Ritter, einem Riesen, einem Drachen und einem Indianer - alle gleichermaßen unglücklich. Sie vollführen einen Tanz, bei dem jedem nur schwindlig werden kann. Aber die Erlösung naht schon in Gestalt eines Mädchens mit Luftballons in den Haaren namens Alice. Der ehemals verfolgte DDR-Poet Lutz Rathenow hat ein Märchen geschrieben über die Magie eines unbeschwerten Kusses, über die Liebe, die Schutzpanzer überflüssig macht und Vergangenes vergessen lässt. Leben kann leichtfüßiges Schweben sein, so die schöne schlichte Botschaft. Auch die surrealen Bilder des Künstlers Frank Ruprecht sollte man ruhig eingehender betrachten: Es gibt für Groß und Klein komische und liebevoll verspielte Details zu entdecken – gezeichnet wie mit einem Schmunzeln.
Die Rezensentin ist Literaturkritikerin mit Schwerpunkt Kinderbuch.
Der Flug der Flamingos
Illustrationen: Barbara Haiduck Text: Regina Jooß Verlag Sankt Michaelsbund 2007 24 S., 17,80.- ISBN 978-3-939905-02-8 Ab 5
Ein besonderes Lese- und Betrachtungsvergnügen Von Andrea Miske
Beim Betrachten der liebevoll gestalteten Illustrationen und Lesen des Textes fällt sofort auf, dass das Buch in ein Land zwischen Phantasie und Realität entführt. In das Reich der Phantasie verweist bereits der erste Satz „Vor langer Zeit lebten einmal Flamingos in einem Land zwischen Wasser und Himmel“. Denn selbstverständlich ist der Lebensraum der langbeinigen, schlanken Vögel mit dem rosa oder roten Gefieder genau bekannt. Die verschiedenen Arten leben in Kolonien von bis zu hunderttausend Tieren an flachen, weiten Salzseen in den Tropen und Subtropen. Die Realität wird repräsentiert durch die liebevoll ausgeführten, naturgetreuen Illustrationen, die die Vögel, ihre Lebensweise und ihren Lebensraum darstellen. Der Betrachter sieht Flamingo-Kolonien und die besondere Körperform, -haltung und –Gefiederfärbung der Vögel. Darüber hinaus erhält er Einblick in die besondere Ernährungsart: Flamingos seihen mit ihrem gebogenen Schnabel das Wasser durch auf der Suche nach Algen, kleinen Fischen und vor allem Salzkrebschen. Diese kleinen Krebse bilden ihre Hauptnahrung; mit ihnen nehmen sie die Farbstoffe auf, die ihre schöne Rot- und Rosafärbung bedingen. Naturgetreu dargestellt sind auch der Nestbau und Brutpflege: Einen 30-40 cm hohen oben abgeflachten Schlammkegel krönt jeweils ein Ei. Die jungen Flamingos sind grau gefiedert, tollpatschig und lustig anzusehen wie die meisten Jungtiere. Der sparsame Text fährt so märchenhaft und poetisch fort, wie es der einleitende Satz erwarten ließ. So kamen die Flamingos jedes Jahr an den Fuß des Gebirges, um hier ihre Nester zu bauen und ihre Jungen großzuziehen. Das Gebirge war einerseits ein Segen für sie, da es vor kalten Winden schützte. Andererseits fürchteten sie es, weil manchmal abends Schatten erschienen, die erst beim Morgenlicht wieder verschwanden. Ohne die Bedeutung der Schatten zu kennen, vermuteten die alten Flamingos, dass schreckliche Geschichten mit ihnen zusammenhingen und schützten ihre Jungen, sobald die Schatten auftauchten. Bisher hatte auch jede neue Generation den Schutz der Alttiere gesucht; nicht so die neue Generation. Die Jungtiere zeigten keine Angst, sondern liefen sogar auf die Schatten zu, statt sie zu fliehen. Eindringliche Warnungen der Eltern nutzten nichts. Und nicht nur das: Sie sprachen sich ab und als auch das letzte Jungtier flügge war, flogen sie gemeinsam über die Gebirgskette in ein neues, unbekanntes Land. Die Geschichte zeigt in Form einer Parabel, wie junge Menschen bisherige, überlieferte Denk- und Lebensweisen hinter sich lassen können. Sie macht Mut, diesen Versuch zu wagen und weist auch hin auf die unterstützende Wirkung von Solidarität. Die neue Lebensform ist nicht angstbesetzt, sondern drückt eher die Lust am Abenteuer aus. In dieser Form lässt sich die Aussage erweitern auf alle eingefahrenen, angstbesetzten Situationen und sprengt somit den Rahmen der ursprünglichen Zielgruppe: Jeder wird angesprochen. Neben der optimistischen Aussage sorgt auch die Form für ein besonderes Lese- und Betrachtungsvergnügen: Die Zusammenführung einer märchenhaften Erzählung mit einer liebevoll gestalteten, detailgetreuen Illustration schafft ein reizvolles Spannungsfeld.
Die Rezensentin ist Diplom-Biologin und Autorin von Sach- und Kinderbüchern.
Unser Quartalsrat IV/2007:
Hanne und Klaus Hagerup: Zirkus Tornado oder Wie Ingebrigt das Fürchten verlernen sollte
Nagel und Kimche 2007 176 S., 14,90.- ISBN 3-312-00977-4 ISBN 978-3-312-00977-0
Und warum? (librikon) Jedes Kapitel von „Zirkus Tornado oder Wie Ingebrigt das Fürchten verlernen sollte“ ist ein neues literarisches Abenteuer. Durchdacht, geschickt konstruiert, dennoch voller freier Phantasie, stilistisch ein Wunder an Stimmigkeit (Übersetzung aus dem Norwegischen: Gabriele Haefs), mitten aus der Gegenwart, dennoch voller schöner erzählerischer Traditionen – mit diesem Kinderbuch (auch schon ab 6) erobert ein bereicherndes Kunststück unsere Lesewelt. (Falls Sie das noch nicht überzeugt, fordern Sie eine ausführlichere Rezension an! Machen wir gern für dieses Buch und Sie! info@librikon.de)
Der Weissenhof liegt im Wallistal
Autoren: Die Weissenhofer Verlag das Wunderhorn 2007 48 S., 15,80.- ISBN: 978-3-88423-284-2 Ab 10
Wunderbare Initiative: Die Weissenhofer Von Tobias Lange
Von aussen ein unscheinbares Büchlein und hinter dem Titel ein Künstlerbuch, das angenehm und lässig daherkommt. Eine Geschichte dreier Brüder aus dem Wallis, die zu Künstlern wurden, mit durchgehend farbigen gemalten Bildern rechts. Eine wunderbare Initiative, Künstlerbücher für Kinder zu machen. Hinten schließlich ein Nachwort, in dem das ganze noch einmal erklärt wird, eigentlich auch eine Erklärung wie Leute zum Kunstschaffen – von Künstlerbuch bis Performance – kommen. Kleine Leser haben das bestimmt schon während des Durchblätterns gemerkt, große Leser benötigen manchmal Hilfe, weil sie durch ihren Alltag so abgerückt sind.Ein schönes empfehlenswertes Büchlein, es wäre noch schöner, wenn die Verleger beim Typographen für Titel und Nachwort um Hilfe gebeten hätten.
Der Rezensent ist Chefredakteur von www.kuenstlerbuecher.de
Ayda, Bär und Hase
Autor: Navid Kermani Illustrationen von Karsten Teich, Picus 2006 155 S., 12,90.- ISBN 3-85452-886-8 Ab 5
Zusammenleben! Von Nasrin Siege
Ayda, Bär und Hase von Navid Kermani handelt von Einsamkeit, Trauer, Liebe, Glück und Freundschaft. Ayda ist einsam und hat keine richtigen Freunde. So macht sie sich auf die Suche und findet in dem großen Bären und dem kleinen Hasen Freunde, mit denen sie sich und die Welt entdeckt. Der kleine Hase ist älter als sie und der Bär. Der riesenhafte Bär ist dagegen der Jüngste von ihnen. Ayda beobachtet bei Hase und Bär die gleiche Traurigkeit und den gleichen Ärger, den sie empfindet, wenn Lisa und Paul sie Knirps nennen. Dann hat Ayda immer geweint. Bär und Hase streiten sich manchmal. Sie beschimpfen sich gegenseitig mit „Monsterbär“ und „Winzling“. Ayda weiß aus eigener Erfahrung, wie sehr das weh tut und nun passiert etwas Entscheidendes: Sie reagiert und vermittelt zwischen ihren Freunden. Durch die Freundschaft mit Bär und Hase wächst Aydas Selbstvertrauen, das sie wieder zurück gibt an ihre Freunde. Wozu sind Freunde denn sonst da? Ayda, Bär und Hase ist keine traurige Geschichte, auch wenn sie zunächst von der Einsamkeit Aydas handelt. Navid Kermani erzählt lustig-nachdenklich, heiter und oftmals mit einem schalkhaften Ton. Er erzählt vom Zusammenleben mit den Nachbarn, die, so wie Ayda, zum Teil aus anderen Ländern stammen und vom Leben in Köln, wo Ayda und ihre Eltern schon längst eine Heimat gefunden haben. Bâbâs Liebe zum 1. FC Köln ist für sie so wichtig, wie der persische Honig für den Bären und die rheinischen Rüben für den Hasen. Nebenbei lernt der Leser ein paar persische Worte und gewinnt mit ihnen auch einen kleinen Einblick in die andere Kultur. Ayda vermißt ihre „große Großfamilie“, denn ihre persischen Verwandten leben im Iran und Amerika. Nur einmal im Jahr – in Spanien – treffen sie sich alle. Mit den Familien von Bär und Hase findet Ayda am Ende ihre ganz spezielle Großfamilie – in Deutschland. Wobei ein leerer Stuhl in der Mitte des Großfamilienfotos für die persichen Verwandten und nicht zu vergessen, dem adoptierten Esel in Spanien, reserviert bleibt … Dschâye schomâ châliye Navid Kermanis Buch ist nicht nur ein hervorragendes Buch zum Vorlesen für Kinder. Es ist auch ein Buch zum Nachlesen für Erwachsene. Es ist ein zärtliches Buch. Es handelt von Toleranz, vom gegenseitigen Respekt, dem Zusammenleben und der Erkenntnis, dass es völlig egal ist, ob man ein Perser, Deutscher, Türke, Bär oder Hase ist! Die Rezensentin ist im Iran geboren, hat lange in Deutschland gelebt und ist seit Jahren in Afrika in der Entwicklungshilfe tätig. Bitte beachten Sie auch ihren Artikel in der Rubrik "Nachbarskinder" Nasrin Siege hat zahlreiche Kinderbücher geschrieben.
Kristina Dunker dtv 2007 224 S., 6,95.-
ISBN
978-3-423-71231-6
Und warum? (librikon) Keine Chance, Zehnjährige in der Zeit anzusprechen, in der sie „Hochspannung, hier wohnt Leo“ lesen. Das Abenteuer um Leo, der das Zechengelände, auf dem er aufwächst, auch nicht verlassen will, als die Abrissbirnen kommen, ist mitreißend. Gerechtigkeitssinn, Freundschaft, Scham, ein wenig Eifersucht, all das schwingt mit. Kristina Dunker gelingt es, diese Gefühle in der Form, in der 10- bis 13-Jährige sie empfinden, darzustellen und sich in sie hineinzufühlen. Auf bewundernswerte Weise! „Hochspannung, hier wohnt Leo“ ist sogar eine Investition vom eigenen Taschengeld wert.
Der Zauberstrand
Text
und Bilder: Crockett Johnson
68 S., 14,90.-
Ab 5
Der Zauberstrand, der unter einem Zauber stand Von Tomislav Filip Pejić
„Mir ist langweilig. Zu Hause könnte ich jetzt eine spannende Rezension lesen.“ – „Es macht aber mehr Spaß, selber etwas zu schreiben, als darüber zu lesen.“ Die Protagonisten in Crockett Johnsons Der Zauberstrand sind Ann und Ben, zwei Kinder, die am Strand auf der Suche nach Muscheln sind. Eintönigkeit macht sich aber schnell breit. „Ich hätte nichts dagegen, in einer Geschichte aufzutreten. (...) Weil Menschen in einer Geschichte nicht den ganzen Tag nach einer blöden Muschel suchen. In Geschichten ist immer was los!“ Hier wird in Tieckscher Manier die Produktionsbedingung von Kunst im Kunstwerk selber reflektiert. Auf der anderen Seite ist es aber auch eine Aufforderung: „Wir möchten etwas erleben!“ Doch beim kleinen Jungen kommen Zweifel auf: „In Geschichten passiert doch überhaupt nichts“, und antiklimaktisch weiter „Geschichten bestehen aus Wörtern. Und Wörter aus Buchstaben. Und Buchstaben sind nichts anderes als Zeichen.“ – de Saussure lässt grüßen. So beginnen die beiden, Wörter in den Sand zu schreiben, denn Zeichen sind Geschichten. „Marmelade“ ist das erste „Zeichen“. Das Wasser, das in einer kleinen Welle über den Sand rollt, löscht das Wort. Zur Verwunderung der Kinder steht dafür an gleicher Stelle eine silberne Schale voller Marmelade. Aus dem Signifikanten wird ein Signifikat. Ein echt „strukturalistischer“ Zauberstrand! Darauf werden andere Zeichen in den Sand geschrieben. Marmelade ohne Brot macht wenig Sinn, so befindet sich im nächsten Augenblick auch schon ein goldener Brotkorb neben Ann und Ben. Milch, Süßigkeiten, ein Baum, der Schatten wirft, bis hin zu einem König, der angelt (!), Wäldern, Städten, Bauernhöfen und Schlössern – alles wird hervorgezaubert. „Die meisten Geschichten gehen gut aus“, meint Ann. Auch Johnsons wundervolle Geschichte Der Zauberstrand findet ihr Ende, nur ist es dem Leser selbst überlassen, ob er Ann hier konkret Recht geben kann.[1] Johnsons Sprache ist sehr prägnant und kraftvoll, dank minimalistischer Technik weiß er dazu die Handlung sehr flüßig zu gestalten. Auch die dazugehörigen Illustrationen sind nicht nur Striche – gerade die Skizzen geben dem Buch seinen unvergleichlichen Charme. Johnsons Art, die Vermischung zwischen Realem und Fiktivem ins Schwanken zu bringen, gehört ebenfalls zu den Stärken des an sich schon wundervollen Kinderbuchs, welches auch dem erwachsenen Leserpublikum schwerstens zu empfehlen ist. Es ist bezeichnend, dass zwischen allen Zeichen, die die beiden Kinder in den Sand schreiben, „Muscheln“ – der eigentliche Grund, warum die beiden am Strand sind – nicht vorkommt. Der Wunsch, „in einer Geschichte aufzutreten“, wäre dann nicht in Erfüllung gegangen. Crockett Johnson hat mit diesem Kinderbuch, welches unter dem Titel Castle in the Sand 1965 veröffentlicht wurde, gezeigt, dass er seiner Zeit voraus war, denn gerade heutzutage (nicht nur in der deutschen Prosa) ist man wieder bemüht, Geschichten zu erzählen. „Die Rezension hat überhaupt kein richtiges Ende. Sie hat einfach aufgehört.“ Ann, wie war das nochmal? [1]Eine deutliche Aufforderung, das Buch dringendst in die Hand zu nehmen.
Der Rezensent hat in Ljubljana Germanistik studiert.
Unser Quartalsrat II/2007:
Heidrun Boddin: Herr Gackermeier
Verlag Sankt Michaelsbund 2007 32 S., 9,90.- ISBN:978-3-920821-95-5 Ab 3
Und warum? (librikon) Herr Gackermeier dringt mit unüberhörbarem Getöse ins Familienleben ein. Er selber kräht in dem Bilderbuch zwar gar nicht mehr laut und gar nicht mehr pünktlich und vergisst die Uhrzeiten, stattdessen aber lernen die Kinder sie, durch Familie Gackermeiers Erlebnis zur Silvesternacht und durch die Verse, die eingängig und schön sind. Zu allem Überfluss sind auch noch die Bilder wunderschön! Das handliche Buch gehört zu einer richtig tickenden Familie dazu, keine Frage, und wir werden nicht umhin können, „Herr Gackermeier“ in einigen Jahrzehnten in die Rubrik „Evergreens“ aufzunehmen. (siehe auch „Leserfragen“, Nr. 18)
Brüder
Ab 8 Brüder Autor: Bart Moeyaert Hanser 2007 166 S., 14,90.- ISBN-10: 3446207902 ISBN-13: 978-3446207905
Eindrucksvolle Schlichtheit Von David Schmidhofer
„Sie fragten mich, was los sei, und sahen aus, als hofften sie, dass viel los war“ (S. 8). Diese Worte sind kennzeichnend für die Kindheit, die Bart Moeyaert zusammen mit seinen sechs Brüdern in Westflandern verbringt. In dem großen Haus am Rande der Stadt Brügge lernen die lebhaften und neugierigen Kinder die Welt kennen. So wenig die ländliche Umgebung (das „Klein, Still und Wenig“, S. 28) an spektakulären Einflüssen auch bieten mag, die Kinder machen sich ihr eigenes Spektakel. Die sieben Brüder verbringen ihre Kindheit in enger Gemeinschaft, eigentlich beinahe in synchroner Eintracht. Sie teilen sich ein Zimmer, schlafen jeweils zu zweit in einem Bett und erleben gemeinsam ihre Abenteuer. Zusammen bilden die Brüder ein Ganzes, weshalb der Autor auch auf Namen verzichtet. Stattdessen verwendet Moeyaert Ausdrücke wie „mein einer Bruder“ und „mein anderer Bruder“. Entscheidend ist nämlich, dass sie Brüder sind. Und was das für Moeyaert bedeutet, schildert er in eindrucksvoller Schlichtheit. Ein Bruder ist jemand, der einfach da ist und mit dem man Freud und Leid teilt – nichts Außergewöhnliches und doch auch nichts, worauf man verzichten möchte. Und so sind auch die kleinen Abenteuer des Ältesten, des Stillsten, des Echtesten, des Fernsten, des Liebsten, des Schnellsten und des Ich-Erzählers schlicht und dennoch einmalig. Sie basteln sich aus ausgehöhlten Kastanien sieben Pfeifen, um etwas „dazuzulernen“, sie schleichen sich nachts aus dem Haus und sie träumen von Fahrrädern und großen Erfindungen. Sie entgehen „nur knapp“ dem Ertrinken, versenken ein Boot und rächen sich am Nachbarn, indem sie sich in seinem Schwimmbad erleichtern. Doch nicht alles gelingt den abenteuerlustigen Lausbuben. Ihr Versuch, „gemeine Kerle“ zu werden, scheitert kläglich, ebenso wie ihr „Überfall“ auf den Bäcker, um einen Kuchen zu stehlen. Nicht immer ist die Wirklichkeit so einfach, wie sich das die Kinder vorstellen. Nicht immer ist sie aber auch so kompliziert, wie die Älteren sie machen. Und so ist es oft der Jüngste, der sich Gedanken über Dinge macht, die die älteren Brüder als selbstverständlich ansehen, der Dinge in Frage stellt, die ihm einfach nicht in den Kopf wollen. Dann wird ihm von seinen Brüdern erklärt, „dass er jung ist, sehr jung, viel zu jung eigentlich“. Moeyaert gelingt es hervorragend, eine klare und kindergerechte Sprache mit starker literarischer Ausdruckskraft zu verbinden. Ein Unwetter wird nicht nur in allen möglichen kindlichen Farben geschildert, sondern erhält eine mystische Dimension. Da „grummelt es zwischen den Wolken, als hätten sie eine Kehle“, der Himmel „flucht“ und letztendlich donnern „ganze Chöre von Engeln [...] eine Treppe herunter“ (S. 43). Die unendliche Kraft der Natur – ein Thema, das in der flämischen Literatur Tradition hat. In Sätzen wie „Die Welt war flüssig und verweht“ (S. 42) fügen sich künstlerischer Realismus und eine kindliche Vorstellungswelt nahtlos aneinander. Genau darum ist Bart Moeyaerts „Brüder“ nicht nur ein spannendes Kinderbuch, sondern hat es auch dem (vor)lesenden Erwachsenen viel zu bieten. Die Übersetzung ins Deutsche stammt von der renommierten Literaturübersetzerin Mirjam Pressler und liest sich sehr authentisch – so authentisch, dass dem geübten Leser auch sofort auffällt, dass der Nachsatz offensichtlich von einer anderen Person übersetzt worden ist. „Brüder“ ist auch als CD erhältlich.
Der Rezensent hat niederländische Philologie studiert und arbeitet als freier Übersetzer.
Christian Tielmann: Der schlechteste Ritter der Welt
Dudenverlag 2007 48 S., 7,95.-
ISBN-10:
3-411-70798-4
Und warum? (librikon) Weil sich dieses Buch zwar hinter einer Leseförderungsreihe zu ducken versucht, wir ihm aber die Tarnkappe entreißen konnten: „Der schlechteste Ritter der Welt“ könnte auch allein in den Kampf ziehen. Die Sprache ist sicher wie eine Rüstung, die literarischen Motive sind treffend und wohlgesetzt wie der Hieb eines Ritterschlags, und sehr lustig wie bei einer Tafelrunde geht es auch noch zu!
Sati Springinsfeld
Autorin: Mareile Ahrndt Mit Illustrationen von Haakon Auster Autumnus Verlag 2005 119 S., 12.90.- ISBN-10: 3-938531-02-9 ISBN-13: 978-3938531020 Ab 8
Ein schönes Märchen Von Georg Siebert
Sati liegt im Gras, als Mons mit seinem Ruderboot in Nöte gerät. Als sie ihm mit einem beherzten Sprung zu Hilfe eilt, springt sie direkt ins Abenteuer: Denn Lomen, der böse Herr des Wasserschlosses, will das Haus ihrer Großmutter haben... Das Buch ist in der Reihe „Autumnus Kinder“ erschienen, leider bleibt der Verlag eine Angabe schuldig, für welche Altersgruppe das Buch gedacht ist. Von Schreibweise, Aufmachung und Handlung her dürfte sich das Buch jedoch an etwa Acht- bis Zehnjährige richten. Die Geschichte ist geradlinig erzählt, ohne verzwickte Seitenstränge, die ein Kind überfordern würden und die doch so oft in „Kinderbüchern“ für Verwirrung sorgen. Ein schönes Märchen, das Lust auf mehr macht.
Der Rezensent ist Autor und Betreiber des "Literaturforums Österreich". Er lebt und arbeitet in Wien.
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