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Librikon gratuliert: Christine Nöstlinger wird 75 Jahre! Von Ada Bieber
Man stelle sich einmal vor, Christine Nöstlinger hätte Ende der 1960er Jahre nicht damit begonnen, Erzählungen im Schulheft der Tochter zu verfassen! Die neue Kinder- und Jugendliteratur der 1970er und 1980er Jahre wäre um eine ihrer wichtigsten Vertreterinnen gebracht worden und hätte wohl kaum jenes problemorientierte und kritische Potential entfalten können, das sie auch dank der österreichischen Autorin hatte. Und ihre zahlreichen Leser hätten niemals von der feuerroten Frederike, vom unausstehlichen Gurkenkönig, vom kleinen Franz, vom Konservenkind Konrad, von Gretchen Sackmeier oder von all den anderen Figuren lesen können, die mit ihren Geschichten das Werk Christine Nöstlingers so einzigartig machen. Das Werk ist so groß und so vielgestaltig, dass man schnell den Überblick verlieren könnte: Nöstlinger hat nicht nur realistische und phantastische Literatur für junge Leser geschrieben, sondern auch für Erwachsene! Sie hat nicht nur Bilderbücher, Erzählungen und Romane geschrieben, sondern auch Lyrik, Rundfunk- und Fernsehbeiträge verfasst! Sie hat nicht nur Kinder in ihrer familiären und gesellschaftlichen Umwelt thematisiert, sondern stets auch an die Wirkung von Kinderliteratur geglaubt! Dass Literatur für Kinder auch den Zweck verfolge, Mut zu machen und Hoffnung zu geben, hat die Autorin in ihrer Rede zur Verleihung der Hans-Christian-Andersen-Medaille deutlich gemacht. So fördern ihre Geschichten das kritische Denken heranwachsender Leser und befähigen diese, die oft problembeladene Wirklichkeit besser zu bewältigen. Ihre Mut und Mündigkeit hervorbringende Literatur verfasst Nöstlinger seit jeher in dem ihr eigenen „Nöstlinger-Sound“, wie das ihr Verleger Hans-Joachim Gelberg nennt, der nicht ohne Austriazismen und satirische Züge auskommt. Und das ist auch gut so, denn diese Sprach- und Erzählbesonderheiten sind es, die die Werke Nöstlingers ebenso persönlich wie authentisch machen und sie zu Dauerbrennern werden lassen! Geboren wurde Nöstlinger 1936 in Wien. Dort wuchs sie in einem Arbeiterviertel der Stadt auf. Nach der Matura hatte sie die Möglichkeit, Gebrauchsgraphik zu studieren. Sie heiratete, bekam zwei Töchter und fing irgendwann mit dem Schreiben an. Damit war sie so erfolgreich, dass sie mit 47 Jahren bereits mehr als 50 Bücher, 20 Fernsehspiele sowie unzählige Hörfunksendungen und Zeitungsartikel verfasst hatte. Dieser Erfolg hat bis heute nicht nachgelassen, was sich auch an unzähligen Preisen ablesen lässt. Bereits 1984 bekam sie die Hans-Christian-Andersen-Medaille, den wichtigsten internationalen Preis für Kinderliteratur. 2003 wurde sie mit dem Astrid-Lindgren-Memorial-Award geehrt und im November 2011 mit dem Ehrenpreis des diesjährigen internationalen Buchpreises "Corine". Diese Ehrung beweist, dass Nöstlinger noch immer aktuell, produktiv und mit ihrer literarischen Forderung nach kritischem Denken notwendig ist. Ihre Aktualität zeigen übrigens auch die zahlreichen lieferbaren Bücher aus den Verlagen Friedrich Oetinger, Beltz & Gelberg, dtv junior, Ueberreuter, Jumbo, Sauerländer oder auch aus dem Residenz Verlag. Viele dieser Verlage bringen pünktlich zum Geburtstag der Star-Autorin Sonderausgaben heraus. Während der Oetinger Verlag alle Geschichten vom Franz in einer wunderbaren, von Erhard Dietl illustrierten Geburtstagsausgabe herausbringt, erscheint „Wir pfeifen auf den Gurkenkönig“ als Gulliver Buch bei Beltz & Gelberg. Dieser witzig und treffend von Jutta Bauer illustrierte Jubiläumsband ist sogar mit einer CD ausgestattet, die von Stefan Kaminski wunderbar gelesene Auszüge aus dem Hörbuch enthält. Dieses Buch über den herrschsüchtigen Gurkenkönig, der es schafft, in kürzester Zeit die Familieprobleme seiner Gastfamilie zum Ausbruch zu bringen, ist ebenso aktuell wie all die Geschichten und Gedichte, die Beltz & Gelberg im großen „Nöstlinger Lesebuch“ versammelt. Diese Sammlung ist nicht nur ein großartiger Querschnitt durch das Werk der Autorin, sondern besticht auch durch die Illustrationen von Verena Ballhaus, Jutta Bauer, R. S. Berner, Wolf Erlbruch oder Janosch. Alle im Lesebuch enthaltenen Geschichten und Gedichte sind größtenteils bereits in Anthologien veröffentlicht worden oder stellen Auszüge aus Romanen dar. Das Lesebuch enthält darüber hinaus ganze Bilderbücher, wie beispielsweise „Anna und die Wut“, „Der schwarze Mann und der Hund“ oder die hinreißende Geschichte „Einer“. Diese von Janosch bebilderte Geschichte von einem Reisenden, der am Ende gleichermaßen seine Freiheit und seine Geborgenheit findet, ist ein Meisterstück der Erzählkunst für junge Leser. Die 35 Geschichten des Lesebuchs seien aufgrund ihrer Auswahl und der Lesebuchausstattung allen Nöstlinger-Fans und Nöstlinger-Entdeckern an dieser Stelle wärmstens empfohlen! Und der österreichische Residenz Verlag macht vor allem mit einem neuen Nöstlinger-Titel auf sich aufmerksam: Dem herrlichen Lyrikband „Achtung, Kinder!“, der von Heide Stöllinger illustriert wurde. Unbestritten gibt es weitere lohnende Titel, die unbedingt gelesen werden sollten. Denn Christine Nöstlinger ist nicht nur jene Autorin, die den Paradigmenwechsel der Kinder- und Jugendliteratur zu Beginn der 1970er aktiv mitgestaltete, sondern darüber hinaus eine wichtige Autorin der Gegenwart, von der man sich auf keinen Fall vorstellen mag, sie hätte das Schreiben nicht angefangen oder würde gar aufhören zu schreiben ....
Wer Lust bekommen hat, wieder einmal den „Nöstlinger-Sound“ zu erleben, dem sei folgende Auswahl ans Herz gelegt:
Christine Nöstlinger: Das große Nöstlinger Lesebuch. Geschichten für Kinder. Mit vielen Bildern. Beltz & Gelberg 2011 287 Seiten, € 14,95 ISBN 978-3-407-79996-8.
Christine Nöstlinger: Wir pfeifen auf den Gurkenkönig. Wolfgang Hogelmann erzählt die Wahrheit, ohne auf die Deutschlehrergliederung zu verzichten. Mit farbigen Bildern von Jutta Bauer Mit CD, gelesen von Stefan Kaminski Beltz & Gelberg 2011 183 Seiten, € 12,95 ISBN 978-3-407-74254-4.
Christine Nöstlinger: Der ganze Franz. Alle Franz-Geschichten in einem Band Mit Illustrationen von Erhard Dietl Oetinger 2011 512 Seiten, € 19,95 ISBN 978-3-7891-4335-9.
Christine Nöstlinger: Achtung, Kinder! Gedichte Mit Illustrationen von Heide Stöllinger Residenz Verlag 2011 64 Seiten, € 16,90 ISBN 978-3-7017-2095-8.
Ada Bieber ist gelernte Verlagskauffrau und hat in Flensburg Deutsch, Kunst und Friesisch studiert. 2011 hat sie mit einer Dissertation über den Kinder- und Jugendbuchschriftsteller James Krüss an der Universität Kassel promoviert.
Eine einsame Insel als friedlicher Kinderstaat inmitten eines Kriegsmeeres Mira Lobe: "Insu-Pu. Die Insel der verlorenen Kinder" von Ada Bieber
Mira Lobe erzählt in "Insel-Pu" die Geschichte von Kinder-Robinsonen, die während ihrer Fahrt über den Ozean mit einem Kindertransportschiff havarieren und mit ihrem Rettungsboot an eine einsame Insel getrieben werden, und sie ist nicht bloß eine Variante des Robinsonstoffes. Sie ist auch eine Utopie und ein Lehrstück über ein friedvolles und demokratisches Leben trotz einer Gesellschaft, die sich im Krieg befindet. In Insu-Pu wird eine Gruppe von Kindern aus dem vom Krieg betroffenen Land Urbien vom Enkel des Präsidenten von Terranien in dieses friedvolle Land eingeladen, nachdem zwei Jungen aus Urbien an den Präsidenten von Terranien einen Brief mit der Bitte um Aufnahme geschickt haben. Während der Überfahrt sinkt jedoch eines der Kindertransportschiffe und eines der Rettungsboote treibt unbemerkt ab. In diesem Boot befinden sich ausgerechnet die Brüder Stefan und Thomas, die den Bittbrief an den terranischen Präsidenten schrieben, sowie weitere neun Kinder, die einen Querschnitt durch die Gesellschaft darstellen. Unter ihnen sind Arbeiterkinder, eine Adelige, ein Zirkuskind, ein junger Musiker, aber auch ein potentieller Störenfried, der im Laufe der Handlung die Gemeinschaft zu gefährden droht. Zu Führerfiguren auf der Insel werden Jungen wie Stefan und Oliver, die sich durch hohes Verantwortungsgefühl, Pflichtbewusstsein und Geschick auszeichnen und die diese Eigenschaften in demokratischer Weise an die anderen Kinder weitergeben können. Zumeist in einvernehmlicher Weise erarbeiten sich die Kinder in der klassischen Vorgehensweise Robinsons ein Inselzuhause. Ähnlich wie Robinson, verfügen auch die Kinder von Beginn an über nützliche Werkzeuge. Und wie in einer klassischen Robinsonade finden auch sie auf der gastlichen Insel ausreichend Nahrung, zähmbare Tiere und schützendes Gelände. Die Kinder haben sich jedoch nicht gegen vermeintliche Kannibalen zu wehren, sondern müssen vielmehr innerhalb ihrer Gruppe lernen, zu einer demokratischen Gemeinschaft zu werden, in der jedes Mitglied zu seinem Recht und zu einer gesellschaftsrelevanten Aufgabe kommt. Dieser Entwicklungsprozess wird anhand zahlreicher einfühlsamer und abenteuerlicher Ereignisse erzählt, sodass das Werden und Gelingen des Kinderstaates für jeden Leser spannend und nachvollziehbar wird. Während die Kinder des Kinderstaates ganz mit diesen Anforderungen beschäftigt sind, setzt Michael, der Enkel des Präsidenten, in Terranien alles daran, die verschwundenen Kinder zu retten. Seine schlussendlich erfolgreichen Bemühungen wachsen sich zu enormen Abenteuern aus und verdichten die Grundaussage des Buches, die lautet: Kinder verfügen über mehr Mut, Klarsicht und Gerechtigkeitssinn als die meisten Erwachsenen. Mira Lobe, eine der bekanntesten Kinderbuchautorinnen Österreichs, veröffentlichte diesen Klassiker erstmals auf Hebräisch 1948 in Tel Aviv. 1936 war sie aus Berlin nach Palästina geflohen und begann dort, für Kinder zu schreiben. Der Krieg und seine Folgen blieben nicht ohne Folge auf ihre Texte. Dies wird insbesondere in Insu-Pu deutlich, denn in der ersten Fassung von 1948 spielt die Handlung nicht in jenen seit der deutschen Fassung von 1951 verwendeten fiktiven Staaten Urbien und Terranien, welche die allgemeingültige Anwendung der Antikriegs- und Utopieaussagen der Textes hervorheben sollen, sondern in Großbritannien und Amerika. Claudia Lobe, die Tochter der Autorin, erklärt in einem Nachwort: In der ersten Fassung von Insu-Pu, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Israel erschien, trugen alle Kinder deshalb auch englische Namen, sie lebten nicht in Urbien, sondern in Großbritannien, sie wurden nicht nach Terranien, sondern nach Amerika eingeladen [...]. Doch sind es letztlich nicht die symbolischen oder historisch-realistischen Namensverwendungen, sondern es ist die Geschichte selbst, die in klassischer Art und Weise die literarische Insel für eine Auseinandersetzung mit Kriegsauswirkungen und einem gesellschaftlichen Gegenmodell nutzt. Dass dieses Gegenmodell ausgerechnet von Kindern erfolgreich umgesetzt wird, hebt den moralischen wie zukunftsorientierten Anspruch des Textes hervor. Die Figuren, deren Abenteuer und der ungetrübte Erfolg des Kinderstaates stehen ganz im Zeichen der Entstehungszeit des Textes. Auch wenn heute vermutlich eine höhere Komplexität in Kinder- und Jugendliteratur erwartet würde, so besticht dieser Text doch gerade durch seine Klarheit und die utopischen Gedankenexperimente der Zeit. Darin und in seiner Anlage korrespondiert dieser Text Lisa Tetzners 5. Band der Kinderodyssee. In diesem Band mit dem Titel Die Kinder auf der Kinder entwirft Tetzner eine ähnliche Geschichte mit nahezu identischen Grundaussagen, konkretisiert jedoch stärker den sozialhistorischen Kontext.
Mira Lobe: Insu-Pu. Die Insel der verlorenen Kinder. Jungbrunnen Verlag 2006 255 S., € 16,90 ISBN 3-7026-5774-6
Faszinierende Schwarzweiß-Komplexe Über den Zeichner Paul Flora Von Lino Wirag
Mit dem Tod stand er auf gutem Fuß: Den Pestdoktor, der durch den dichten, venezianischen Nebel zu den Sterbenden eilt, hat er immer wieder gezeichnet. Die lange Nase läuft ihm mahnend voraus, die Maske larviert die Augen. Jetzt ist Paul Flora am 15. Mai 2008 im Alter von 87 Jahren gestorben. 1922 im Südtiroler Glurns geboren, wuchs der Arztsohn in Innsbruck auf und zog sich dort in eigenen Worten einige „interessanten Komplexen zu, welche seither meine Geschäftsgrundlage bilden“. Gemeint war nicht nur seine rabenschwarze Weltsicht, sondern auch seine zeichnerische Begabung. Vor allem Floras frühere Arbeiten, die des Karikaturisten, erinnern mit ihren fast höflichen, immer ein wenig zu exakten Linien an Olaf Gulbransson: Bei ihm hatte er studiert, hier hatte er gelernt, aus einem weißen Blatt nur das Wichtigste, die Konturen herauszumeißeln. Auch seine Wahlverwandtschaft mit Klee, Steinberg und dem frühen Feininger ist nicht zu übersehen, besonders Alfred Kubin beeindruckte den jungen Flora. Viele von Floras visuellen Einfällen erinnern an diesen Jahrhundertwende-Meister der Groteske, oder, mit Floras Worten: „Wir agieren auf Schultern von Riesen, und einer dieser Riesen ist Kubin, der wichtigste Zeichner Österreichs.“ Bald stand Paul Flora auf eigenen Füßen: Seine Karikaturen für die Hamburger „Zeit“ machten ihn bundesweit bekannt, ersten Ausstellungen nach dem Kriegsende folgten unzählige in aller Welt. Dazu kamen seine Bücher – seit den 50ern veröffentlichte er bei Diogenes Band um Band (der Debütband hieß wortspielerisch „Floras Fauna“), einem Verlag, der noch immer eines der ambitioniertesten Cartoonprogramme der Welt bedient – mit Zeichnern wie Ungerer, Sempé, Loriot, Waechter, Bosc oder Chaval. Erst Anfang der Siebziger beendete Flora seine Tätigkeit für die „Zeit“ nach rund 3500 Blättern – dabei war er nie durch Wünsche oder gar korrigierende Eingriffe von der Redaktion in seiner Tätigkeit gestört worden. Die Stahlfeder ist ein magisches Instrument, Tusche schwarzes Blut. Wer einmal mit der eigenen Hand erprobt hat, welch aufregende Linienvielfalt sich mit einer Tuschfeder zu Papier bringen lässt, nimmt nie wieder einen Filzstift in die Hand. Für einen Schraffeur wie Paul Flora war der Federhalter eine Waffe, mit der er das Papier bearbeitete. Seine Blätter gewinnen plastische Qualität, der Betrachter fühlt sich eingeladen, darüberzustreichen, die feinen Furchen nachzufahren, die die Zeichnung im Blatt hinterlassen haben muss. Flora benötigte kaum Farbe, arbeitet in die Fläche. Seine Arbeiten sind oft Kombinationen aus einer freischwebenden Linie und mit Schraffur gefüllter Fläche: dünn und dicht musste sie sein. Sein Verfahren war das des Radierers, der sich in den Zeichengrund eingräbt, die Bildvision aus ihm herausarbeitet. Seine Grauwertvarianten sind unübertroffen, feinste Hell-Dunkel-Abstufungen entstehen aus einer dichten Kreuzschraffur, Schattierungen, Wölbungen, Schnittflächen. Ein Zeichner, der das Blatt immer wieder wendet, dreht, bis er den richtigen Ton getroffen hat. Flora konnte mit schwarzer Tusche sogar Schnee aufs Papier bringen. Fleißarbeit, schmerzende Handgelenke am Abend. Paul Flora attestierte sich selbst einen „Hang zu Unheimlichkeiten, abgemildert ins ironisch Liebenswürdige.“ Er war ein Humanist, aber ein skeptischer, dem alles Laute zuwider war, Pathos jeder Couleur war ihm fremd. Seine Bilder wirken manchmal düster, fast immer melancholisch. Es sind Motive, die aus dem Grotesken schöpfen, die Angst und Gelächter zusammenbinden: Immer wieder verlorene Menschenfiguren, karge Natur und befremdliches Getier, nicht selten Chimären. Ulrich Weinzierl beschreibt eindrucksvoll Floras Themen- und Figurenpalette: „Voluminöse Damen Marke Walküre herzten den zwergwüchsigen Richard Wagner. Bürgerliche Wüstlinge trafen auf Attentäter, Dichter auf Denker und äußerst bärtige Revolutionäre. Verfallen war Flora dem Reiz venezianischer Masken und Veduten in ihrer welken Pracht. Er hatte eine Schwäche für Marionetten und k. u. k. Offiziere in voller Montur, für Ratten und Nonnen, für kahle Bäume in Winterlandschaften … Sein Wappentier aber war der Rabe, ein Wesen von abgründiger, gefährlicher Weisheit.“ Bei soviel charmanter Weltabgewandtheit war es nur folgerichtig, dass im Jahr 2007 der Asteroid 85.411 nach Paul Flora benannt wurde. Er ist also immer noch da draußen.
Der Autor ist Karikaturist und Journalist. Demnächst erscheint von ihm ein Essay zum Thema "Komik und Kinderbuch" in der Schriftenreihe Essays zur Kinderliteratur (Autumnus Verlag). Zudem hat er das Kinderbuch "Herr M. und die Sache mit sich selbst" von Jule D. Körber illustriert.
Themen, die bewegen und nachdenklich stimmen Kristina Dunker, ihre Bücher und ihre Talente Von Susan Müller
Als ich den Auftrag erhielt, ein Portrait über Kristina Dunker zu schreiben, ließ ich all die Bücher, die ich von ihr gelesen hatte, Revue passieren – und freute mich: Meiner Meinung nach ist sie eine der besten Kinder- und Jugendbuchautorinnen unserer Zeit. Kristina Dunker wurde 1973 in Dortmund geboren und sagt von sich selbst, dass ihre Figuren teilweise ein Spiegelbild ihrer Kindheit sind. Ein guter Pfad durch ihre Bücher, denn er erklärt, warum ihre Bücher so authentisch und nachfühlbar sind. Allein „Hochspannung, hier wohnt Leo“ (auf die Empfehlungsliste: Deutschsprachiges Qualitätskinderbuch 2007“ aufgenommen) beweist das auf hervorragende Weise. Es ist ein Buch für Leser ab 10, und damit für die jüngsten Leser, die Kristina Dunker in den bisher veröffentlichten Werken anspricht. Sie ist hauptsächlich eine Autorin für Jugendliche. Eine schwierige Lesergruppe: Man muss sie unterhalten können und dabei ernstnehmen, man muss spannend erzählen können und dabei ihre Probleme aufgreifen. Kristina Dunker versteht das prima. Sie verarbeitet Themen, die bewegen und nachdenklich stimmen. Beispielhaft ist ihr Buch „Schmerzverliebt“, in dem es um ein weniger erfreuliches und teilweise auch tabuisiertes Thema der Selbstverletzung (in der Psychologie auch Borderline-Syndrom genannt) geht, hat sie recherchiert und Gespräche geführt, um gewissenhaft darzustellen, dass die Personen mit dieser Störung auch Opfer sind, gefangen in ihrer eigenen Persönlichkeit. Dazu greift Kristina Dunker hier wie nebenbei die Problematik von Tierversuchen der Forschung und deren Gegner auf – und schafft es damit, tief in die Gedankenwelt von Teeangern, auch wenn sie nicht um sie selber kreist, einzudringen. Es gelingt ihr, kleine und große Probleme einer Jugendlichen zu vereinen und uns eindrucksvoll nahezubringen. Das Kolorit ihrer Romane ist die Hektik unserer Zeit, in der einfachsten, zufrieden machenden Momente des Lebens auf der Strecke bleiben – zuhören, Zeit für- und miteinander, Toleranz. Und in der es Jugendliche sind, die sich noch um diese Werte bemühen, weil sie sie wie die Luft zum Atmen berauchen. Und die Liebe: Schön zu wissen ist aber auch, wie sich der Blickwinkel ändern kann, wenn man auf den Menschen trifft, der für einen da ist und bereit ist auch ernstere Nöte und kleine und große Freuden mit einem zu teilen. Kristina Dunker verliert nie den Bezug zu ihren Romanfiguren, was ebenfalls ihr gelungenes Werk „Ein bisschen schwanger“ beweist. Wieder ein Thema, mit dem sich zu wenig auseinander gesetzt wird, in noch sehr jungen Jahren in anderen Umständen zu sein – einer der besten Romane dazu!. Wohl auch, weil Dunkers Titelhelden oft Opfer ihrer eigenen Ängste sind, und weil sie mühelos, unangestrengt und für Jugendliche sehr ehrlich ihre Sujets bewältigt. Erste Liebe, Sexualität, gefühlsmäßige Irrungen und Wirrungen („Anna Eisblume“, „Liebe gibt’s nicht“, „Tigerfrau und Froschkönig“): Teenager reißt Kristina Dunker in jedem ihrer Bücher mit. Es ist fast folgerichtig, dass sich die Autorin zunehmend im Genre des Thrillers nähert. Wer so gradlinig schreiben kann, wer ungefähre Gefühle so psychologisch perfekt verdeutlichen kann, der vermag natürlich auch in die spannungsgeladenste, von Unterschwelligkeit geprägteste Gattung zu wechseln: Siehe „Sommergewitter“ und „Schwindel“ (Einzelrezensionen der Bücher finden sich in Librikon in der Rubrik „Jugend liest“) Aber die Reduzierung auf Romane, die den Leser fesseln, wird Kristina Dunker nicht gerecht. Ein Kinderkonzert, für das sie eigens die Geschichte schrieb („Traumtauscher“), ein Langgedicht („Der Drache Max“) zeigen die anderen Talente der vielseitigen Autorin, die zudem gern und oft vor Kindern liest, in aller Welt. Zum alljährlichen Lesevergnügen am Weihnachtsfest könnte eine ihrer Kurzgeschichten, „Staubfänger“, werden. Doch nicht genug – das Repertoire der Kristina Dunker ist noch lange nicht am Ende. Immer wieder aufs Neue setzt sie ihre Ideen und Phantasien oder selbsterlebte Ereignisse in spannende, lesenswerte Lektüre um, die man einfach nicht verpassen darf. Jugendliche Leser lernen durch sie Lesegenuss und Vorfreude kennen. "Vogelfänger" (2009) bestätigt das. Und dass eine gute Autorin vielseitig ist, zeigt "Drache Max macht Rabbatz" (2009) - ein Buch komplett in Versen (siehe die Rezension in "Tipps zum Thema - Gereimtes")!
Traut sich an schwierige Themen im Bilderbuch: Der Illustrator und Autor Gergely Kiss Von Inna Kalaschjan
Es ist hektisch und umtriebig, förmlich und geschäftlich-steif auf der Frankfurter Buchmesse, auch als Gergely Kiss und ich uns an einem Stand treffen. Doch der Illustrator und Kinderbuchautor schafft sofort eine sehr persönliche Atmosphäre, in der das ganze Interview geführt wird. Der gebürtige Ungar spricht fließend Deutsch, und meine erste Frage – wie er seine drei Bücher auch selber in einer Fremdsprache schreiben konnte – erübrigt sich sofort. Kiss kam 2004 erstmals nach München, als Kunststudent, und nachdem er sein Diplom in Budapest abgelegt hatte, 2006, ließ er sich dauerhaft in der bayrischen Hauptstadt nieder. Der Autor, dessen drei Bilderbüchern eine ganz besondere, unverwechselbare Illustrationssprache eigen ist, hatte wahrlich keinen vorgefassten Weg im Gepäck, als er 1980 in Kazincbarcika zur Welt kam. Diese Kleinstadt im Nordosten Ungarns war eine „sozialistische Stadt“, ab 1950 als Zentrum des Braunkohlebergbaus aus dem Boden gestampft. Während der Kindheit von Gergely Kiss verschwand der Bergbau, aber nicht die Tristesse der Einheitsarchitektur. Es war ein Glück für Kiss, dass er schon früh Talent zum Malen zeigte, und er legte 1998 sein Abitur am Kunst-Gymnasium in Miskolc, einer mittleren Großstadt im Nordosten des kulturell von Budapest getragenen Landes. Nach Budapest trieb es auch Gergely Kiss, und er studierte dort an der Akademie der Bildenden Künste. Prägend für seine Malerei war aber der in München und New York lehrende Jerry Zeniuk, der bekannt ist für seine farbzugewandten Kunstwerke. Versucht man, sich die Hintergründe zu Gergely Kiss’ Schaffen zu vergegenwärtigen, dann wird einem schnell deutlich, warum seine untypischen, nicht gleich zugänglichen Bücher Kritiker auf den Plan rufen. Zu kompliziert für Kinder! Zu wenig an kindlichen Interessen orientiert! Ja, Gergely Kiss traut sich an Themen wir Trennung und Scheidung als Bilderbuchthemen, aber das nur auf höchstem Niveau. So fühlt sich das Kind in seiner Tiefe und Verletzlichkeit angesprochen – nur: Das erschließt sich nicht einfach. Kiss textet und zeichnet nicht nach Zielgruppendenken und Zielgruppenästhetik. Diese Ehrlichkeit, Echtheit ist immer zu spüren. Darum ist sein herausragendes „Der kleine Hase und die Planeten“ über Freundschaft trotz seiner Skurrilität liebevoll; und birgt soviel Gefahr, missverstanden zu werden. Gergely Kiss möchte nicht mehr über das, worüber er mit Erfolg Bilderbücher veröffentlicht hat, schreiben, er sagt, er habe zum Thema Ehescheidung und Trennung alles erzählt. Er schließt damit ab, bevor er ganz darauf festgelegt ist, bei Publikum und Verlagen. Er ist kein Stratege in eigener Sache, der um jeden Preis ein bekannter Kinderbuchautor werden will. Das ist aus seiner Sicht konsequent. Und genau deshalb bleibt die Vorfreude auf weitere Bilderbücher aus Kiss’ Hand.
Reinhardt Jungs Werke und Hauptwerke
(librikon) Reinhardt Jung war ein engagierter Mensch. Im zerstörten Nachkriegsdeutschland 1949 geboren, verweigerte er nach dem Abitur den Dienst in der Bundeswehr. Was damals noch bedeutete, sich der geballten Staatsmacht, Richtern und Gewissensprüfungen gegenüberzusehen; das musste er durchstehen. Nicht umsonst: Heute kaum mehr vorstellbar, gehört doch der Zivildienst mittlerweile zum Standard in intellektuellen Familien – auch wegen solcher Vorreiter wie Reinhardt Jung. Mit dem Schreiben fing er in Berlin in den sechziger Jahren an. Gebrauchstexte. 1974 wurde er Journalist beim Kinderhilfswerke terre des hommes, einer Organisation, die sich bis heute für Kinder und nicht für Staatswünsche (wie etwa das Deutsche Kinderhilfswerk, das sich, auch wegen personeller Nähe, zum Bettel der offiziellen Politik macht): Anders ist das bis heute bei terre des hommes. Deshalb gab es dort eine Heimat für Reinhardt Jung. Er setzte sich für Kinder ein, deren Schicksal im eigenen Land keinen interessierte. „Mord in der Sierra. Spurensuche in Peru“ ist eines der Bücher von ihm, die dies dokumentieren. Zu seinem literarischen Stil hatte er in Ansätzen schon gefunden, doch noch wirkt es so, dass der Wille zur Aussage, zum gesellschaftlichen Kampf der ganzen Entfaltung entgegensteht. Doch 1992 wird der mittlerweile erfolgreiche Kinderbuchautor Leiter der Abteilung Kinderfunk beim Süddeutschen Rundfunk. Nun hat er das Umfeld und die Bedingungen, um sich mit literarischer Passion an seine Kinderbücher zu machen. „Auszeit oder der Löwe von Kaúba“ ist stilistisch anspruchsvoll, wenn auch das Thema – Nazizeit - „schulnah“ aufbereitet ist, mit einem Bildungsimpetus. Es hatte Erfolg und drang bis zu einer Taschenbuchausgabe vor. Kindern Wissen zu vermitteln, das ist heute überstrapaziert, ein Selbstzweck ohne Sinn für Kinder, aber in den neunziger Jahren war, so gesehen, die Welt noch in Ordnung, und Reinhardt Jung machte eine Sendung, in der Kinder Fragen wie „Warum sind die Räder rund?“ stellten, und er beantwortete sie mit sehr schönen, phantasievollen Geschichten, denen man die Freude am Erzählen anmerkt. Unter dem Titel „Das geheime Wissen der Pinguine“ brachte er so drei Bücher heraus. Es ist rückblickend schwer auszumachen, wann bei Reinhardt Jung die Entwicklung zu einem der anspruchsvollsten Kinderbuchautoren seiner Zeit einsetzte, und die Literaturwissenschaft wird dort eine ihrer Aufgaben haben. Denn 1998 legte er sein Hauptwerk vor, „Bamberts Buch der verschollenen Geschichten“: Ein Buch, dessen Bedeutung in der Geschichte der deutschsprachigen Kinderliteratur nicht hoch genug einzuschätzen ist. Die Sprache, lakonisch, stechend, ist vollendet, die Geschichten darin eröffnen zauberhafte Welten, und die Rahmenhandlung hat mit Bambert eine Figur geschaffen, die ihresgleichen sucht. Erzählerischer Reichtum, Empfinden von Schicksalhaftigkeit – für heranwachsende Leser ist „Bamberts Buch der verschollenen Geschichten“ eine Tür, die sich in Richtung großer Literatur auftut. Ebenfalls 1998 folgt das erste Bilderbuch, von Reinhardt Jung getextet, von Sonja Vandenberk bebildert. „Wenn das Licht ausgeht …“ versucht Worte zu finden für die Wirrnis, in die sich nachts die Phantasie stürzt. Der Mut des Autors, in kurzen, wenigen Sätzen diese Halbtraumwelt nicht zu beschreiben, sondern sie in der Verworrenheit als Kinderwirklichkeit anzunehmen, lohnt sich – für den Leser, der eindrückliches Buch und eine literarische Herausforderung vor sich hat. Mit „Die Wanderschnuller“ (1999) zeigt sich Jung als Schöpfer gekonnter Reime; sie sind eine neue Interpretation der alten Manier des Herunterzählens. Sein letztes Buch sollte „Das kleine Nein“ (erschienen 2000) sein, das einem Alltagsproblem poetische Flügel verleiht. Als Reinhardt Jung 1999 völlig überraschend starb, verstummte eine literarische Kraft, die gerade erst wirklich zu sich gefunden hat. Man möchte nicht erwägen, welche Werke nun nicht mehr entstehen konnten. „Bamberts Buch der verschollenen Geschichten“ ist eine große Hinterlassenschaft, die auch der zukünftigen Kinderliteratur einen grandiosen Impuls zu geben vermag.
"Das kleine Nein" wird in der Rubrik "Willkommen" in einer Rezension vorgestellt. Eine weitere Einordnung von Reinhardt Jung findet sich in dem Essay "Manifest für Maßstäbe. Was ist ein gutes Kinderbuch?" (Schriftenreihe Essays zur Kinderliteratur. Näheres www. autumnus-verlag.de)
Michaela Hanauer und "Lord Hopper"
(librikon) Pferdebücher werden von Mädchen geliebt und verschlungen, und darum reicht es, ihnen seitenweise immer neue Varianten des Pferdchenschemas zu bieten. Auf der Strecke bleibt dann die Qualität. Unduldsame Eltern sind dazu verdammt, lange zu suchen, bis sie ein Buch haben, das auch literarisch begeistern kann. Viele sehnen den Ponyroman herbei, der viele Ansprüche in sich vereint. Mit „Lord Hopper“ ist er da. Ein amüsantes, leichthin erzähltes und doch in seiner Originalität herausragendes Buch, ist die Geschichte vom als Detektiv ermittelnden Pony eine Erneuerung des Pferdebuchs. Sie kommt aus professioneller Feder. Mit Michaela Hanauer hat „Lord Hopper“ eine Schöpferin, die bisher Lesefutter, Mädchenschmöker, Problembücher ("Bauch, Beine, Po und Herz", "Mädchen für alles", "Sternzeichen Liebe: Steinbock") vorgelegt hat. Auch diese Bücher, das beweist Michaela Hanauer, entstehen nicht nur aus Gründen des Gelderwerbs, sondern auch aus der Liebe zum Schreiben. Nach einem Jurastudium, Kanzleierfahrung und dem Eintritt in die Verlagswelt durch die rechtliche Seite des Büchermachens lag es nicht unbedingt auf der Hand, sich selber an Belletristik zu machen. Zumindest von von Berufs wegen lag es nicht auf der Hand – persönlich sehr. Michaela Hanauer ist die ideale Erzählerin für Kinderbücher. Sie strahlt tiefe innere Ruhe und eine grundfröhliche Lebenshaltung aus, und beides reicht in ihre Bücher hinein: „Lord Hopper“ heitert auf. Eines der besten Exemplare der Pferdeliteratur kommt mitten aus dem städtischen München, aus Neuhausen. Als junges Mädchen ist Michaela Hanauer –sollte man sagen: natürlich?- auch geritten. Heute ist manchmal die Überlegung da, sich wieder einmal auf das Pferd zu setzen, aber das hat mit den Büchern und "Lord Hopper" nichts zu tun: „Ich kann mich sehr gut an meine Kindheit erinnern, und ich erinnere mich auch gern an meine Kindheit.“, sagt Michaela Hanauer, und ihr Einfühlungsvermögen beweist sie in vielen liebevollen Sequenzen, in denen sich Kinder aus dem Herzen gesprochen fühlen. Dass Kinderbücher auch in einem praktisch organisierten Tagesablauf entstehen, weiß jeder, der seinen Beruf daraus gestrickt hat. Michaela Hanauer ist auch als Literaturagentin tätig, sie sichtet und bearbeitet Manuskripte anderer Autoren und bemüht sich um genaue, begründete Urteile – was bedeutet, dass sie viel Zeit schlucken. „Lord Hopper“ war ein Auftrag des Verlages, und um ihn zu erfüllen, brauchte es Selbstdisziplin. Ein Tag am Computer, nur unterbrochen von den Begehren ihrer Katze, das schafft die Autorin. Es kostet keine Kreativität; das lässt sich schon bei „Pony & Co.“ herauslesen – einer Reihe, von der kleine Leserinnen um die neun Jahre nicht genug bekommen können. Der britische Charme, von dem „Lord Hopper“ so einzigartig unterlegt ist, hat seine Verankerung in der Liebe zu Irland; Michaela Hanauers Reiseziel seit 20 Jahren, seit Abiturzeiten. Kontinuität und Konstanz prägen auch die Schreibweise der gebürtigen Münchnerin, die ihre Heimatstadt, ja, ihren Heimatstadtteil nie verlassen will. In ihrer Gemütlichkeit und Bodenständigkeit ist sie eine Repräsentantin dessen, was München auch ausmacht. So erklärt sich vielleicht, warum das beste Ponybuch der letzten Jahre hierher kommt. Literarisch gesehen schätzt Michaela Hanauer das Handwerk und auch den Fleiß, nicht den großbürgerlich-literaturnahen Gestus. Sie arbeitet gern mit ihrer Lektorin zusammen und akzeptiert die Meinung des außenstehenden Lesers. Dafür opfert sie dann auch mal eigene Ideen, an denen sie eigentlich hing. Lesungen mit Schülern machen ihr richtig Spaß, sie sind für sie keine reine Pflichtübung fürs Bekanntmachen der Bücher. Das wiederum hat bei „Lord Hopper“ schon ganz gut geklappt, und der zweite Band –„Die Geschichte ist noch nicht ganz auserzählt.“- ist bereits fertig. Das sollte man nur Kindern nicht sagen. Sie können es dann kaum mehr abwarten.
Vereinnahmung nur durch Kinder! Otfried Preußler. Heute gelesen Zum 85. Geburtstag des Schriftstellers
(librikon) Es ist eine der Unerhörtheiten der Geschichte, dass ausgerechnet diejenigen, die die Pädagogik um 1968 herum von Fesseln befreiten, dass ausgerechnet diejenigen, die zur selben Zeit den Kinderbüchern durch gesellschaftskritische Befrachtung Fesseln anlegten, am Ende ihrer Ideale jede Kommerzialisierung mitmachten – und einer ihrer Feinde, einer der erfolgreichsten Kinderbuchautoren bis heute, standhielt und jedes Merchandising ablehnt. „Der Räuber Hotzenplotz“ auf einem Trinkbecher? Das ist ganz Tigerente & Co. vorbehalten. Für das Bekanntwerden und Bekanntbleiben benötigte Otfried Preußler nichts weiter als seine Begabung (die so einzigartig ist, dass jüngere Nachfolger bis heute nicht ins Sicht sind) und einen Verlag alter Schule (wie es ihn heute fast nur noch bei Kleinverlagen gibt). Das ist sehr viel, und es wurde im Laufe der Zeit beim Nachwuchs durch viel weniger ersetzt; durch mitgebrachte Verkaufsförderung (man hat sich woanders einen Namen gemacht und schreibt jetzt mal kurz ein Kinderbuch) oder ausgefeilte Marketingkonzepte (die statt des literarischen Niveaus bestimmend sind). All den Autoren, die gern für Kinder schreiben, die das Talent dafür haben, ist Otfried Preußler ein Fels in der Brandung. Er ist die alte Schule, die sie nicht mehr hätten ohne „Das kleine Gespenst“ oder „Die kleine Hexe“. Es ist einfach, mit vielversprechenden jungen Schriftstellern zu tun zu haben. Die erste und wichtigste Empfehlung lautet: Lest Preußler! Lest, wie man, unbeleckt jeder Modeströmung, eine Geschichte erzählt! Spürt heraus, woran Preußlers Herz hängt, wie er sich seine Vorlieben gönnt, ohne je den Leser aus dem Auge zu verlieren! Wie er sich sogar Lokalkolorit erlaubt, ohne dass es einengend wirkt. Wie er seine Personen durch kleine, sparsam eingesetzte Details zu Leben erweckt. Wie wenig quirlige Ideen er einsetzen muss, weil seine Bücher offen und ehrlich und geradeaus sind. Und das wichtigste: Geht seiner Logik nach, die sich ganz auf Kinder und deren Denken richtet! Diese Logik und wie Preußler mit ihr umgeht, das ist seine Besonderheit, das kann nur er auf diese unnachahmliche Weise, das kann man nur von ihm lernen. Es ist einfach mit Jungautoren. Denn sie wissen, wovon man redet. Leute zwischen 20 und 30 kennen alles von Otfried Preußler. Aus ihrer eigenen Kindheit. Und von gestern abend – da haben sie „Der kleine Wassermann“ den Kindern beim Babysitten vorgelesen. Der jüngste Jahrgang, der derzeit gebannt bei „Neues vom Räuber Hotzenplotz“ zuhört, ist 2005 geboren. Seine Eltern müssen alle Kraft aufwenden, seine Kindheit gegen Zeitpläne für frühkindliche Verbiegung, gegen Pflichtenhefte im Kindergarten, gegen Hetze, die als „Quality Time“ für das Familienleben verkauft wird, zu verteidigen. Die Witwe Schlotterbeck, der Wachtmeister Dimpflmoser, die Großmutter – durch sie lernen die Kinder einen Schriftsteller kennen, der aus einem ganz anderen Zeitalter, von einem ganz anderen Planeten zu stammen scheint. Otfried Preußler ist 1923 geboren, ein Deutscher in Böhmen, der das tschechisch-deutsche Milieu als Kind zu lieben begann (und 1962 Josef Ladas „Kater Mikesch“ aus dem Tschechischen übersetzte). In seiner Kindheit gab es keine Neubaugebiete mit angeschlossenem Discounter, keine Menschen, die Hunde als Kinder hielten und sich über echte Kinder aufregten, keine Singles und Rentner, die Urlaub machen, während für die Familien, die das Geld fürs Wegfahren nicht haben, die Freibäder geschlossen werden. Er erfuhr die Welt noch durch Dazugehören, durch Erleben. Das prägte seine Kindheit, das prägte ihn als Schöpfer für Kinderbücher. Als die Diktatoren die Welt übernahmen, musste der 18-Jährige in den Krieg; und erst 1949, als Spätheimkehrer, kam er wieder zurück. Mit 26 stand er auf einem Bahnhof und musste sich einen Platz in einer neuen Zeit suchen. Welchen Beruf? Lehrer war schon sein Vater gewesen, also wurde er Lehrer. Er lebte in Bayern, wie viele, die dort fortan als „fünfter Stamm“, zu den Vertriebenen, zählten. So wenig man es seinen Büchern auf den ersten Blick ansieht: Otfried Preußler blieb ein unabhängiger Kopf. Ein honorabler Charakter. Vereinnahmen konnte ihn niemand, und er ließ sich von keiner Sache je vor sich her treiben. Nur seine drei Töchter konnten die Herrschaft übernehmen, sie wollten abends zum Schlafen gebracht werden, und wie so viele Eltern mussten sich Preußlers da Geschichten einfallen lassen. Schon bald setzte sich der Mann, der seine Zeit, als er jung war, als Soldat hatte vertun, hatte erleiden müssen, ein Mann, der Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft verbracht hatte, hin und begann, für kleine Kinder zu schreiben. Das ist bis heute ein so absurder Gedanke, dass er sich nur mit dem unbedingten Hingezogensein zur Literatur erklären lässt. Nach einigen Gehversuchen entstand so „Der kleine Wassermann“, und auch was nun geschah, grenzt aus heutiger Sicht an ein Wunder. In Stuttgart war der Thienemann Verlag ansässig, und er pflegte ein Lektorat, das nicht nur das Ausnahmetalent des 34-Jährigen Manuskripteinsenders erkannte, sondern auch noch die Bereitschaft hatte, es mit aufzubauen. 1958 folgte die Nacherzählung der Schildbürger-Legenden, 1962 dann der erste Hotzenplotz-Band. Als der Eiserne Vorhang Osteuropa abgeteilt hatte, blieb vom Russland-Bild im Westen nur noch eine Leerstelle, die die Menschen entgegen jeder politischen Meinungsmache kulturell spürten, und es erschienen Bücher von Deutschen, die an die Stelle der jahrhundertelangen Kulturbeziehungen traten. Dazu gehört Preußlers „Die Abenteuer des starken Wanja“ (1966), die wohl auch wegen seiner Russland-Erfahrung so stimmig sind; eine große Leistung, viele andere blieben immer ungerecht und unverbesserlich. 1971 –die DDR mitsamt der sorbischen Minderheit war Feindesland- nahm sich Preußler „Krabat“, der berühmten Sage des kleinen slavischen Volkes, an und schuf einen Roman, den bis heute kein Leser ab zwölf Jahren aus der Hand legen kann. Zehn Jahre hatte Preußler daran geschrieben, und als das Manuskript fertig war, war er nicht zufrieden damit. Seine Frau war es, die es dem Verlag schickte. Annelis Preußler erscheint als ordnende Hand im Hintergrund, die den Alltag mit den drei Töchtern gemeistert und dafür gesorgt hat, dass sich rund um Kinderbücher die Familie gestaltet. Die Töchter haben selber Kinderbücher herausgegeben oder sich auf Rechte- und Lizenzvergaben konzentriert. 2008 kommt die Verfilmung von „Krabat“ ins Kino, dem Buch, dem Otfried Preußler selber höchstes Gewicht zuspricht. Billige Serien gab es nie von Preußler-Büchern - nur die Erlaubnis zu kinotauglichen Adaptionen. Ob sie neue Leser für Preußler gewinnen, ist offen. Aber ist das überhaupt nötig? „Der Räuber Hotzenplotz“ hat längst bewiesen, dass er die Zeit überdauert, dass er zu dem besten gehört, was die deutschsprachige Kinderliteratur zu bieten hat.
Gespenster in der Speisekammer Vor 65 Jahren erstmals erschienen: "Die Mumins" Über Tove Jansson Von Steffen Wunder
Erzählt man hierzulande einem Erwachsenen oder auch einem Kind von Tove Jansson, ist nicht selten die erste Reaktion, man habe den Namen noch nie gehört. Wenn man aber dann erwähnt, dass sie die Schöpferin der Mumins ist, werden sofort Erinnerungen wach. Das ist seltsam, denn in ganz Skandinavien ist die Autorin nicht weniger berühmt als Astrid Lindgren und jedes Kind weiß mit ihrem Namen etwas anzufangen. Auch in Großbritannien genießen ihre Bücher große Beliebtheit. Warum der Erfolg ihrer Bücher in Deutschland lange ausblieb, ist schwer zu erklären. Vermutlich liegt es daran, dass die Bücher lange Zeit nur in schlechten, gekürzten Übersetzungen vorlagen, mit kindlicherer Sprache und stellenweise verändertem Inhalt. Durch sämtliche Verfilmungen wurden die Mumins aber auch im deutschsprachigen Raum bekannter. Tove Jansson wurde am 9.August 1914 in Helsinki als erstes Kind schwedischer Eltern geboren. Beide Eltern waren Künstler. Ihr Vater war der Bildhauer Viktor Jansson, ihre Mutter die Zeichnerin Signe Hammersten-Jansson. Die Eltern waren 1914 nach der Hochzeit nach Finnland gezogen. Lange Zeit war Tove das einzige Kind in der Familie. 1920 wurde ihr erster Bruder Per Olov, 1926 ihr zweiter Bruder Lars geboren. Die Familie wohnte in einem Künstleratelier, in dem sich der Vater verschiedene Tiere hielt. Im Bücherregal hatte er für Tove ein Bett gebaut. Durch ihren Beruf bedingt waren die Eltern den ganzen Tag zu Hause. Obwohl Tove Jansson in der Hauptstadt aufwuchs, verbrachte sie viel Zeit an den Schären Finnlands, wo die Familie eine Fischerhütte bezog und sich dort den ganzen Sommer aufhielt. Da Tove als Kind viele Sommer bei ihren Großeltern auf Blidö verbrachte, waren ihr auch die Schären von Stockholm bekannt. In Helsinki wuchs sie im Stadtteil Katajanokka auf, wo sie oft mit einem Jungen namens Erik Tawaststjerna spielte, der später als Musikkritiker und Biograf von Jean Sibelius bekannt wurde. Ihre glückliche Kindheit war eine wichtige Lebensepoche, die ihr Werk prägte. Das Atelier ihrer Eltern und die Schären waren die Inspirationsquelle zu Mumintal. Der Muminvater und die Muminmutter sind wie Tove Janssons Eltern: Die Muminmutter steht für Ordnung, während der Vater nachlässig ist und träumt. Seine chaotische Art und Abenteuerlust entsprechen ebenfalls Toves Vater. Bei einem Gewitter ging er immer mit der Familie in die Natur, um das Abenteuer aus der Nähe zu erleben. Tove selbst hat große Ähnlichkeiten mit Mumin, aber auch mit der kleinen My. Bereits im Alter von 15 Jahren brach Tove die Schule ab und half ihrer Mutter die Zeitschrift „Garm“ zu illustrieren. Darauf zog sie nach Stockholm, wo sie von 1930-1933 auf der Konstfack Kunst studierte. Mit 18 war sie eine etablierte Illustratorin und Werbezeichnerin. Während dieser Zeit als Kunststudentin, als Tove bei einer verwandten Familie in Schweden lebte, hatte sie die Gewohnheit nachts in die Speisekammer zu gehen. Um dies zu verhindern, warnte sie ihr Onkel vor Mumin, einem Gespenst, das dort lauerte. Dadurch war der Name des Hauptcharakters ihrer Geschichten gegeben. Später lag Tove einmal mit ihrem Bruder Per Olov im Streit und zeichnete ihm ein schreckliches Gespenst auf die Wand. Dieses Gespenst erhielt den Namen, den ihr Onkel damals erfunden hatte. Es war die Vorlage für den bekannten, runderen Troll, der anders als dieses Ungeheuer einen freundlichen Charakter bekam. Tove Jansson nahm seit 1932 an vielen Ausstellungen teil. Sie studierte nach ihrem Studium an der Konstfack von 1933-37 an der Finish National Gallery in Helsinki und 1938 an der Ecole d'Adrien Holy und der Ecole des Beaux Arts in Paris. Bereits 1933 veröffentlichte sie ihr erstes Bilderbuch Sara und Pelle und die Tintenfische von Necken unter dem Pseudonym Vera Haij. Reisen führten sie nach Deutschland, Italien und Frankreich. Ihre erste eigene Ausstellung hatte sie 1943 in Helsinki. In diesem Jahr erschien auch erstmals der Mumintroll im Satireblatt „Garm“ als Janssons Erkennungszeichen. In den vierziger Jahren schrieb sie auch das erste Buch, in dem die Mumins und ihre Heimat Mumintal vorkamen. Zuerst wollte kein Verlag dieses Werk drucken. Als sich schließlich ein Verlag fand, war man der Meinung, der Name mumintroll wäre zu merkwürdig. Daher hieß das 1947-erschienene Buch Småtrollen och den stora överswämningen (wörtlich: Die kleinen Trolle und die große Überschwemmung, jedoch erschienen unter dem Titel Mumins lange Reise). Im zweiten Buch (Komet im Mumintal) durften die Mumins ihren ursprünglichen Namen behalten. Es sollten noch viele weitere Bücher über die Mumins folgen. Ihre zweite Ausstellung, welche ein kommerzieller Erfolg wurde, hatte Tove Jansson 1946 an der Bäcksbacka-Gallerie. In den späten dreißiger und vierziger Jahren gehörte sie neben Torger Enckell, Eva Cederström und Sam Vanni zu den berühmtesten finnischen jungen Künstlern. In den folgenden Jahren arbeitete sie für die Zeitschriften „Ny Tid“ und „The London Evening News“ und hatte noch viele Ausstellungen. Tove Jansson wurde 1978 Ehrendoktorin auf der Åbo Akademi und erhielt 1995 den Titel Professorin. Ihre Lebensgefährtin war die Grafikprofessorin Tuulikki Pietilä, mit der sie viele Sommer auf der Schäreninsel Kovharun in Pellingearkipelagen in der finnischen Bucht verbrachte. Sie ist das Vorbild für die Figur Tootikki, eine selbständige, kluge und geheimnisvolle Frauengestalt. Nach längerer Krankheit starb Jansson im Alter von 86 Jahren in Helsinki. Die Mumin-Geschichten sind spannend und fantasievoll, haben aber dennoch eine tiefere Bedeutung: Jansson stellt in den Mumineltern die beiden Seiten ihres künstlerischen Schaffens dar, nämlich das Malen und das Schreiben. Das Malen bedeutet für die Mutter Verarbeitung ihrer Einsamkeit und Sehnsucht. Der Vater hingegen schreibt beispielsweise Theaterstücke und Memoiren. Dies hilft ihm zu seiner eigenen Selbstfindung. Generell spielt die Kunst, in Form von Literatur, darstellender und bildender Kunst, bei den Mumins eine wichtige Rolle, genau wie in Tove Janssons Leben. Wie für sie hat auch das Meer in ihren Kinderbüchern eine wichtige Bedeutung. Gerade der Muminvater fühlt sich davon angezogen und verbindet damit Freiheit und Neubeginn. Tove Jansson, die zur Zeit des Zweiten Weltkriegs lebte, wurde davon auch in ihren ersten Kinderbüchern geprägt. Katastrophen wie der Komet und die Flut spiegeln die äußeren Umstände wie den Krieg oder die Atombombe und die damit verbundene Existenzangst wieder. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Anspielungen auf andere literarische Werke: Muminvaters wildbewegte Jugend stellt eine Parodie auf die Autobiographie des Renaissance-Künstlers Benvenuto Cellini dar, zitiert diesen teilweise fast wörtlich und imitiert dessen Stil. Sowohl in Komet im Mumintal als auch in Eine drollige Gesellschaft werden Bezüge zu Edgar Rice Burroughs‘ Tarzan geschlossen. In letzteren überwuchern Dschungelpflanzen das Haus der Mumins und sie spielen Tarzan und Jane. Das klassische Schema, in dem der Held die Frau rettet, wird nachgespielt und dabei werden auch einige englische Brocken zitiert. Das Mädchen mit den blauen Haaren aus Mumins lange Reise, bei dem sich herausstellt, dass es sich um eine Fee handelt, ist ein klarer Hinweis auf die Blaue Fee aus Carlo Collodis Pinocchio. Die Mumins wurden multimedial erfolgreich. Es erschien unter anderem eine Serie in der Tageszeitung. Die Mumin-Bücher wurden zu Theaterstücken, einer Oper und einem Ballett adaptiert, wozu Jansson oft selbst die Texte schrieb und die Kulissen entwarf. Sie wurden mehrmals verfilmt und nach ihnen entstand jede Menge Marketing und ein Freizeitpark. Neben den Mumin-Geschichten hinterließ Tove Jansson einige Werke an Erwachsenenliteratur, welche aber nie die Popularität ihrer Kinderbücher erreichten. Auch ihre Kinderbücher überarbeitete sie mit der Zeit, sodass sie mehr für ein erwachsenes Publikum bestimmt waren. Ihre anderen Romane und Kurzgeschichten handeln meist von Schriftstellern und Illustratoren, wie ihre Autobiographie Die Tochter des Bildhauers. Andere Werke wie das Sommerbuch oder Die ehrliche Betrügerin behandeln das Thema des Alterns. Auch in der Erwachsenenliteratur greift sie immer wieder Autobiographisches auf und bezieht sich auf ihre Kindheit.
Der Autor ist angehender Skandinavist und Kinderbuchautor ("Also bin ich ein Pinguin" erscheint 2009).
„Ich wollte immer eine Geschichte schreiben und das tue ich“ Eine Begegnung und ein Gespräch mit Jutta Treiber Von Tamara Bučková
März 2008 In Wien findet die Literaturwoche für junge LeserInnen statt, die, wie schon traditionell, vom Institut für Jugendbuchforschung (Mayerhofgasse, Wien) veranstaltet wird. Es geht um „ein literarisches Fest“, um Begegnungen mit AutorInnen. Die Lesungen wechseln sich mit Theater- und Filmaufführungen und Workshops ab. Eine groβe Bücherausstellung bietet zwischen den einzelnen Veranstaltungen mehr als 2000 Bände zum Stöbern und Schmökern. Zur Literaturwoche werden renommierte österreichische SchriftstellerInnen und auch einige aus dem Ausland eingeladen. Eine Lesung mit Jutta Treiber[1] steht heute auf dem Programm. Ich muss mich beeilen und ärgere mich über mich selber... Ich hätte sie anmailen können. Wir hätten einen Termin für ein Interview finden können...
Ich bin so lange am Blumenstand, bis ich die richtige Blume finde Frau Treiber kenne ich nicht. Ich kenne „nur“ ihre Bücher. Ich denke an ihre Romane HERZ- UND BEINBRUCH[i], SOLANGE DIE ZIKADEN SCHLAFEN[ii]... Völlig verblüfft, weil ich in meinen Gedanken in den Geschichten und nicht auf der Straβe war, merke ich, dass ich bereits vor dem Blumenstand stehe. Dieser oder jener Blumenstrauβ? Welcher passt zu Jutta Treiber? Keiner. Ihre Texte verlangen nur eine Farbe und einen Ton ... , aber trotzdem nichts Einfaches ... Es fällt mir eine prächtige Orchidee ins Auge. Ein Ästchen mit mindestens zwanzig Blüten. In Violett? Grün? Gelb? Violett kommt nicht in Frage. Grün erinnert mich an den Titel eines anderen Romans von Jutta Treiber: DER BLAUE SEE IST HEUTE GRÜN[iii]... Die grünen Orchideen wirken zu giftig. Ich entscheide mich für die gelben. Sie sind nicht strahlend gelb, sondern „nur“ gelb, fast wie „verstaubt“. Sie passen zum gelben Cover des Romans DER BLAUE SEE IST HEUTE GRÜN, sie passen zum Wetter: Es ist März und die Frühlingssonne in Wien ist zwar schon viel versprechend, aber die Stadt wirkt, als müsse sie doch noch mühsam den Winter abstreifen.
Ich warte, bis die richtige Straβenbahn kommt Eine Straβenbahn fährt mir vor der Nase weg. Ich steige in die nächste ein. In der gibt es nur einen einzigen freien Platz. Neben IHR. Ich setze mich, ohne SIE zu erkennen... Endlich bin ich am Ziel. Im Auerspergpalais, bei der Literaturwoche für junge LeserInnen. An den Stufen steht die Frau aus der Straβenbahn im Gespräch mit jemandem aus dem Literaturwoche-Team und ich ahne schon, wer SIE ist... „Darf ich Sie vorstellen?“ höre ich die Frage des Mitarbeiters. „Wir sind uns schon uns begegnet,“ erwidert die Frau. Trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob die Frau wirklich SIE ist. Auf den Bildern in den Prospekten und Büchern sieht sie anders aus. Auf allen hatte sie lange Haare. Nun trägt sie einen Pagenkopf. Unter den schreienden Kindern, die auf die Lesung warten, wirkt SIE wie verloren, fast zerbrechlich. SIE nippt an ihrem Kaffee und beobachtet mich. Das macht mich ziemlich nervös. Auβerdem beschäftige ich mich mit dem Schreiben einer Karte, die ich zur Blume legen möchte: ... 'Danke für Ihre wunderschönen Bücher ... ' Die Frau fragt: „Was machen Sie denn?“ „Ich vermute, ich schreibe gerade einen Brief an Sie...“ SIE lächelt mich an: „Es hat uns noch niemand vorgestellt. Ich heiβe JUTTA TREIBER...“
Zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um ein paar Geschichten mit Jutta Treiber zu erleben Die Lesung wurde für Kinder im Alter von 8 bis 10 Jahre geplant. Auf dem Programm standen drei Bilderbücher von Jutta Treiber: DER GROβVATER IM ROSTROTEN OHRENSESSEL[iv], DER KÖNIG TANZT[v] und NA JA[vi]. Jutta Treibers Präsentation dieser Bücher kann man beinahe als Theaterperformance bezeichnen. Eine fesselnde Lesung, bei der die Kinder mitlachen, laut über das Gelesene nachdenken, konkrete Fragen stellen. Jutta Treiber zeigt sich als witzige, quicklebendige Frau, die einfache Geschichten schreiben und persönlich vermitteln kann. Auch ihre Vorlesekunst trägt dazu bei. Sie wirkt wie ein Strom positiver Energie, dem man nur nachlaufen kann. Auf die Frage „Wollten Sie immer Schriftstellerin werden?“ antwortet Jutta Treiber: „Ich wollte immer schon schreiben.“ „Wie heiβt Ihr erstes Buch?“ „Ich will eine Geschichte schreiben“. Nach der Lesung signiert sie Bücher, zu meiner Freude bekomme ich einige geschenkt. Die nächsten zwei Tage sehen wir uns häufig: beim Kindertheater, in der Galerie, bei Gesprächen im Havelka-Café. Wir sprechen über dies und jenes und ich bemühe mich mein wissenschaftliches und journalistisches Ich zu unterdrücken und ihr nicht zu viele Fachfragen zu stellen. Beim Abschied bekomme ich noch ein Buch: einen Roman für erwachsene Leser DIE ZEIT UND HANNAH. „Damit Du weiβt, dass ich nicht immer so bin...“ 'Wie bei der Lesung vorgestern', ergänze ich in meinen Gedanken... Die Literaturwoche ist vorbei, ich glaube, Jutta vermutet, 'unsere gemeinsame Zeit' sei auch vorbei. Juli 2008 Jutta Treiber ist überrascht, dass ich mich wieder bei ihr melde. Mich interessiert der Zusammenhang zwischen Literatur und Theater und ich weiβ, dass sie auch auf diesem Gebiet tätig ist. Sie nimmt mich zum Kinderfestival FORCHTENSTEIN FANTASTISCH auf die Burg Forchtenstein mit. Beim Festival wird das Kinder-Musical FORFEL, ACH UND KROKODEIL[vii] aufgeführt (Text: Jutta Treiber, Musik: Gerhard Krammer). Eine mit Witz geschriebene Geschichte, die die Prinzipien der Situationskomik nutzt. Unkomplizierte Melodien, die leicht ins Ohr gehen. Unterschiedliche Musikgenres, die nach dem Charakter der einzelnen Figuren und Szenen ausgewählt sind. Das Musical wird sowohl vom „kleinen“ als auch „groβen“ Publikum begeistert aufgenommen. Das gleichnamige Buch mit Illustrationen von Nadine Kappacher und die CD mit der Aufnahme des Musicals werden auf der Burg sehr gut verkauft. Einen Tag später sind wir wieder in Oberpullendorf, bei Jutta Treiber zu Hause, und beginnen an unserem Interview zu arbeiten.
Jutta Treiber: „Wie hat Dir FORFEL gefallen?“
Tamara Bučková: „Es war wirklich schön ... Die Leute haben sich sehr gut amüsiert.“
Jutta Treiber: „Ja, sie spielen es schon die zweite Saison, und immer haben sie ein volles Haus. Was ich so positiv finde ist, dass alle Beteiligten ihre Ideen eingebracht haben – der Komponist, die Regisseurin, die Choreographin. Und die Zuschauer wissen das anscheinend zu schätzen." Jutta Treiber beginnt ein Lied aus dem Musical zu singen.
Tamara Bučková: „War es schwierig, die Texte zu den Liedern zu schreiben? Man sagt, dass es überhaupt nicht einfach ist. Entstanden zuerst die Texte und dann die Melodien oder umgekehrt?"
Jutta Treiber: „Schreiben ist nie einfach. Aber es hat mir ungeheuren Spaß gemacht, dieses Musical zu schreiben.“ Jutta deklamiert den Text und klatscht mit den Händen. „Man muss ein Gefühl für Rhythmus, szenische Darstellung und richtige Länge haben Aber – um deine andere Frage zu beantworten: Zuerst entstand der Text und dann die Musik." Sie fährt fort: „Jedes Werk braucht einen anderen Schnitt, andere Sequenzen. Die Länge eines Films ist zeitlich vorgegeben, meistens 90 Minuten. Beim Roman braucht man nicht so streng zu sein. Beim Roman darf die Beschreibungsweise im Vergleich zum Film fast opulent sein. Der Roman für Erwachsene – das Jugendbuch – das Kinderbuch – das Bilderbuch. Alles muss anders geschrieben werden.“
Tamara Bučková: „Du hast dich in der letzten Zeit vor allem den Bilderbüchern gewidmet. Wie lang ist der Text in einem Bilderbuch?“
Jutta Treiber: „Es ist nicht ganz richtig, dass ich mich in der letzten Zeit vor allem den Bilderbüchern gewidmet habe. Ich habe in den letzten zwei Jahren einen Roman für Erwachsene, zwei Kindermusicals und zwei Bilderbücher geschrieben. Zum Umfang: Ein Bilderbuch hat durchschnittlich 12 Doppelseiten. Das bedeutet eine Manuskriptlänge von etwa fünf Seiten, der Text kann aber auch viel knapper sein.“ Jutta Treiber lächelt 'ein bisserl' schmerzhaft: „DER GROβVATER IM ROSTROTEN OHRENSESSEL – mit einem sehr knapp gehaltenen Text - gewann 2007 den Kinderbuchpreis, verkauft sich aber nicht gut. In groβen Verlagen ist es so, dass die Bücher, die nicht laufen, nach einem Jahr verramscht werden.“
Tamara Bučková: „Aber es ist ein sehr gutes Buch, sicher kein Buch für jedermann.“
Tamara Bučková: „Du schreibst sowohl Bilderbücher im engeren Sinne des Wortes als auch Bilderbücher mit längerem Text, in denen die Bilder für die literarische Botschaft „nur“ eine wichtige Nebenrolle spielen. Deine Bilderbücher sind sowohl für Kinder als auch für Erwachsene bestimmt. Du befasst Dich in ihnen sowohl mit den ersten Themen[viii] als auch mit Alltagsgeschichten[ix]. Sind die Bilderbücher für Dich aktuell, weil Du gerne viel Zeit mit Deinem Enkelsohn Manuel verbringst und ihm oft vorliest?"
Jutta Treiber (lacht): „Nein. Alle diese Bilderbücher sind vor der Geburt meines Enkels entstanden. Aber Bücher sind Manuels gröβte Liebe. Meine Freunde behaupten, der kleine Manuel werde seine Oma sehr bald auf ihren Lesereisen begleiten und ihr die Show stehlen.“
Tamara Bučková: „Wann hast Du Dein erstes Kinderbuch geschrieben?
Jutta Treiber: „Als ich noch am Gymnasium unterrichtete. Ich nahm für ein Jahr unbezahlten Urlaub und schrieb meinen ersten Kinderroman OLI UND PURZELBAUM[x]...“ Nach einer kurzen Pause fährt sie fort: „Ich wollte nur eine Geschichte schreiben, die meinem Sohn Mut machen sollte“.
Während Jutta Treiber erzählt, fallen mir die Hintergründe ein. 'Auch Juttas Sohn heiβt Oliver und als Kind war er sehr krank... Wenn ich die Bücher von Jutta Treiber lese, dann lese ich auch in Juttas Leben und umgekehrt.'
Jutta Treiber: "Aber ich habe die Geschichte nicht nur für ihn geschrieben. Ich schreibe nie nur für einen Adressaten." Sie verschwindet kurz im Wohnzimmer und kommt mit einem Buch in der Hand zurück. „Das ist die erste Ausgabe von OLI UND PURZELBAUM. Die Bilder hat meine Kollegin aus dem Gymnasium, Irwin Frank, gezeichnet. Die späteren Auflagen erschienen mit Illustrationen von Maria Blazejovsky."
Tamara Bučková: „Die erste Ausgabe ist aus dem Verlag Nentwich. Bist Du bei diesem Verlag geblieben?“
Jutta Treiber: „Nein. Nentwich ist ein kleiner Verlag und ist nur mit meinen literarischen Anfängen verbunden. Dann kam ich in gröβere Verlage und an gute LektorInnen: Wolf Harranth, Hertha Kratzer (Jugend und Volk), Evelyn Kapaun (Herder), Hubert, Johanna und Cornelia Hladej (Dachs), Johanna Rachinger, Fritz Panzer, Irmgard Harrer (Ueberreuter), Natalie Tormai (Residenz), Vera Sebauer (edition lex liszt 12).“
Tamara Bučková: „Gibt es einen Autor, der Dich besonders beeinflusst hat?“
Jutta Treiber: „In meiner Kindheit war es vor allem Erich Kästner. Ich mag seine Geschichten, ich mag seine Sprache, diesen ironischen Unterton, feine Ironie... Besonders gefiel mir der Roman DAS DOPPELTE LOTTCHEN. Schon der Schauplatz der Handlung – See am Bühlsee – das habe ich als achtjähriges Mädchen total gut gefunden! Da wusste jeder, dass der Ort erfunden ist!“
Tamara Bučková: „Magst Du auch die Verfilmungen dieses Romans?“
Jutta Treiber: „Ja, ich kenne sie alle, obwohl ich die erste Filmfassung besonders gut finde. Die hat mir am besten gefallen.“
Tamara Bučková: „Mit Erich Kästner in der Rolle des lesenden Erzählers?“ Jutta Treiber: „Genau die! Schwarzweiβ mit Isa und Jutte Günther[xi] in den Hauptrollen. Von Erich Kästner habe ich gelernt, dass sich ein Kinderbuch auch an Erwachsene richtet.“
Tamara Bučková (blättert im Buch): „Dein OLI UND PURZELBAUM hat auch eine sozusagen 'kästnerische' Einführung. Der Leser wird mit den einzelnen Personen und Schauplätzen bekannt gemacht... War es auch ein Einfluss von Erich Kästner? Oder war das eine pädagogische Absicht, weil Du ja damals unterrichtet hast und ...“
Jutta Treiber (fällt ins Wort): "Überhaupt nicht! Ich habe es so geschrieben, weil ich es selber als witzig empfunden habe!“
Tamara Bučková überfliegt amüsiert den Text: '... Obereulenburg ist ein mittelgroβes Kleinstädtchen in Österreich, oder genauer gesagt in Oberösterreich. Obereulenburg gibt es wirklich, nur werdet ihr es unter diesem Namen auf keiner Landkarte finden, und daher ist es besser, wenn ihr erst gar nicht zu suchen beginnt. ...'
Tamara Bučková: „Solche Einführungen werden heute manchmal als zu pädagogisch empfunden, es wird behauptet, sie wirken 'altmodisch'.“
Jutta Treiber: „Die Frage ist: Finden die Kinder sie wirklich altmodisch oder meinen nur die Erwachsenen, dass die Kinder sie altmodisch finden?“
Jutta verschwindet wieder im Wohnzimmer, und eine Minute später legt sie stolz die letzte Auflage dieses Romans auf den Tisch: „Auch ohne Einführung lebt das Buch ganz gut. Siehst Du? Erste Auflage:1981, letzte Auflage: 2006.“
Tamara Bučková: „Das Kino spielt in Deinem Leben eine sehr wichtige Rolle.“ (Das Kino in Oberpullendorf gründete Juttas Groβvater schon 1926. Es wurde von Jutta und Hans Peter Treiber zwanzig Jahre lang betrieben. Seit 1996 leitet es ihr Sohn Oliver.)
Jutta Treiber: „Kino ist für mich sehr wichtig. Ich gehe sooft ich kann ins Kino, nicht nur ins eigene, sondern auch, wenn ich in Wien bin oder auf Lesereisen. Ich bin sehr froh, dass Oliver das Kino übernommen hat. Es war, als noch mein Mann und ich es betrieben haben, sehr anstrengend, zu unterrichten und auch im Kino zu arbeiten. Ich habe sogar einige Filme selber gemacht. In den 1980er Jahren. Das war noch im Super-8-Format, ein Format, das später durchs Video und schließlich durch die Digitalkamera verdrängt wurde. Danach habe ich keine Filme mehr gemacht. Ich konnte mich mit den neuen Formaten nicht wirklich anfreunden. Ich habe in meinem Leben schon alles Mögliche ausprobiert. Ich habe Theater und Filme gemacht, ich habe Jazz-Dance-Kurse gegeben. Beim Schreiben hab ich mich in vielen Genres versucht: Hörspiel, Kabarett, Kurzgeschichte, Kinderbuch, Jugendbuch, Bilderbuch, Lyrik, Musical, Roman ... Ich glaube, ich schreibe kein Jugendbuch mehr, ich bin von der Jugend und ihren Interessen schon zu weit entfernt ... “
Tamara Bučková: „Und die Themen, über die Du schreibst? Die Geschichten in Deinen Jugendbüchern sind gar nicht einfach. Sie erzählen von Situationen, die für die ProtagonistInnen und nicht nur für sie ziemlich problematisch sind. Die Literaturkritik grenzt die problemorientierte Prosa mit extremen Themen aus: Droge, Gewalt, Mobbing... Sind Deine Romane Problemerzählungen oder Alltagsgeschichten?“
Jutta Treiber (lächelnd): „Die Klassifizierung ist Sache der Literaturkritik. Wenn sie es so klassifiziert, dann mag es so sein. Dann fällt nur der Roman VERGEWALTIGT in diese Kategorie. Die anderen sind Alltagsgeschichten oder sie stehen an der Grenze zur Problemerzählung. Pragmatisch gesehen ist das Lesepublikum wichtiger. Über positive Kritiken freue ich mich. Wenn sie negativ und fundiert sind, dann versuche ich, daraus zu lernen. Wie sagte doch weiland der gute Lessing: „Wer wird nicht einen Klopstock loben? Doch wird ihn jeder lesen – nein! Wir wollen weniger erhoben und fleißiger gelesen sein.“ Trotzdem lasse ich sie an mich nicht heran ... Ich mag Kategorisierungen nicht besonders. Ich schreibe nicht für eine bestimmte die Schublade, sondern das, was ich schreiben will oder muss. Es sind die Themen, die sich von selber aufdrängen. Und dabei drängt sich oft auch die Form auf. Themen und Motive finde ich überall. In meinem eigenen Leben, in der Familie, im Leben meiner Freunde, im Bekanntenkreis. Ich übernehme diese Geschichten nicht. Ich greife nur das Thema auf, zu dem ich meine eigenen Geschichten schreibe. Ich flechte sie zusammen wie einen Zopf ...“
Tamara Bučková: „Wie? Zwei Teile Fiktion und ein Teil Realität? Oder umgekehrt? Oder noch anders?
Jutta Treiber: „Ich stelle mir diese Frage nicht. Im Grunde genommen ist das nicht zu trennen. Wenn ich ein Buch schreibe, schöpfe ich aus meinem realen Leben. Aber durch den Schreibakt verändert sich die Realität in eine fiktive Wirklichkeit.“
Tamara Bučková: "In Deinen Büchern gibt es sehr viele autobiographische Züge. Wurdest Du schon mal kritisiert, weil Deine Bücher so real wirken?"
Jutta Treiber: „Einmal wurde mir gesagt, dass es Männer in meinen Büchern entweder nicht gibt oder dass sie vor allem negativ dargestellt sind. ... Vielleicht ist das durch meine 'Männerwelt' verursacht. Mein Bruder ist behindert, mein Vater war sehr selten vorhanden, das machte meiner Mutter und auch mir das Leben nicht einfach. Dann, als ich den Roman HERZ- UND BEINBRUCH geschrieben habe, habe ich mich bemüht, ein positives Vaterbild darzustellen. Ich hätte nicht gedacht, wie schwierig es für mich sein kann, eine positive Beziehung zwischen der Tochter und ihrem Vater zu beschreiben...“
Wir machen uns zu einem Spaziergang durch Oberpullendorf auf. Jutta Treiber: „... In unserem Kino habe ich meine ersten Lesungen gemacht. ... In diesem Schwimmbad habe ich HERZ- UND BEINBRUCH geschrieben. Ich habe halb gesessen, halb gelegen auf einer Liege, das Bein hoch, ich habe mir gesagt, ja, so kann ich mich in meine Protagonistin gut einleben, in dieser Position liegt Petra im Krankenhaus. ... In diesem Heim für Behinderte hat mein Bruder einige Zeit gelebt, jetzt lebt er wieder bei meiner Mutter..., aber das weiβt Du ja schon ...“
Ja, ich weiβ es, weil ich Juttas letzten Roman HANNAH UND UND ZEIT gelesen habe. Jutta Treiber rät meinen Gedanken: „Nicht alles war so wie in HANNAH ...“ Später setzen wir das Interview fort:
Tamara Bučková: „Und Dein Haus ist das Sommerhaus aus HANNAH?“
Jutta Treiber: „Ja.“
Tamara Bučková: „Und dieses Bild an der Wand ist das Coverbild zu HANNAH.“
Jutta Treiber: „Ja, von Josef Pauschenwein. Und dieses Bild,“ zeigt Jutta Treiber auf die andere Wand, „heiβt EINSAMER MENSCH und ist von Franz Hametner. Dieses Bild kennst du aus dem Roman SOLANGE DIE ZIKADEN SCHLAFEN. Ich beschreibe dieses Bild als das letzte Bild, das die kranke Mutter im Krankenhaus vor ihrem Tod zeichnete.“ Das Bild heiβt zwar EINSAMER MENSCH, aber trotzdem ist es mit warmen Farben gezeichnet und wirkt nicht traurig.
Nach einem sonnigen Nachmittag, den sie mit Manuel am Neusiedler See verbracht haben, sieht Jutta Treiber, dass ich am Computer sitze und die Einführung aus der ersten Auflage des Buchs OLI UND PURZELBAUM abschreibe und sagt: „Tamara, lass es sein, das ist schon die Vergangenheit, HANNAH ist aktuell...“ DIE ZEIT UND HANNAH. ROMAN IN DREI TEILEN ist ein Werk, das in die Endrunde für den Buch.Preis 2007 nominiert wurde. Auf dem Buchrückencover kann man folgendes Zitat lesen: '... Stationen des Lebens einer Frau, welche die Autorin in ihrem Roman abschreitet. Nichts Ungewöhnliches passiert in dem Buch, nur übliche Eifersucht, Untreue und Gewalt. Doch wie Jutta Treiber die 30jährige Leidenszeit sprachlich durchdringt, das ist auβergewöhnlich. ...' (Die Presse). Trotzdem gibt es im Roman VIEL Ungewöhnliches. Dies VIEL beruht darin, wie die Autorin Leiden, Schmerz, Sehnsucht nach Liebe und Freiheit konzentrieren kann. Die Freiheit bedeutet für HANNAH Befreiung aus ihrem eigenen Leben. Der Roman ist eine Montage aus Beschreibungen und innerem Monolog, der das Erlebte reflektiert. Ein Roman mit stark autobiographischen Zügen. Ein chronologischer Aufbau, in den Blicke in die Vergangenheit hineinkomponiert sind. Eine Retrospektive, die auch dem chronologischen Aspekt untergeordnet ist, bietet Erklärungen aus dem Leben einer Frau, einem Leben, über das im Zeitraffer mit einer brillanten Erzähltechnik berichtet wird. Noch ein Zitat aus der Kritik auf dem Cover zum Buch: '... Jutta Treiber hat einen der traurigsten und zugleich erhebendsten Romane geschaffen, welche die junge österreichische Literatur hervorbringen kann. Sie steht damit auf der Höhe der klassischen Moderna...' (Literarisches Österreich). Tief in der Nacht sitzen Jutta und Hans Peter Treiber und ich auf der Terrasse, trinken Wein und Hans Peter fragt mich: „Und was sagen Sie zu HANNAH?“ HANNAH ist überall. Schon vorher hat Jutta Treiber erzählt: „Den ersten Teil Zeit.Raffer habe ich vor 20 Jahren geschrieben. Der dritte Teil Zeit.Lupe kam nach Olivers letzter Kopfoperation. Der zweite Teil Zeit.Schnitt ist erst danach entstanden. Am Roman habe ich 20 Jahre lang gearbeitet. Die Figuren habe ich mehrmals umbenannt, an den Geschichten habe ich weiter oder neu gearbeitet und dann habe ich sie zusammengeknüpft und daraus einen Roman gemacht.“
Hans Peter Treiber: „Mich würde der Blick von auβen interessieren.“
Tamara Bučková: „Woher wissen Sie, dass ich auβen bin? Oder wie weit ich auβen bin? Der Roman bietet so viele Identifikationsfragen...“
Nicht nur der Roman, sondern auch die Frauenwelt werden zum Thema des Gesprächs. Hans Peter verabschiedet sich. Die Nacht ist kurz, die Zeit läuft und lässt sich nicht aufhalten. Der neue Tag, die letzten Sätze am Bus. Ich winke, Jutta wird kleiner und kleiner, und schließlich ist sie ganz verschwunden. Ich denke an die Straβenbahngeschichte, die am Anfang stand, ich denke an Jutta Treiber. Wenn ich sie mit einem Wort charakterisieren sollte, dann würde ich das Wort 'GESCHICHTEN' wählen. GESCHICHTEN bilden ihren Alltag, GESCHICHTEN sind für sie die Verbindung zur Welt, in der sie lebt und über die sie in ihren Büchern erzählt.
[1] Jutta Treiber (* 1949) ist in Oberpullendorf in Burgenland geboren. Sie hat einen um acht Jahre jüngeren, behinderten Bruder Walter. Sie maturierte mit Auszeichnung am Gymnasium in Eisenstadt. Nach der Matura studierte sie Anglistik und Germanistik an der Universität in Wien. Von 1972 bis 1988 unterrichtete sie am Gymnasium in Oberpullendorf. Sie gab auch Kurse in Jazz-Dance und Bühnenspiel. Seit 1988 arbeitet sie als freiberufliche Autorin. Jutta Treiber ist verheiratet. Ihr Mann, Dr. Hans Peter Treiber, wirkt als Deutsch- und Sportlehrer am Gymnasium in Oberpullendorf. Jutta Treiber hat zwei Kinder – Sohn Oliver und Tochter Bettina. Oliver leitet seit 1996 das Kino in Oberpullendorf. Bettina studierte Germanistik und Theaterwissenschaften an der Universität in Wien. Sie hat einen Sohn, den dreijährigen Manuel. (Nach den Webseiten der Autorin). [i] HERZ- UND BEINBRUCH (Ueberreuter, 2000. Jugendbuch Übersetzungen: Tschechisch) – eine Liebesgeschichte, die nicht nur über den Liebeskummer der Teenager erzählt. Die Hauptprotagonistin Petra fällt am ersten Ferientag vom Kirschbaum, bricht sich ein Bein und alle Ferienträume lösen sich auf: Kein Sommer mit Harry, sondern 14 Tage im Krankenhaus und viel Zeit zum Nachdenken. Hält die Liebe eine solche Prüfung aus? Schon die Metapher im Titel deutet an, dass nicht nur Petras Bein gebrochen werden kann. Die Beziehung zu Harry, zu ihrem kleinen, behinderten Bruder Miki und zu den Eltern bilden thematische Linien, die das Portrait von Petra aufzeichnen. Die Handlungslinie ist einfach, die chronologische Perspektive ist durch die im Krankenhaus verbrachten Tage gegeben, die Retrospektive erscheint in Form kurzer Passagen, die ziemlich autonom wirken und nicht einmal an Kurzgeschichten erinnern. Im Werk sind Elemente des psychologischen Romans zu finden. Die erste Liebe scheint nur das Hauptthema zu sein, das die Erörterung anderer Themen ermöglicht, die für Petra letztendlich viel wichtiger sind. Der Roman verfügt über eine brillante Erzähltechnik. Nicht nur Jugendliche, sondern auch Erwachsene finden in Petras Geschichte Vieles, was sie berührt. Der Roman HERZ- UND BEINBRUCH bekam im Jahr 2002 den Leserstimmenpreis. [ii] SOLANGE DIE ZIKADEN SCHLAFEN (Roman für junge Erwachsene. Überreuter 1998, Bertelsmann 1999. Übersetzungen: Dänisch, Tschechisch). – Ein in Ich-Form geschriebener psychologischer Roman mit dem Thema Krankheit, Tod, das Leben nach dem Bruch. Wie prägt Mamas Tod das Leben der kleinen Anna und ihrer älteren Schwester Flo? Und das Leben ihres Vaters? Alle müssen mit dieser schwierigen Lebenserfahrung und auch mit der neuen Situation zurecht kommen. Flo geht nach Wien, um Psychologie zu studieren. Der Vater findet eine neue Freundin, Anna lehnt alles ab, was Mama „ersetzen“ könnte ... Als Papas Freundin eingezogen ist, wird Annas Protest ziemlich demonstrativ. Erst ein Brand in der Wohnung, der alle in eine neue Situation bringt, eröffnet den Raum für neue, schon friedlichere Beziehungen aller ProtagonistInnen. Es handelt sich um einen Roman mit 2 Kompositionsplänen – der Vergangenheit und Gegenwart. Es wird mit beiden Plänen gleichzeitig gearbeitet. Die Hauptheldin, die vierzehnjährige Anna, bemüht sich um einen neuen Blick in die Vergangenheit, sie bemüht sich einzelne Erinnerungen an die Zeit, in der Mama krank war und im Sterben lag, chronologisch und logisch zu verbinden. Die Erinnerungen werden aus Annas Sicht interpretiert und in die nicht weniger komplizierte Gegenwart gesetzt. Scharfe Dialoge dienen als Mittel zur Konfigurationsdarstellung und sind vor allem für den Kompositionsplan der Gegenwart charakteristisch. Die Dialoge werden zum Prinzip, durch das die Spannung im Roman gesteigert wird und das mit der Verwicklung am Ende des Romans– mit dem Brand – effektiv verknüpft ist. Ein Roman nicht nur für junge Erwachsene. [iii] Im Roman DER BLAUE SEE IST HEUTE GRÜN (Roman für /junge/ Erwachsene. Erste Auflage J&V 1995, bearbeitete Neuauflage Ueberreuter 2005. Übersetzungen: Slowenisch, Dänisch, Japanisch, Chinesisch /Taiwan/, Tschechisch, Rumänisch, Griechisch, Spanisch, Estnisch) wurde das Thema 'frühe Mutterschaft' zum Anlass für die Schilderung mehrfacher Generationsbeziehungen. Gisela, die gerade vor der Matura steht, wird schwanger. Sie entscheidet sich für das Kind, sie entscheidet sich es allein aufzuziehen. Ihre Mutter hilft ihr mit dem Baby so sehr, dass Gisela meint, ihre Mutter-Rolle werde ihr gestohlen... Gisela sucht ihre Ruhe am See, der seine Farben nach den Umständen ändert. Der Roman ist in fünf Kapitel gegliedert und nutzt so das klassische fünfteilige Prinzip der Konflikt-Entwicklung. Die Farben werden zu Titeln der einzelnen Kapitel. GRÜN am Anfang drückt die Unsicherheit, den Trost in der neuen Situation und die Hoffnung auf eine gute Entscheidung aus. Es folgt SCHWARZ. Der schwarze See ist das Symbol des kommenden 'Sturms'. Die Entscheidung ist getroffen, das Kind ist noch nicht geboren und trotzdem gibt es schon so viele Probleme und Veränderungen... WEISS stellt die Unschuld des neuen Lebens dar. Das Kind kommt im Januar auf die Welt. Der See ist zugefroren, mit Schnee bedeckt. Gisela wählt für ihre Tochter den Namen Irene – Frieden. 'Völlig unpassender, aber schöner Name,' meint sie. GRAU symbolisiert den Konflikt mit der Mutter und die Enttäuschung über die Ferienliebe nach der Matura. BLAU bedeutet eine neue Begegnung mit George, dem Vater der kleinen Irene. Der Roman ist in Er-Form geschrieben. Der Erzähler ist nicht auktorial. Der Leser soll die Unruhe der Protagonisten aufnehmen und in der Eile des Lebens mit ihr nach einer Richtung suchen. Ein Roman, dessen Thema ganz untradionell behandelt wurde. Der Roman DER BLAUE SEE IST HEUTE GRÜN bekam mehrere Preise, zu den bedeutendsten gehört der Österreichische Jugendbuchpreis 1996. [iv] Das Bilderbuch DER GROβVATER IM ROSTROTEN OHRENSESSEL (Patmos 2006, Bilderbuch, Illustrationen von Jens Rasmus) handelt von einem kleinen Jungen, der in seinen Erinnerungen lebt und sich so mit dem durch Alter und Krankheit veränderten Bild seines Groβvaters auseinandersetzt. Es handelt sich um ein zweidimensionales Buch. Die Brücke zwischen der nüchternen Welt der Realität und der farbigen Welt der Phantasie bilden die Bilder aus der Zeit mit dem Groβvater. 'Die Flucht in die Phantasie gibt dem Jungen Halt und spendet Trost ...', lesen wir auf dem Buchrücken. Eine in Ich-Form geschriebene Geschichte. Die Hauptfigur erzählt einfach: wählt keinen komplizierten Wortschatz, beschreibt und benennt die Tatsachen, die sie sieht, aber nicht versteht. Den Authentizitätseindruck betont die Graphik. Der Text sei für den Leser mit der Hand des Jungen geschrieben worden. Die Einfachheit der Sprache bringt eine Art der Poetik mit sich, die durch die Illustrationen verstärkt wird. Ein Buch zum gemeinsamen Lesen, ein Buch zum Nachdenken ... Das Bilderbuch DER GROβVATER IM ROSTROTEN OHRENSESSEL bekam im Jahr 2007 den Österreichischen Kinderbuchpreis. [v] Das Buch DER KÖNIG TANZT (Bilderbuch, Illustrationen von Iris Wolfermann, Annette Betz Verlag 2007) ist eine lustige Antikriegs-Geschichte, die inhaltlich und sprachlich, 'Ach du lieber Cha-Cha-Cha', ihre Botschaft mit witziger Tanzeleganz erzählt. Es wird kurz über das Leben im Land eines ewig tanzenden Königs und über den Besuch eines griesgrämigen Präsidenten (Generals) aus dem Andersland berichtet. Der Gegenbesuch im Andersland, das an an einen Staat mit Armeeregime erinnert, wird für den lebensfrohen König zur schwierigen Aufgabe... Einfache Handlung, chronologische Komposition, narrative Themenentwicklung, in die die Tanznamen in den sprachlichen Bildern eingearbeitet sind: Die Wochentage tragen ihre Namen nach den einzelnen Tänzen, die Namen der Tänze werden zu einem Teil der typischen Redewendungen des Königs. Im Buch finden wir farbige Illustrationen, die dem Leser die unterschiedliche Stimmung im Königreich und im Andersland deutlich machen. Die Figuren im tanzenden Königreich wirken naiv und verfügen über Elemente der Kinderzeichnungen, die Figuren im Armeeregime tragen Züge einer Karikatur. Die Spuren, die die Tanzschritte darstellen, bilden die inneren Seiten des Bucheinbandes. Das Buch DER KÖNIG TANZT beweist, dass man mit Kindern auch über ernste Dinge in leichtem Ton sprechen kann. [vi] NA JA (Bilderbuch für jedes Alter. Illustrationen von Susanne Eisermann. NP Verlag 2002) ist eine einfache, in Bilderbuchform umgewandelte Anekdote, die am Beispiel der personifizierten mit ihrem Körper unzufriedenen geometrischen Formen die ständige Unzufriedenheit der Leute reflektiert. Minimaltext, einfache Bilder, funktionell benutzte Farben und Graphik und minimalisierte Handlung, die dem Leser das komplizierte Lebensschicksal geometrischer Formen vermittelt: Das Dreieck ist zu spitz, der Kreis zu rund, das Quadrat zu eckig. Der Besuch beim Figurenchirurgen verändert viel und trotzdem gar nichts. Die chirurgisch verbesserten, neu entstandenen Formen – Kreieck, Quaeis, Dreidrat – möchten wie früher aussehen. Das geht leider nicht mehr. 'Ende' - das einzige Wort auf der letzten Seite setzt einen definitiven Punk hinter die Geschichte. Das Buch NA JA ist in den Buchhandlungen unter den Geschenkbüchern zu finden. Sicher werden sich sowohl die Kinder, als auch Jugendliche oder Erwachsene gut mit ihm amüsieren. [vii] FORFEL, ACH UND KROKODEIL (Kinderbuch. Illustrationen von Nadine Kapper, edition lex litz 12, 2007) ist eine lustige Geschichte über die Burgmaus Forfel, das Burggespenst Ach, eine königliche Familie mit Prinzessinnen Rosetta und Koketta und letztendlich über den in ein Krokodeil verzauberten Prinz Ali Gator, der von der kleinen Prinzessin Rosetta erlöst wird. Die fröhliche Hochzeit der Prinzessin Koketta und des Prinzen Ali Gator krönt die Musicalgeschichte. '...ein groβes Abenteuer mit Spuk, Rittern und Zauberei...' lesen wir in der Werbung auf dem Cover der gleichnamigen CD. [viii] An dieser Stelle ist der Titel DIE BLUMEN DER ENGEL (Bilderbuch. Illustrationen von Maria Blazejovsky, Ueberreuter 2001) zu nennen. Das Buch erzählt über den Tod der kleinen Mara, deren Schwester Sonja auf einmal allein bleibt ... [ix] Als typische Beispiele sind hier MAXELINE REGENSCHIRM (Bilderbuch. Illustrationen von Birgit Antoni. Dachs 2005), MAXELINE SONNENSCHEIN (Bilderbuch. Illustrationen von Birgit Antoni. Dachs 2003) anzuführen. Es handelt sich um einfache Alltagsgeschichten über Kleinkinder und für Kleinkinder. Das Erzählen über das Alltägliche basiert auf dem Prinzip Metapher, es wird über den Alltag (über den Regen und Spaziergänge in den Pfützen, über die Sonne und den Sonnenbrand) wie über ein spannendes Spiel erzählt. [x] OLI UND PURZELBAUM (Kinderbuch. Erste Auflage Nentwich 1998, letzte Auflage Herder 2006) erzählt über den zehnjährigen Oliver, der mit vielen neuen Umständen in seinem Leben zurecht kommen soll: Olis bester Freund ist nach Deutschland umgezogen, in der Familie ist das neugeborene Schwesterchen, das in der Familie Purzelbaum genannt wird und das Mamas ganze Zeit in Anspruch nimmt. Papa hat sowieso nie Zeit und in der Schule ist ein neuer Lehrer, der meint, er verstehe alles. Alles geht auf einmal sehr schnell und sehr schief... Die Rettung für Oli stellt seine moderne Oma Blu dar. Der Roman ist eine chronologisch erzählte, spannende und humorvolle Geschichte. Nach mehreren Verwicklungen folgt eine fröhliche Lösung mit Zügen der Gerechtigkeit, die den Wandel mehrerer Figuren begleitet. Man kann den Roman OLI UND PURZELBAUM heute schon als neuen klassischen modernen Kinderroman bezeichnen. Der Roman ist immer noch aktuell und wird von den Kindern gerne gelesen. [xi] DAS DOPPELTE LOTTCHEN, Regie: Josef von Báky, Filmstart 1950; der Film gewann 1950 den Preis DAS GOLDENE FILMBAND als bester Kinderfilm. Bis heute gilt er als unübertroffen.
Tamara Bučková ist Germanistin und Bohemistin in Prag.
„Stachel-Charlie“ und sein Platz in der Weltkinderliteratur Vermisst man heute: Janwillem van de Weterings Kinderbücher Zum Tode von Janwillem van de Wetering (Juli 2008)
(librikon) Eichendorffs „Taugenichts“ wäre stolz auf seinen Nachfahr gewesen. Denn wer da pfeifend durch die Lande zog, die Natur, die Schöpfung genoss, das war ein würdiger Kumpane aller das Leben liebenden, Abenteuerlustigen, Aufbrechenden. Janwillem van de Wetering, am 12. Februar 1931 in Rotterdam geboren, hat von seinem 18. bis 34. Lebensjahr in England, in Südafrika (wo er eine kurze Ehe mit einer Skulpturen erschaffenden Künstlerin führte), einige Jahre in seinem Geburtsland (wo er Ersatzdienst leistete, um nicht Soldat sein zu müssen: Er war Hilfspolizist in Amsterdam), in Südamerika gelebt und ist durch diese Länder und Kontinente gereist. In Kolumbien lernte er seine Frau, Juanita, kennen, die beiden bekamen eine Tochter, die sie Thera nannten, ein Name mit buddhistischem Anklang. 1963 gingen sie mit Kind nach Brisbane in Australien, Janwillem van de Wetering arbeitet, wie schon in Südafrika, einige Zeit für Außenhandelsunternehmen. 1965 folgte die Rückkehr in die Niederlande, ein Onkel Juanitas war verstorben und hatte eine Firma hinterlassen. Ideal für die Familie Wetering; kein Angestelltendasein, Freiraum und die Möglichkeit, Geld zu verdienen. Zehn Jahre hielt es sie, van de Wetering veröffentlichte in den siebziger Jahren seinen ersten Krimi, der den Auftakt zu einer bis heute publikumswirksamen Reihe, in der die Amsterdamer Polizei ermittelt, darstellte. Zehn Jahre Niederlande; dann packten die van de Weterings 1975 wieder ihre Sachen. Sie segelten an der Küste vor Main, reisten durch Europa, beschäftigten sich in Papua Neuguinea mit Primitiver Kunst. Und Janwillem van de Wetering ging auf Sinnsuche; ein Jahr verbrachte er in einem buddhistischen Kloster. Eine Zeit, von der er sagte, dass sie ihm nichts gebracht hat. Seine Erfahrungen schrieb er in „Der leere Spiegel“ (1981) nieder; ein Bestseller ohne Verfallsdatum. Doch das Jahr zuvor war ein entscheidendes Jahr für die Kinderliteratur: Van de Wetering veröffentlichte den ersten Band von „Stachel-Charlie“, es folgten „Stachel-Charlies Lieblingsplatz“ (1981) und „Stachel-Charlie löst ein Problem“ (1983) und "Stachel-Charlie und der gestrandete Hund" (2000). Die „Stachel-Charlie“-Bücher sind ein kindgerechter Ruf nach Unabhängigkeit, eine Bündelung an freiem Spiel literarischer Kräfte. Menschelnde Tiere müssen nichts von Fabelwesen haben, Abenteuer sind jenseits von Zauberkräften und Fantasywelten zu erleben – das beweisen diese Bücher, die ein stilvoller Leseschmaus für Kinder waren. Und bis heute sein könnten: Doch sind die Kinderbücher (es gibt noch „Little Owl“ (1978) und „Eugen Eule und der Fall des verschwundenen Flohs“ (2001; auf deutsch geschrieben) des berühmten Krimiautors nur noch antiquarisch erhältlich. Als Autor bleibender Kinderliteratur haben ihn seine Leser, Genießer guter Krimis, nicht entdeckt. Bis zu seinem Krebstod am 4. Juli 2008 lebte er mit seiner Familie (eine Enkeltochter kam noch hinzu) in Maine, in einem japanischen Haus mit Meeresblick und Atelier, in dem er Skulpturen schuf. 1984 hatte Juanita ein Kochbuch publiziert: „Alles wat lekker is“. Eine Familie mit Sinn für diesseitigen Lebensgenuss; das spürt man als Leser von „Stachel-Charlie“ und vermisst solche Bücher heute schmerzlich. Der Gedanke, dass monströse Werke mit Zauberquark und billiger Sprache ihren Siegeszug fortsetzen, schmerzt, verhindern solche Über-Erfolge doch die Aberkennung für leise, gute Werke. Werke wie die van de Weterings. In der Geschichte der Weltkinderliteratur haben jedoch sie ihren Platz.
Selbstgebackener Pflaumenkuchen und Denkvorschriften Judith Kerrs Werk(e) in der Bundesrepublik Aus Anlass ihres 85. Geburtstages (Juni 2008)
(librikon) Mit Judith Kerr ist 1923 eine Kinderbuchautorin zur Welt gekommen, die Maßstäbe gesetzt hat. Sie hat der Kinderliteratur Stil und Anstand gegeben, sie hat sie um Großbürgerlichkeit, um den Tonfall einer echten Dame bereichert. Gut gemeinte, auch gut geschriebene Bücher mitten aus dem Herzen von Müttern gab es vor Judith Kerr einige. Mit ihr jedoch hielt Weltläufigkeit, Horizont, Bildung Einzug in die weibliche Schaffenswelt des Kinderbuches. Geradezu zwangsläufig konnte sie nun die Perspektive eines Kindes, einer Tochter glaubhaft in Buchform bringen. Mit der Trilogie über ihre Kindheitserlebnisse legte sie Bücher vor, die dem Kind den Mittelpunkt dieser Welt einräumten. Ehrlichkeit prägt die Bücher von Judith Kerr, und als wäre diese Ehrlichkeit nicht zu verkraften, nahmen sich die erwachsenen bundesrepublikanischen Leser in einer diskussionserstickenden Lobeswut dem ersten Band, „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“, an. Das war 1971. Beste Zeit für ein Buch, das die Hitlerzeit für Kinder und Jugendliche erzählt. Schlechte Zeit für ein Buch, dem vorauseilende Betonköpfe auf Jahrzehnte den Weg verstellten. Lila Tücher, Sitzblockaden in Mutlangen, Jesus-Buttons; die Bundesrepublik wurde gut, böse waren die Alten, und unter dem Arm trug man Bücher von Heinrich Böll. Seinem Kind gab man –nicht ohne es vorher gelesen und beim selbstgebackenen Pflaumenkuchen als erschütternd, als ein Muß deklariert zu haben- das von Bölls Frau übersetzte „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“. Die jungen Leser, trainiert darin, sich kein eigenes Urteil zu bilden, lasen’s und fanden’s wie gewünscht toll. Die paar anderen fassten es lieber gar nicht an; hysterische Begeisterung – da kann etwas nicht stimmen. Unter den Besseren und Gebesserten, die heute, grau geworden, ein bisschen Müll trennen und deren geistige Nachfahren gleich kinderlos geblieben sind, war ein überdurchschnittlicher Anteil Lehrer. So geschah es unweigerlich, dass Judith Kerrs Kindheitserinnerungen Schullektüre wurden. Das bedeutet bekanntermaßen ja das Ende für jedes Buch: Leser, die es um seiner selbst lieben, wird es nie mehr haben. Die erste Generation der Geschädigten, die natürlich auch (beispielsweise Bert) Brecht nicht mehr anfasst, ist längst erwachsen und sieht schweigend dabei zu, wie die Deutungshoheit über Judith Kerr für immer von didaktischem Zwangsdenken verteidigt wird. Aber wie jeder weiß, liest keiner mehr als nötig, wenn’s um den Deutschunterricht geht. Das ist die Chance für die anderen Bücher von Judith Kerr, die beiden weiteren Bände der Trilogie, „Warten bis der Frieden kommt“ (1975) und „Eine Art Familientreffen“ (1979). Judith Kerr lebt seit langem in England, hat 1954 Thomas Nigel Kneale geheiratet und zwei Kinder bekommen; Matthew Kneale ist bekannt als Autor von „Englische Passagiere“. Ihr Bruder war Richter am höchsten englischen Gericht, mit ihm zusammen hat sie die an den Vater erinnernde Alfred-Kerr-Stiftung ins Leben gerufen. Auf englisch ist noch viel von Judith Kerr erschienen, übersetzt (und vergriffen, obwohl einst große Erfolge) sind „Ein Tiger kommt zum Tee“ (1984) „Die Abenteuer von Mog, dem verflixten Kater“ (1993). Wo nämlich das westdeutsche Kleinbürgertum Judith Kerrs sprühender Intellekt zu weit gegangen ist, da hat ganz schnell die Schotten dicht gemacht. Sie ist eine Literatin für den kleinen Kreis, der es gewohnt ist, selbst zu denken und jedes Buch abwägend zu lesen. Judith Kerrs Zeit wird in Deutschland vielleicht noch kommen.
Leben und Werk von Maurice Sendak Aus Anlass seines 80. Geburtstages (Juni 2008)
(librikon) Natürlich sind die Kinder Legion, die “Wo die wilden Kerle wohnen” von Maurice Sendak kennen. Und sonst nichts von ihm. Kaum erstaunlich: Es ist sein berühmtestes Buch. 1963 in den USA veröffentlicht, hatte es das Glück, noch nicht vom Flower-Power-Dogma plattgemacht werden zu können: Das hätte ihm den Ruhm gekostet. Schließlich ist des Helden Max’ Mutter, die ihn ohne Essen ins Bett schickt, ein übles Produkt seelischer Prügelpädagogik. In den späten sechziger Jahren wäre ein solches Buch, das ausspricht, was Wirklichkeit ist, mundtot gemacht worden. Natürlich hat sich in den Kinderleben seither nichts wirklich verbessert, daher geht die Renaissance der Kinderquälerei durch erwachsene Leistungsträger auch so mühelos vonstatten. Zumal in Deutschland, wo „Wo die wilden Kerle wohnen“ große Erfolge feierte. Von 1967 an, dem Jahr, als die deutsche Übersetzung erschien, gehörte Sendaks Buch bei vielen Kindern zur Wärme der Kindheit, so warm wie das Abendessen, das der freche Max dann doch noch von seiner allmächtigen Mutter bekommt. Warm hatten sie es, die Kinder damals, die den Kindern von heute so richtig den Garaus machen. Ist etwa „Wo die wilden Kerle wohnen“ schuld daran, dass Kinder nicht mehr durch Wälder toben dürfen, sondern frühgefördert, angepasst, höflich, brav, durch Schulen gejagt zu Wirtschaftssubjekten und Rentenkasseneinzahlern werden sollen? Dass von ihrem Leben nur die strenge Mutter übrigbleibt und die mühsam zusammengekratzte Phantasie, es auch einmal allen zeigen zu können und König zu sein (wie Max es sich erträumt)? Und dann ganz klein wieder zurückzukehren, nur froh um ein Essen? Ja, „Wo die wilden Kerle wohnen“ ist ein Buch, das Spießigkeit zum Thema macht, sie in einer künstlerisch prachtvollen Variante vorführt – allein: Die meisten Leser haben nicht bemerkt, dass ihnen der Spiegel vorgehalten wurde. Sie fühlten einen wohligen Schauer, wie der Max das warme Essen riecht und nun weiß, wie die mächtige Erwachsenenwelt ihn doch so treu beschützt. Aus den Erwachsenen, die das als Kinder lasen, mussten ja die Kindheitszerstörer werden, die sie heute sind. Etwas Positives aber haben sie erreicht: Sie haben den anderen Sendak ermöglicht, der, der mit den Honoraren aus „Wo die wilden Kerle wohnen“ im Rücken weitere Kinderbücher erschaffen konnte. Während die einen Mütter den Bestseller kauften, konnten die anderen zu „Higgelti Piggelti Pop! Es muß im Leben mehr als alles geben“ (1969) greifen. Darin sucht Jenny, ein Hund (Vorbild war Sendaks Hund; er war sein treuer Begleiter; als er einging, trauerte Sendak sehr), Jenny sucht nach dem Glück; subversiv, originell, zuviel für die Nerven des großen Publikums (heute vergriffen). Sendak war nicht in jedem Haushalt gleich Sendak, denn eine solche Künstlerfamilie bringt einiges hervor. Der Vater, Philip Sendak (1894 bis 1970), hat Kinderbücher geschrieben, der Bruder von Maurice, Jack (1924 bis 1995), auch – und mit „Hexen haben kalte Nasen“ stand Jack gut und eine Spur surrealistischer neben „Higgelti Piggelti Pop!“. Maurice war sein um vier Jahre jüngerer Bruder, und gemeinsam haben sie in ihrer Kindheit in New York im polnisch-jüdischen Milieu (die Eltern waren im Ersten Weltkrieg ausgewandert) viele Welten nebeneinander erlebt. Sadie Sendak, die mit Mädchennamen Sarah Schindler hieß, umsorgte ihre drei Kinder sehr und ließ ihnen die Freiheit zur künstlerischen Betätigung. Ende der vierziger Jahre, als es darum ging, ein Auskommen zu finden, taten sich die Geschwister zusammen; die Brüder bauten Holzpuppen, die Schwester Natalie nähte Kleidung. Der Weg zum Spielzeugladen endete mit einem Job: Schaufenstergestaltung! Und weil damals die Programmchefs von Verlagen nicht vor dem Computer saßen, sondern auch einmal in Spielzeugläden vorbeischauten, kam eines Tages Ursula Nordstrom und lernte die Sendaks kennen. Sie leitete beim Verlag Harpers & Brothers die Kinderbuchsparte, dreißig Jahre lang, und war Entdeckerin und Fördererin vieler Autoren. Auch von Maurice Sendak. 1951 erschien „The Wonderful Farm“ von Marcel Ayme mit Illustrationen von Sendak. Ohne Ursula Nordstrom (1910 bis 1988) gäbe es die vielen Bücher von Sendak (nur ein Bruchteil ist ins Deutsche übersetzt worden) nicht. Über sie lernte er Ruth Krauss (1901 bis 1993) kennen: „Vor der Kommerzialisierung des Kinderbuchs, da war Ruth Krauss“, hat Sendak über sie gesagt. Krauss und ihr Ehemann Crockett Johnson (siehe die Rezension seines Buches „Der Zauberstand“ in der Rubrik „Das Eine Buch“) waren über 40 und literarisch gereifte Persönlichkeiten, als der knapp über 20jährige Maurice mit ihnen zu arbeiten begann. Mit Ruth Krauss publizierte er als erstes „Ein Loch ist, was man gräbt“ (engl. 1952; auf deutsch vergriffen), ein unglaublich unabhängiges Buch. Acht weitere folgten (übersetzt wurden nur „Viele, viele Kinderspiele“ und „Es ist fein, klein zu sein“). Sendak ist hier noch ganz nah an den Kindern, die die Bücher betrachten sollten. Er ist ein Stück seines ruhmreichen Weges gegangen, als 1970 ein Sturm über ihn hereinbricht: „In der Nachtküche“ (dt. 1971) ist ein nackter Junge zu sehen. Das Buch hatte erbitterte Feinde, und Sendak erlebte die Schattenseite des Publikumsrenners; nackte Jungs darf man nicht zeigen, nackte Mädchen, so Sendak, stören hingegen niemand. Sendak nahm sich als nächstes Monstern an: „Seven little Monsters“ (1977) wurde zur Vorlage einer Fernsehserie (2000 bis 2004), die er mitgestaltete. Er schreckt vor nichts zurück: 2006 hat er sein erstes Pop-up-Buch herausgebracht. Doch den klassischen, weil radikalen Sendak gab es nicht nur in seinen frühen Schaffensjahren. In „In Grandpa’s House“ (1985), geschrieben von seinem Vater Philip, oder in „Circus Girl“ (1985) und „The Happy Rain“ (2003), beide verfasst von seinem Bruder Jack, weht der Genius des Illustrators beschränkungslos. Sendak, selbst alleinstehend und kinderlos, hat das Vermögen, die Zusammenarbeit mit anderen als wirkliche oder künstlerische Verwandtschaft für den Leser aufleben lassen zu können. Das sieht man auch an „Brundibar“, einem Buch zu einer Kinderoper, die in Theresienstadt aufgeführt wurde. Neu im Hinblick auf Sendaks Gesamtwerk ist daran, dass es zu den Büchern gehört, die man unbedingt kennen, deren Wert man schätzen sollte, die aber nur schwer – eigentlich gar nicht- mit Kindern im Bilderbuchalter angeschaut werden können. Es ist ein Bilderbuch für 12-Jährige! Sendak ist darin zurückgekehrt zu dem Schrecken, den die Nazizeit über seine Familie gebracht hat; fast alle, die in Europa waren, sind umgebracht worden. In „Brundibar“ befreit sich der Großmeister von allem. Die Kinder, die darin leiden, haben sogar ein Kreuz im Zimmer hängen. Als wären es Christen, die verfolgt worden wären. Alle Kinder leiden, sagt zu den Vorwürfen dazu Sendak. Seit 2004, dem Todesjahr seiner Schwägerin Gussie Weiss Sendak und seiner Schwester Natalie Lesselbaum, ist Sendak als einziger seiner Generation übrig. Ein Neffe, eine Nichte, die Landschaftsphotographin ist, zwei Großnichten, alle leben in den USA; keine große Familie. Eine künstlerische Laufbahn wie Sendaks ist heute unmöglich. Junge Illustratoren müssen sich von jedem Erfolg unabhängig machen, müssen die Chance, je von ihrer Kunst leben zu können, ausschließen, brauchen den Mut zu verstören. Offen müssen sie in einer Welt, in der jeder den Bestseller landen will, sein für die Menschen, denen es um Kunst geht. Begegnen müssen sie Förderern wie es eine Ursula Nordstrom oder eine Ruth Krauss war. Und sie überzeugen. Am 10. Juni 2008 ist Maurice Sendak 80 Jahre alt geworden.
Bedeutende Kinderbuchautoren der Gegenwart: 1. Folge: Martin Ebbertz
Sprachwucht und literarisches Spiel Das Werk von Martin Ebbertz
(librikon) Nur selten und dann meist posthum werden Schriftstellern, die Kinderliteratur verfassen, Gesamtausgaben zuteil. Das macht es schwer, bedeutende Werke der Gegenwart in ihrer Gesamtheit und Schriftsteller für Kinder in ihrer Brillanz zu erkennen. Einer, der einen „Heimatverlag“ und eine sorgfältige Edition seiner Werke verdient hätte, ist Martin Ebbertz. Aber die Zeiten sind nicht so: Kinderbuchautoren müssen von Verlag zu Verlag springen, jedes überhaupt verlegte Buch ist ein Grund zu feiern. Und meist bleiben dann die Leser (und manchmal auch die Literaturpreise) aus. Sechs Bücher hat Martin Ebbertz bisher veröffentlicht, und jedes davon ist lesenswert – sowie ein Beitrag zur ja noch jungen Kinderliteraturgeschichte. Martin Ebbertz, Jahrgang 1962, hat mit dreißig Jahren sein erstes Kinderbuch veröffentlicht. Ein Frühwerk also: „Josef, der zu den Indianern will“ (1992), ein schmales Büchlein, das die Geschichte eines Jungen erzählt, der nicht mehr zu Schule, sondern auf Abenteuerreise will. Er reißt aus, schlägt sich durch in die Himmelsrichtung, wo er Indianer vermutet. Josef ist einer, der Mut hat, Charakter und Güte. Seine Irrtümer sind die, die Menschen auf ihrem Lebensweg machen müssen. Die Suche nach dem, was Glück jenseits Zwängen bedeuten kann, ist ein Literaturthema par excellence, und hier ist es auf Kinderhöhe, auf Kindergefühle heruntergeschraubt. Literatur sollte man Kindern zumuten, wie man ihnen dieses Buch zumuten kann – dem Trend, aus pädagogischen Gründen Kinder von den Erwachsenen unliebsamen Themen fernzuhalten, steht dieses Buch gegenüber. Ausreißen: Diesen Traum dürfen Kinder träumen müssen. In „Josef, der zu den Indianern will“ (ab 6) wird die Dramatik des verlassenen und gutgläubigen Kindes entfächert und versetzt in Aufregung – Kinder wollen Geborgenheit und wollen Abenteuer. Warum es Kinderbücher gibt? Damit die Erwachsenen keine totale Diktatur über Kinderseelen ausüben können. Warum „Josef, der zu den Indianern will“ so lesenswert ist? Weil es die Freiheit der kindlichen Wünsche literarisch verarbeitet. In seinem nächsten Buch ist Martin Ebbertz Wünschen noch konkreter zu Leibe gerückt. „Der blaue Hut und der gelbe Kanarienvogel“ (1995) erzählt von einem wunderlichen Hut, den man immer weiter verschenken und sich dabei etwas wünschen muss – hops, geht’s in Erfüllung. Das ganze Chaos um Wünsche setzt ein: Von falschen Wünschen, rückgängig zu machenden Wünschen, viel zu vielen Wünschen. Was im Märchen tragendes Motiv ist, ist hier künstlerische Spielerei. Martin Ebbertz’ Erzählfluss ist hier von Leichtigkeit geprägt; hier wird eine Geschichte erzählt, um Geschichten in Kinderleben hineinzubringen, um sie gleich berechtigt neben die Realität zu stellen: „Den blauen Hut mit dem gelben Kanarienvogel hat man übrigens seitdem nicht wiedergesehen. Doch irgendwo muß er ja sein, vielleicht sogar in dieser Stadt, und vielleicht bekommt ihn gerade wieder einmal jemand geschenkt.“ So endet das Buch und führt die Leser (ab 6) in die Welt zurück, die doch nicht denkbar ist ohne Phantasiewelt. Mit „Der kleine Herr Jaromir“ (2002) betrat eine Figur die Bühne der Kinderliteratur, in der die schriftstellerische Kunst von Martin Ebbertz besonders leuchtet. Herr Jaromir ist ein Außenseiter, er lebt in unserer Gesellschaft, geht in unsere Supermärkte, wohnt in unseren Hochhäusern, überquert unsere Straßen – aber er sieht die Welt nicht als das, was sie profan ist, er nimmt nichts als einfach so hin, sondern erlebt jedes noch so kleine Situation ganz anders: Und zeigt damit den Lesern, wie es ist, wenn man alles zum ersten Mal sieht. Eine neue Perspektive für die erwachsenen Vorleser, die aber auch in ihnen eine leise Erinnerung weckt, einen Hauch nur davon, wie man selber als Kind war. Die kleinen Leser oder Zuhörer (ab 5) merken schnell, dass Herr Jaromir einer der Ihren ist, dann aber in den immer erstaunlichen Wendungen, die seine Erlebnisse nehmen, dass er eine literarisch eigene Figur ist, bei der man mit allem rechnen muss. Sich freuen und mitfühlen, und eine große Leere, wenn das Buch zu Ende ist, das empfinden Kinder bei Lesen dieser abenteuerlichen Erzählungen, mit denen der Schriftsteller einen Weg gefunden hat, seine Originalität in die meisterliche kleine Form zu gießen. Das nächste Buch, „Onkel Theo erzählt vom Pferd“ (2004, ab 5), fügt den lustigen Onkel, wie er seit es Kinderbücher gibt, in ihnen eine bedeutende Rolle spielt, zum Ensemble der Ebbertzschen Trupps hinzu. Die Kinder sind natürlich glücklich, dass Martin Ebbertz nach einem kurzen Zwischenstopp im publikumsgängigen Genre des Seemannsgarns („Karlo, der Seefahrer“ 2007; ab 7 – mit einer sein (nicht zu verschwendendes) Talent beweisenden Rahmenhandlung) den kleinen Herrn Jaromir zurückkehren lässt. „Der kleine Herr Jaromir findet das Glück“ (2008) schließt nahtlos an, Herr Jaromir ist der alte geblieben. Dem Autor gelingt es, in keine Falle der „Serie“ zu stolpern: Er gibt sich keinem Korsett hin, verliert in keinem Satz seine Kunst, die Welt wirklich noch durch Herrn Jaromirs Brille zu sehen, entwickelt, was gut war, weiter. Der zweite Band, er fällt nicht ab im Vergleich zum ersten. Ebbertz’ Könnerschaft als Prosadichter bestätigt sich. Die Sorge, dass im ja ganz auf Verkauf ausgerichteten Kinderbuchmarkt eine Figur wie Herr Jaromir aufgerieben wird, hat sich nicht bestätigt. Man kann nach wie vor einzelne Absätze herausgreifen und immer von neuem lesen, Bilderbücher erstehen vor Augen. Und dann erschien mit „Pech und Glück eines Brustschwimmers“ (2008) ein Bilderbuch mit einem Text von Martin Ebbertz. Darin beweist er in kurzen Sätzen seine Unabhängigkeit von Modethemen, beweist, wie sehr er seine literarische Freiheit einzusetzen weiß mit nur einem Ziel: Ganz nahe bei den Kindern und zur Not damit auch weit weg von der grauen, vor Vorschriften wimmelnden Erwachsenenwelt zu sein. Dieses Bilderbuch kehrt in Abständen immer wieder in die Leserhände zurück, weil es Sprachwucht mit literarischem Spiel verbindet. Martin Ebbertz hat sich mit seinen Werken einen eigenen Platz in der Kinderliteratur erschrieben. Das steht fest. Was für ein Gewinn.
Lesende in der Bildenden Kunst Unsere Serie stellt Kunstwerke vor, die es im Original zu besichtigen lohnt!
Rotes Buch, kindliches Selbstbewusstsein Einladung zum Besuch im ... Liechtenstein Museum in Wien Zur Besichtigung von: Friedrich Wilhelm von Schadow: Porträt des Felix Schadow (1819-1861), des Stiefbruders des Künstlers, 1830 Öl auf Leinwand Höhe 61 cm, Breite 51 cm Inv.-Nr. GE2405 Provenienz: Nachkommen des Künstlers; europäische Privatsammlung; 2006 durch Fürst Hans-Adam II. von und zu Liechtenstein erworben
Felix Schadow
stammte aus der zweiten Ehe des berühmten klassizistischen Bildhauers Johann
Gottfried Schadow (1764-1850) mit Henriette Rosenstiel.
Text: Liechtenstein Museum Wien Fotocredit: Sammlungen des Fürsten von und zu Liechtenstein, Vaduz–Wien
LIECHTENSTEIN MUSEUM Service Hotline: +43 (1) 319 57 67-252
Das Museum ist
Freitag bis Dienstag 10.00–17.00 Uhr geöffnet.
"Das Leben nicht nur buchstabieren, glaube ich" Tamara Bučková im Gespräch mit Renate Welsh
Ich bin wieder in Wien. Ich steige an der Mariahilfer-Straße aus. Der Lärm und Menschen-Wirbel reizt mich. Das währt jedoch nur sehr kurz. Es überrascht mich wieder, wie schnell sich die Stimmung in der Stadt verwandelt. Auf die Einkaufsstraße folgen… zwei oder drei mehr oder weniger frequentierte Straßen, dann erwischt mich unerwartete Ruhe und ich bin am Ziel. In der mir schon vertrauten Zieglergasse, am mir noch mehr vertrauten hellblau gestrichenen Haus... Ich klingele und darf sofort hinein, weil ich von Renate Welsh erwartet werde: „Sie müssen ganz nach oben...“ Ich steige die Stiegen hinauf und in Gedanken bin ich im GROSSEN BUCH VOM VAMPERL[1]. In der Mitte der Geschichte, wo Frau Lizzi ihre Autorin besucht. Renate Welsh lässt sie auch mit dem Vamperl gerade in die Zieglergasse zu sich nach Hause kommen. Frau Lizzi beschwert sich über ihre Gesundheit und Vamperl-Strapazen und verlangt von der Schriftstellerin „schöpferische Intervention“, die ihr das Leben leichter macht. … – Zumindest müsste die Autorin nicht unter dem Dach wohnen, wenn sie ihr schon den Rheumatismus angehängt hätte...-, ungefähr so ärgert sich Frau Lizzi. ...[2] Seitdem ich entdeckte, dass (auch) diese Stelle in der Geschichte kaum erfunden ist, frage ich mich immer wieder: Woher nimmt Renate Welsh die Kraft und Mut, sich selber den Lesern zu öffnen und in den Geschichten ihr Privatleben aufs Spiel zu setzen? Ich steige weiter die Stufen hinauf und denke an meine erste Begegnung mit Renate Welsh. Bis 4 Uhr früh hatte ich damals ihr Buch GESCHICHTEN HINTER DEN GESCHICHTEN gelesen und immer noch habe ich folgende Sätze vor Augen: - So haben wir in der Küche gesessen und ich habe gesagt: Erzählen Sie etwas...- Dann saßen wir zwei in der Küche, tranken Kaffee und, ähnlich wie im Buch, ist der Satz gefallen: „Erzählen Sie etwas...“ Ich habe erwidert: „Ich mag alte Häuser, gerundete hölzerne Treppen und solche hohen engen Fenster, besonders wenn sie offen sind...“ Die Bücher sind Fenster in unser Inneres. Man kann sie öffnen, man kann sich einladen lassen, um zu sehen, um in den geöffneten Welten zu lesen... Die Klinke ist der erste Buchstabe... DAS LEBEN BUCHSTABIEREN... So lautet das Motto des Festes zum 70.Geburtstag von Renate Welsh. So lautete auch der Titel ihrer Vorlesung bei der Laudatio an der Universität Wien, in der die Autorin sagte: „Ich rette mich oft ins Wörtlich-Nehmen, Litera, Buchstaben. ...“[3] BUCHSTABIEREN heißt für Renate Welsh dekodieren, BUCHSTABIEREN heißt formulieren, einen Gedanken, ein (neues) Wissen über die Welt und über sich selbst in die Worte zu verwandeln: „Ich war nach wie vor überzeugt, dass die Antwort auf alle Fragen in Büchern versteckt war, nur brauchte man einen Schlüssel dafür...“[4] Über Renate Welsh behauptet man, dass sie im Recherchieren gut sei. Aber dieses Mal geht es nicht nur um „klassisches Suchen und das gesuchte Finden“. Es ist etwas mehr. Im Buch GESCHICHTEN HINTER DEN GESCHICHTEN erklärt Renate Welsh, sie verdanke ihr Schreiben ihrem Zuhörenkönnen.[5] Ich würde gerne hinzufügen: Renate Welsh ist beim Gedanken- und Geschichten-Recherchieren meisterhaft gut und nur auf diese Art und Weise nimmt sie das Erzählte als Basis des Literarischen, so wandelt sie die Realität in die literarische Fiktion um, wobei das ursprünglich „nur“ Reale nie zu kurz kommt.
Ein Gespräch über Bücher Tamara Bučková: „In der Vorlesung DAS LEBEN BUCHSTABIEREN erklang ganz deutlich und sogar mehrmals, wie wichtig das reale Leben für Ihr Schreiben ist. Ist es Ihnen schon passiert, dass Sie eine konkrete Geschichte für einen konkreten Leser geschrieben haben?“
Renate Welsh: „Nein, die konkreten Geschichten für konkrete Menschen habe ich zwar erfunden, aber nur erzählt, die haben diesem speziellen Kind gehört, sie aufzuschreiben wäre Verrat gewesen. Aber meine Bücher gehen oft von einem ganz konkreten Menschen aus. Der Großvater in DRACHENFLÜGEL ist zum Beispiel eine Art Danksagung an meinen Opa.... Wir konnten zusammen in Bilder gehen, oder in die Seiten eines Buches. Ich habe zum Beispiel jahrelang einen bestimmten Weg gesucht, den wir oft gegangen waren, aber ich habe ihn in der Realität gesucht, wo es ihn nicht gab. Und dann war ich im Kunsthistorischen Museum und dort habe ich ein kleines Bild mit dem Seerosenteich gefunden. Mit dem Baum, wo der Weg abgezweigt ist... Es war eine vertraute Erfahrung. Eine Erfahrung an sich...“
Tamara Bučková: „Wie weit sind die Figuren in Ihren Geschichten der Realität treu und wie weit sind sie selbständig? Wie folgen sie Ihren Autorenvorhaben? ...“
Renate Welsh: „Beim Schreiben spielt sowohl das bewusste Wissen, die Summe der eingeholten Wirklichkeit, eine Rolle, als auch vieles, das dem eigenen Bewusstsein kaum zugänglich ist. Das macht die Figuren lebendig, sie können sich gegen mich wehren, manchmal folgen sie mir auch. Wie meine Kinder, als sie klein waren...“
Tamara Bučková: „Der Roman DIEDA ODER DAS FREMDE KIND[6] wurde zu Ihrem großen Erfolg. Haben Sie schon ein Angebot zur Verfilmung von Dieda bekommen? Können Sie sich vorstellen, dass jemand Diedas Geschichte, die so nah Ihrem Leben steht, verfilmen würde?“
Renate Welsh: „Nein. So ein Angebot ist bis jetzt nicht gekommen. Und ich glaube nicht, dass es kommen wird. Wenn ja, dann bezweifle ich, ob es meine Dieda wäre. Dieda, das ist eine Folge von Erinnerungen daran, was ich als Kind war. Zuerst war ICH es, dann kam eine Serie der Bilder, das heißt, dann kam Dieda. Jetzt kämen die Menschen, die das Buch zum Film schreiben würden und es entstände wieder EINE NEUE GESCHICHTE...
Tamara Bučková: „DAS LEBEN BUCHSTABIEREN heißt ZUR SPRACHE BRINGEN...?“
Renate Welsh: „SPRACHLOSIGKEIT ist für mich eines der schlimmsten Gefängnisse, verurteilt zur Einzelhaft ohne jede Möglichkeit der Kommunikation mit anderen. Wobei wir ja erst im Spiegel des anderen unser eigenes Ich entdecken können.
Tamara Bučková: „Das sagt sehr viel nicht nur über Ihr eigenes Schreiben, sondern auch über Ihre anderen Aktivitäten aus. Sie helfen anderen Leuten gegen ihre Sprachlosigkeit anzukämpfen. Sie beteiligen sich an den Projekten zu kreativem Schreiben...“
Renate Welsh: „Ach ja. Es hat mich einmal ein Arzt, ein Psychiater, angerufen und gebeten, einen Nachmittag mit jugendlichen Muskelkranken und Jugendlichen, die einen Selbstmordversuch hinter sich hatten, zu gestalten. Ich habe mich gewehrt: -Ich habe doch keine Ausbildung, ich kann solche Gruppen nicht leiten.- -Er meinte, dass er aus meinen Texten sehen könne, dass ich sehr wohl dazu im Stande sei, dass er es aber nicht von ihr verlangen könne, weil er kein Honorar zahlen könne.... Es war die reine Erpressung, ich konnte nicht nein sagen... Und aus diesem Anfang sind viele Schreibwerkstätten herausgewachsen…“
Tamara Bučková: „Es handelt sich also um kein Projekt mit AnfängerautorInnen?“
Renate Welsh: „Nein. Es geht um die Arbeit mit Menschen, die oft leidvolle Erfahrungen gemeinsam haben Ich habe mir die Frage gestellt, wie ich Schreiben, den Prozess des Schreibens für die Anderen nützlich machen kann. Kann man Angst und Kunst verbinden? Wie kann ich den Prozess des Schreibens in so kleine homöopatische Dosen aufteilen, dass der Frust, den ich selbst immer wieder beim Schreiben erlebe, nicht zum Tragen kommt. So landete ich bei der an sich simplen Entwicklung vom WORT zum SATZ und dann zum TEXT. Es geht auch darum, die Angst vor dem Schreiben zu verlieren , die Angst der Menschen, sie hätten nichts zu sagen, die Angst auch vor dem Klischee und davor, ausgelacht zu werden.
Tamara Bučková: Wie machen Sie denn das?
Renate Welsh: Zunächst Assoziationsspiralen, wobei der Begriff in der Mitte immer gilt, aber auch das letzte Wort, das gefallen ist. Man muss ja oft einem Thema großräumig ausweichen, um sich ihm wirklich zu stellen. Wenn man dann durch diese Spirale Radien zieht, werden Wörter in einer Zufallsreihung „aufgespießt“, die eigentlich immer eine überraschende Geschichte ergeben. Es werden die eigenen Namen „buchstabiert“ mit Begriffen, die mit diesem Menschen zu tun haben, später entstehen aus diesen Wörtern in Partnerarbeit Texte als Geschenk für die andere, den anderen. Wir suchen Sätze, die eine Rolle im Leben der einzelnen Gruppenmitglieder gespielt haben, wenn genügend Zeit ist, kann zum Beispiel aus diesen Sätzen ein herrlich absurdes Theaterstück werden.
Tamara Bučková: Wie verläuft es technisch?
Renate Welsh: Wichtig ist, dass jeder Text von allen wahrgenommen wird, und zwar nicht im Sinne einer Kritik sondern dass er quasi aufgefangen wird im Zuhören aller, einem lebendigen Zuhören, das es möglich macht, sich zu öffnen. Jede Gruppe hat ihre eigene Dynamik, stellt vor neue Probleme und bringt uns alle ein Stück weiter. Ich habe mit Strafgefangenen, Juristen, Kindern, Obdachlosen, Lehrerinnen usw. gearbeitet.... Die Arbeit mit Lehrerinnen schien mir besonders schwierig zu sein. Sie haben einen hohen Anspruch an sich, sie werden gehemmt durch alles, was sie gelernt haben, sie haben einen entsetzlichen Bedarf nach Bewertung. -Welcher Text hat Ihnen am meisten gefallen?- Das hat letztlich dazu geführt, dass ich eine neue Methode entwickelt habe, bei der jede und jeder von allen anderen Rückmeldungen bekommt, aber keine „Kritik“. Es gibt so viele interessante Projekte, man lernt Leute kennen, die man sonst nie kennenlernen würde.
Tamara Bučková: „-Jedes Buch, jede Geschichte sollte einen roten Faden haben. Es wäre so schön, wenn auch das Leben „roten Faden“ hätte!- haben wir von Ihnen in der Vorlesung DAS LEBEN BUCHSTABIEREN gehört. In Ihrem Leben ist doch der rote Faden zu finden. Ihre Kunst Zuhören zu können ist immer mit Medizin und Hilfe für die Anderen verbunden. Zuerst waren Sie für Ihren Vater „Laufmädchen“, das seinen alten PatientInnen Medikamente brachte und ihnen wenigstens kurz Gesellschaft leistete, jetzt setzen Sie diesen Weg mit dem Weihnachtsgebäck für die PatientInnen Ihres Mannes fort... Die Leute erzählen und Sie schreiben. Und unabhängig davon, ob wir über die Kinder- und Jugendbücher oder Bücher für Erwachsene sprechen, sind es meistens Geschichten, die in keinem Fall als Entspannungsliteratur zu bezeichnen sind. Sie zielen auf Probleme...
Renate Welsh: „Ohne Problem gäbe es auch kein Buch. Vielleicht gäbe es auch nicht zwei nacheinander gereihte Sätze. Und jede Geschichte hat ihre Wurzeln in der Realität, aus denen man ein Drama machen kann. Lebenssinn und auch Tod haben unterschiedliche Verkleidungen. Es gibt so viele Assoziationen, die durch den Kopf fliegen, es gibt so viele Gedankenanstöße... Ich versuche dazu beizutragen, dass Dinge benennbar und damit klar und veränderbar werden. Aber ich kann mich irren, so wie sich jeder irren kann. Ich kann Fragen legitimieren, auch wenn ich keine Antwort weiß. Natürlich stecken meine Erfahrungen und Ängste in jedem Buch. Früher habe ich gedacht, Schreiben wäre ein völlig dichtes Gewebe. Heute empfinde ich es anders. Dichtes Gewebe verwehrt den Zugang zu den Büchern.... Jetzt gibt es in meinem Schreiben mehr Synkopen, mehr Leerstellen. Dabei versuche ich die Protagonisten möglichst unverfälscht durchzuhalten.“
Tamara Bučková: „Was bedeutet für Sie die Rückmeldung Ihrer Lesern und welche Rolle spielen bei Ihrem Schreiben die Lesungen?“
Renate Welsh: „Man kann nicht völlig uneitel schreiben, fürchte ich. Ich bekomme viele Briefe, aus denen sich ganz besondere Kontakte ergeben und manchmal sage ich mir - den Satz halte ich mir warm, wenn ich wieder einmal verzweifle an mir, meiner Arbeit, der Situation usw... Die Lesungen sind unterschiedlich. Ein ganz besonderes Gefühl der Verantwortung habe ich bei den Lesungen in den Schulen. Einmal hat mir eine Lehrerin ihr Poesiealbum mit meinem Brief gezeigt: - den Brief haben Sie mir geschrieben, als ich 15 Jahre alt war. Ich wollte, dass es meine Schülerinnen auch erleben dürfen.- So etwas ist rührend, andererseits macht es die Hände nicht frei... “
Tamara Bučková: „Ist es schwer, beim Bücherschreiben älter zu werden?“
Renate Welsh: „Ja-nein. Ich denke schon, dass schreibende Menschen insofern privilegiert sind, dass wir in unseren Protagonisten immer wieder auch, manchmal gut versteckt, der eigenen Vergangenheit und Gegenwart begegnen, sie in Besitz nehmen können und dadurch nicht nur von ihr belastet sind.
Es klingelt das Telefon und Renate Welsh geht dran und mir es klar, dass unsere Zeit für dieses Mal langsam vorbei ist. Ich folge Frau Welsh mit den Augen und stoße auf DAS GROSSE BUCH VOM VAMPERL in einem der Bücherregale in ihrem Arbeitszimmer. Das regt mich zur letzten Frage an.
Tamara Bučková: „Nachdem Sie Lizzi zu Besuch hatten kommen lassen, bekamen Sie keinen Besuch von einem Kinder-Detektiv, der auf eigene Faust überprüfen wollte, ob die Sache stimmt und Sie wirklich hier wohnen?“
Renate Welsh: „O je, o ja... Es war zwar kein echter persönlicher Besuch, aber von einem Mädchen habe ich eine Mail bekommen. Sie war böse, dass Frau Lizzi „so frech zu dir war. Sie sollte doch froh sein, dass sie dich hat.“
Dann packe ich schon meinen Notizblock und verabschiede mich. Renate Welsh wünscht mir viel Erfolg bei der Konferenz, bei der ich schon in zwei Stunden auftreten soll. „Ich mache es gut“, sage ich tapfer, „ich habe meinen Glücksbringer mit.“ Ich ziehe ein graues Bärchen im schmutzigen weißen T-Shirt mit der Überschrift FRIEDENS (ACHTUNG!!! SOLLTE DAS NICHT FRIENDS SEIN? Friedens gibt es im Englischen nicht) FOR EVER aus meinem Rucksack. „Ich habe auch einen Bären“, sagt Renate Welsh wie ein richtiger Verschwörer und verschwindet im Wohnzimmer. „Darf ich euch vorstellen?“ fragt sie 20 Sekunden später und reicht meinem Bärchen die Pfote von einem uralten Bären. „Den habe ich 2 Tage vor meiner Geburt bekommen. Der ist als noch älter als ich“, sagt die Schriftstellerin, die zwar schon ihren 70. Geburtstag gefeiert hat, aber die ich trotzdem nicht für alt halte. Dann wünschen wir einander alles Gute und ich laufe schon wieder durch die Stadt. Ich bin froh, dass ich heute bei der Konferenz auch über Renate Welsh und ihre Bücher spreche, weil mir klar ist, dass ich dieses Gespräch noch lange lange in meinem Kopf haben werde... _____ [1] Der Roman erzählt über das kleine Vamperl, das nicht vom Blut, sondern von der Galle der bösen oder genervten Leute lebt und die Welt so besser macht. Den kleinen Vampir, ein zartes Lebenswesen, pflegt in der Geschichte die alte, ständig schimpfende, aber trotzdem gutherzige Frau Lizzi, für die Vamperl ein Ersatzkind ist. [2] Vgl. R. WELSH. Das große Buch vom Vamperl. DTV, München : 2005. ISBN 3-423-70730-5. S 163 ff. [3] R. WELSH. Das Leben buchstabieren. Festvorlesung. Mit einem Interview und ergänzenden Beiträgen zum Werk von Renate Welsh. fokus, Stube, Wien : 2007, S 2 [4] R. WELSH. Das Leben buchstabieren. Festvorlesung. Mit einem Interview und ergänzenden Beiträgen zum Werk von Renate Welsh. fokus, Stube, Wien : 2007, S 3 [5] Vgl. R. WELSH. Geschichten hinter den Geschichten. Innsbrucker Poetik – Vorlesung. Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe. Sonderband. Innsbruck, 1995. ISBN: 3-901064-14-1. S 17). [6] Der Roman DIEDA ODER DAS FREMDE KIND erzählt die Geschichte eines kleinen Mädchens, das mit der neuen Frau seines Vaters währenddes 2. Weltkrieges das Zuhause in Wien verlassen muss und bis Kriegsende in der ursprünglichen Familie der neuen Mutter auf dem Lande lebt. Wie ist ihr Leben in ihrem neuen „Zuhause“? Sie nennt sich so, wie sie sich fühlt: DIE, DA fremd ist. Der Roman ist eine literarische Darstellung der eigenen Kindheit Renate Welshs.
Tamara Bučková ist Germanistin und Bohemistin in Prag. Das Interview wurde im März 2008 geführt.
Lesende in der Bildenden Kunst Unsere Serie stellt Kunstwerke vor, die es im Original zu besichtigen lohnt
Requisite Buch Einladung zum Besuch von ... Liechtenstein Museum in Wien
Zur Besichtigung von: Friedrich von Amerling: In Träumen versunken, 1835 Öl auf Leinwand Höhe 55 cm, Breite 45 cm Inv.-Nr. GE1125 Provenienz: 2003 erworben durch von Fürst Hans Adam II. von und zu Liechtenstein in Auktion Sotheby's in London
Amerlings Genrebilder sind selten szenisch groß angelegt und meist nicht moralisierend gemeint. Auch bei diesem Beispiel sind allein Mimik und Gestik Stimmungsträger der Darstellung, unterstützt von wenigen Requisiten. Der Schleier aus schwarzer Spitze rahmt die feinen Züge des Mädchens und rückt sie ins rechte Licht.
Text: Liechtenstein Museum Wien Fotocredit: Sammlungen des Fürsten von und zu Liechtenstein, Vaduz–Wien
LIECHTENSTEIN MUSEUM Service Hotline: +43 (1) 319 57 67-252
Das Museum ist
Freitag bis Dienstag 10.00–17.00 Uhr geöffnet.
Tamara Bučková im Gespräch mit László Varvasovszky
László Varvasovszky lernte ich 2007 in Wien kennen. Mit Varvasovszkys „Bärenbücherblock“ wurde die Jugendliteraturwoche, die ein Marathon der Begegnungen der kleinen und größeren Leser mit ihren Lieblingsautoren ist, eröffnet. Veranstalter ist alljährlich das Internationale Institut für Jugendliteratur und Leseforschung. Zwischen den Lesungen gab es Theater- oder Filmvorstellungen und Workshops. Zur guten Atmosphäre trug nicht zuletzt die prächtige Bücherausstellung bei. László Varvasovszky wurde als Künstler vorgestellt, der „alles kann“ - er schreibt, er illustriert Geschichten, er liest sie sehr schön vor, er kann Theater spielen. Und seine Darbietungen haben das tatsächlich bewiesen. Zuerst las László aus seinem „Schneebärenbuch“ vor. Die witzige Geschichte geht von einer Situation aus, die Mamas und Papas mit ihren Kindern gewiss erlebt haben: Die Kinder wollen noch nicht schlafen gehen, und wenn schon, dann in keinem Fall ohne Gute-Nacht-Geschichte! Dieses Mal sollte es eine spannende Geschichte mit Schiffen und Flugzeugen sein - eine abenteuerliche Geschichte aus einem entfernten Land. 'Daran ist doch nicht besonderes!', könnte man sagen. Aber es passierte, dass im Nebenzimmer, wo der große Bücherschrank stand, mehr als 20 Krokodile waren, die die Bücher auffraßen. Der Schneebärenbucherzähler (vielleicht László?) schlägt die Tür schnell zu, nimmt ein leeres Heft, in das er noch keine Zeile geschrieben hat und beginnt zu „lesen“. Er reagiert auf die Fragen des kleinen Christian, für den er vorliest, er antwortet, er liest weiter, und er zeichnet dabei die Bilder. So entsteht sein berühmtes Bärenbuch. László ist nämlich ein Bärenspezialist. Selbstverständlich nur für Bücherbären! Seine Bücherbären sind ganz einfach zauberhaft. Sie animierten mich sogar dazu, eine kurze Studie über Kreativität und Bilderbücher für Leser von 4 für 104 Jahre zu schreiben. Ein Bestandteil der Studie war „Bärenforschung“. Auch László war unter den Befragten. Einmal als Leser und einmal als Autor. Wir sprachen über „Schneebärenbuch“ und „Jakob der Zaubärer“, ein Buch, das in diesem Herbst erschienen ist. Wir sprachen über das Performance-Projekt „Im Auge des Zeichners“, bei dem die Theateraufführung im direkten Kontakt eines Erzählers und Zeichners (László Varvasovszky), eines Musikers (Michael Moser), einer Schauspielerin (Monika Zinner) und der Kinder im Publikum entsteht. Ohne Kinderpublikum gäbe es keine Performance... Die folgende per Mail geführte „Autorenbärenforschung“ soll die Einladung zum Zaubern mit dem Schreiben, Lesen, Vorlesen und Theater-Spielen sein.
Ein Gespräch über Bücher Tamara Bučková: Warum haben Dich gerade DIE BÄREN bezaubert oder sogar “bezaubärt”?
László Varvasovszky: Weil sie groß und stark sind. Weil ich mag, wie sie mit einwärts gerichteten Vorderpfoten einher trotten. Weil ich mag, wie sie bisweilen galoppieren, wenn sie es eilig haben. Weil sie wandern und winterschlafen. Weil ich mag, wie sie Lachse fischen.
Tamara Bučková: "Im Auge des Zeichners” ist meiner Meinung nach eine wirklich kreative Methode, die gewissermaßen auf der gemeinsamen Kreativität der “Bühnenleute” und des Publikums begründet ist und deren wichtigster Bestandteil die Spannung, bzw. das Überraschungsmoment ist. Die Arbeit an Büchern ist im Vergleich dazu ruhiger, ihr wohnt eine ganz andere Spannung (kaum eine Spannung?) inne. Wie ist es eigentlich beim Kinderbücherschreiben?
László Varvasovszky: Natürlich ist die Spannung anders, aber nicht weniger heftig, besonders bei der ersten Niederschrift. Auch bei der zweiten, dritten Überarbeitung lasse ich mich bei Details gerne von neuen Ideen überraschen. Beim Feilen, Verbessern geht es etwas ruhiger zu. Bei den Zeichnungen wird es dann wieder aufregend, weil die wenigsten auf Anhieb gelingen.
Tamara Bučková: Noch einmal “Im Auge des Zeichners”: “ … 'Unsere Geschichte beginnt immer in einem Wald…', schreibt man im PR-Text über Eure Performance. War es Deine Idee, dass alle Geschichten im Wald beginnen sollten? Weil der Wald mit den Bären für Dich verbunden ist?
László Varvasovszky: Martina, Michael und ich haben diese Idee gemeinsam entwickelt. Wir wollten einen allgemeinen Topos haben, dessen Konnotationen Menschen jedes Alters kennen. Die Bären waren hier nicht federführend.
Tamara Bučková: Hast Du beim Schreiben auch einen Mitspieler oder Gegenspieler? Gibt es einen Kinderleser/in, der/die Dein erster Kritiker/in ist und der/die Dir die Anregungen liefern kann, in dem Sinne, dass Du auf ihn/sie reagieren kannst (darfst)?
László Varvasovszky: Das ist von Buch zu Buch verschieden. Bei den „Schneebären“ war „Christian“ das Bezugskind. Auch „Beate“ war ein reales Kind. Bei „Honki im Schattenland“ war ich allein. Bei „Circus der Clowns“ trug die Lektorin Elisabeth Borchers entscheidend zur Gestaltung des Schlusses bei. Bei „Jakob der Zaubärer“ war meine Frau erste und beste Kritikerin. Sie brachte mich dazu, die Geschichte völlig neu zu fassen und ihr den richtigen Dreh zu geben. Meine Frau ist meine gnadenlos ehrlichste Kritikerin.
Tamara Bučková: Wovon gehst Du in Deinen Geschichten aus? Von der Zeichnung oder vom Wort? Und wie ist es in den Schlüsselmomenten, wenn die Handlung bricht oder sich verschiebt, oder wenn Du überlegst, wie weiter: Kann man überhaupt sagen, dass es das Wort oder die Illustration ist?
László Varvasovszky: In der Tat schwer zu beantworten. Beide sind beteiligt. Ich kann keine Regel erkennen. Einmal sind es Dialoge, die den Plot wenden. Das andere Mal eine Bildidee.
Tamara Bučková: Wenn Du Dich selbst “definieren” oder vorstellen solltest, wer bist Du?
László Varvasovszky: 1. Erzähler 2. Autor, der zeichnet 3. Performer, Vorleser
Tamara Bučková: Mindestens eine Frage zum „Schneebärenbuch“: Warum ausgerechnet die Schneebären? Und warum waren es die Krokodile, die die Bücher aufgefressen haben?
László Varvasovszky: Das Buch ist selbsterklärend. Ich habe die weißen Bären wirklich geträumt. Verschlafen, beim Frühstückskaffee, habe ich sie skizziert. So kam ich darauf, dass es 7 waren. Sie waren weiß, jedoch keine Eisbären. Also nannte ich sie „Schneebären“. Was viele taxonomisch unflexible Erwachsene nicht kapieren. Ich habe oft hören müssen: „Dein Buch mit den Eisbären...“ „Schneebären!“ Krokodile sind doch die schnellen, effektiven Bücherfresser.
Tamara Bučková: Bleiben wir beim Buch “Jakob der Zaubärer” stehen, über das sich Deine Leser jetzt freuen können. Es ist eine Geschichte über Jakob, einen Bären, der sich selber sucht und der seine Identität nicht als Zauberer, sondern „Zaubärer“ findet. Wie entstand dieses Sprachspiel mit allen “Bär-en” “und “-bär-en”? War es in der “Zusammenarbeit” mit den Kinderlesern oder -zuschauern?
László Varvasovszky: Ich hatte einen Bärenhunger. Nach dem Essen zeichnete ich einen kleinen Bären, der den Buchstaben „e“ wie einen Fußball kickte. Ein anderer fraß das eine Pünktchen vom Umlaut-a...(Jetzt habe ich Dir einen Bären aufgebunden. Ich weiß nicht mehr, wie es losging. Jedenfalls kam es sehr plötzlich. Ich schrieb in rascher Folge mehrere Listen und machte Skizzen. Das alles in eine dialogische Struktur zu bringen war die eigentliche Arbeit.
Tamara Bučková: “Jakob der Zaubärer” ist kein Kinderbilderbuch im echten Sinne des Wortes. Genauer gesagt: es ist nicht nur ein Kinderbuch. Möchtest Du zu diesem Thema etwas sagen?
László Varvasovszky: Mein postmodernes Erbe: Ich wende mich gern gleichzeitig auf mehreren Ebenen an Kinder, kindhaft Gebliebene und Erwachsene und biete mehrere Lesarten an. Ich mag Bücher, bei deren zweiter Lektüre ich Dinge erfahre, die ich beim ersten Lesen übersehen oder nicht verstanden habe. Das hoffe ich für meine Bücher auch: dass man/frau sie wiederlesen mag.
Tamara Bučková: Von Deinen Bärenbüchern sprach ich bei der literaturwissenschaftlicher Konferenz Eurolitteraria/Eurolingua 2007 in Reichenau (Tschechien). Das Thema der Konferenz war „Kreativität in der Literatur und Sprache“. Könnten wir unser Gespräch mit der Botschaft (über die Kreativität, über die Kinderbücher, über die Bären und Zaubärer) abschließen, die ich den Leuten da von Dir übermittelte?
László Varvasovszky: Gerne! Ohne vermehrte Kreativität wird es kein längerfristiges Überleben von uns Menschen auf diesem Planeten geben.
Tamara Bučková: Vielen Dank für das Gespräch, viel Glück und Erfolg beim Bücherschreiben und in der Theater-Performance!
László Varvasovszky (1947) studierte an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien, im Jahre 1972 legte er das Diplom für Bühnen und Filmgestaltung ab. Nach dem Studium wirkte er als technischer Assistent und Bühnenbildner an den (Vereinigten) Bühnen Graz, arbeitete als Lektor und später als Assistent für Bühnengestaltung an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Graz. Seit 1977 widmet er sich in freiberuflicher Tätigkeit dem Bereich Bühnenbild/Ausstattungen, Bücher und Ausstellungsgestaltungen. Im Jahre 1990 wurde er Ao.H. Professor. 1995 beendigte er auf eigenen Wunsch die Lektorate in Graz und übersiedelte nach Wien. Seitdem ist er als Autor, Zeichner, Performer und Bühnenbilder tätig. László Varvasovszky ist vor allem als Bilderbücherautor bekannt. Bis jetzt erschienen folgende Titel von ihm: “Das Schneebärenbuch” (erste Ausgabe 1978, inzwischen letzte Ausgabe 2002), “Honki im Schattenland” (1980), “Die Bremer Stadtmusikanten” (1982), “Das Geburtstagsbuch für Kinder” (1982), “Cirkus der Clowns” (1984), “Der große Zauberer und die kleine Hase“ (1989), “Die Geschichte von Ridor” (1999), “Die Geschichte vom Stainzer Kürbiskern” (2000), “Die Winterfee” (2003), “Die dicke Prinzessin” (2004), “Die Jagd nach dem Welt-Ei” (2004), “Der Weihnachtswald” (2004), “Wie Ostern beinahe untergraben wurde” (2005), “Bärenwortspielbuch” (2006), “Mister X” (2006), “Osterbär“ (2007), “Jakob der Zaubärer” (Verlag PN 1 Bibliothek der Provinz, Weitra 2007). Als Autor widmet sich László Varvasovszky auch dem Kindertheater und schreibt Hörspiele. Seine Bilder und Grafiken stellte er sowohl in Österreich, als auch im Ausland aus. Dazu kommen zahlreiche Bühnenbilder, Bühnenausstattungen und Ausstellungsgestaltungen.
Tamara Bučková ist Germanistin und Bohemistin in Prag. Das Interview entstand im Rahmen des Projektes der Karlsuniversität in Prag “Moderne Klassiker im Fremdsprachenunterricht” (Dezember 2007).
Tamara Bučková im Gespräch mit Kirsten Boie
Ich sitze in der Kantine des Schauspielhauses in Hamburg. Schauspielerkantine - ein im Keller des Theaters verstecktes Café mit gemütlicher Stimmung, das, wie erwartet, sowohl von den Theaterleuten als auch von der „kunstliebenden Öffentlichkeit“ gerne besucht wird. Es wird hier geplaudert, es wird hier gearbeitet. Am Tisch nebenan wird über ein Theaterprojekt gesprochen. Das Kulturleben in Hamburg ist sehr reich, denke ich. Nur auf den ersten Blick unauffällig. Man muss der geschlossenen Stadt „unter die Haut" kommen und Schritt für Schritt alles selber entdecken. Umso schöner ist es. Es ist kurz nach 17.00 Uhr. Ich warte auf Kirsten Boie, eine der erfolgreichsten gegenwärtigen deutschen Kinder- und Jugendbuchautorinnen. Sie schlug die Schauspielerkantine für unser Treffen vor: „Diese ist gleich gegenüber dem Hauptbahnhof, an der Kirchenallee. Leicht zu finden." Ich weiß, dass sie etwas später kommt, weil sie deswegen noch einmal anrief. Ihre Stimme klang am Telefon energisch und jung. Auch ihr Foto auf den Webseiten machte diesen Eindruck. Die wenigen Falten störten nicht, sie gehören zu jedem, der so viele Bücher geschrieben hat und so viel für die anderen macht.
Goldene alte Münzen Ich werfe meinen Blick auf den Tisch. Es liegt dort ein dickes Buch von Kirsten Boie – "Alhambra". Der Umschlag sieht geheimnisvoll und vielversprechend aus. Dunkelrote Farben mischen sich mit schwarzen Tönen und sind mit goldenen alten Münzen ergänzt. Der Buchtitel ist in alter Schrift und goldener Farbe geschrieben. Ich streichele das Buch. Der plastische Umschlag fasziniert mich immer wieder. Als ob schon er zum Buchöffnen und Lesen einladen würde... Das Buch erzählt über eine Zeitreise ins Jahr 1492, bei der Boston, der vierzehnjährige Junge aus der Gegenwart, viel erlebt und entdeckt. „Es ist das Jahr, in dem Kolumbus Amerika entdecken wird, das Jahr, in dem das ganze Spanien endgültig aus maurische in die spanischen Hände übergeht." ... Es ist das Jahr des Ediktes über die jüdische Bevölkerung, es sind die Anfänge der Inquisition. Kann Boston sein Leben retten und sich in die Gegenwart versetzen?
„Ich bin an die Nordsee gereist.
Zeitreise, Verwechselungsgeschichte,
Abenteuer und historischer Roman - eine packende Erzählung über die
aufregende Zeit des ausgehenden 15. Jahrhunderts in Granada..." Aber
teilweise auch eine Geschichte aus heutiger Zeit, füge ich in meinen
Gedanken dem Klappentext zu. Alle Bücher von Kirsten Boie erzählen von
Kindern und Jugendlichen der Gegenwart, und alle haben bedeutende
Aussagekraft über das Heute. Eine Dame von Eleganz und Energie
Vor meinen Augen laufen die Webseiten der Autorin ab, wo auch die Rubrik
Fragen und Antworten zu finden ist. 'Wie schreiben Sie Ihre Bücher?'
'Ich warte bis alle weg sind, dann bereite ich mir einen schönen grünen
Tee... ' Obwohl ich Frage und Antwort nicht auswendig zitieren kann,
tauchen sie in meinen Gedanken auf, als ich mir ganz automatisch einen
grünen Tee bestelle. Der Tee duftet und Kirsten Boie kommt. Eine
schlanke, jugendlich aussehende Frau, eine Dame von Eleganz und Energie.
Ein Gespräch über Bücher
Tamara Bučková:
„Sie schreiben Bücher über die Gegenwart.
Unter diesen vielen Büchern, die selbstverständlich unterschiedlich
sind, sind auch sehr ernste Bücher. Nennen wir "Ich ganz cool", "Nicht
Chicago, nicht hier". Gattungsgemäß ist das Buch "Nicht Chicago, nicht
hier" ein Problembuch. Der Literaturkritik nach beschäftigt sich das
Problembuch mit den Themen Gewalt, Mobbing, Drogen, Magersucht...
Meistens sind es Situationen, in denen man an der Grenze des Gesetzes,
des Lebens oder des Todes steht. Im Buch "Ich ganz cool" wird dagegen eher
die Lebensweise der Jugendlichen aufgezeigt. Das Buch beschreibt das
Alltagsleben mit allen seinen Alltagssituationen, die von der
Literaturkritik manchmal als Strapazen bezeichnet werden und die sich
auf das problemorientierte Jugendbuch nicht so sehr beziehen..."
Kirsten Boie:
„Aber natürlich sind es Probleme. Auch die Liebe kann ein Problem und
nicht nur eine Strapaze sein. Aber das wollen wir jetzt beiseite lassen.
Magersucht, Mobbing, das alles sind negative Probleme, sagen wir
negativere, eingegrenzte Probleme. Und die Bücher dienen nur zu ihrer
Illustration – das ist mein Einsatz.“ Tamara Bučková:„Ihre Bücher bringen kritisches Beobachten der Welt. Sie haben mit einer Arbeit über Bertolt Brecht promoviert. Hat auch das Sie irgendwie beeinflusst?“
Kirsten Boie: „Ja, sicher. Obwohl Brecht damals ein ungewünschter Autor war und über ihn zu schreiben, das war etwas, was uns alle und mich angezogen hat. Aber das, worüber er geschrieben hat, das alles waren zugespitzte Probleme, die heutigen Probleme sind im Vergleich zu seiner damaligen Welt mehr global, mehr globalisiert, sie gehen in die Breite und betreffen uns alle anders...“
Tamara Bučková: „Trotz kritischer Weltbetrachtung kommen mehrere Phantasiemotive in Ihren Büchern vor...“
Kirsten Boie: „Ja. Die Phantasie schließt die Probleme nicht aus und umgekehrt. Als klassisches Buch nennen wir "Momo".“Momo" tritt in der Reihe Romane, in denen das Phantastische und Realitätsbezogene in Verbindung steht, wobei das eine das andere bedingt und unterstützt. Nennen wir "Timm Thaler" von James Krüss, "Momo" von Michael Ende, "Herr der Diebe" von Cornelia Funke. Es ist eine klare Entwicklungslinie auch mit dem bestimmten Heldentyp, der an die englische Literatur erinnert... Cornelie Funke hat immer vor allem englische Bücher gelesen. Sehr oft haben wir darüber gesprochen. Als Herr der Diebe erschien, schrieb die Kritik, dass es ein Realitätsbuch ist und nur die Lösung dem Phantastischen entnommen ist. Aber es ist nicht so. Die Andeutungen sind dort schon von Anfang an zu finden. Man muss die Bücher lesen können...“
Tamara Bučková: „In Ihren letzten Büchern erscheinen ein Prinz und Prinzessinnen...“
Kirsten Boie: „Ja. Aber die Prinzessin in "Alhambra" ist eine historisch belegte Figur und Prinz im Buch Prinz und Bottelknabe ist doch kein Prinz. Das ist nur sein Name und Bottel ist aus dem Englischen entlehnt...“
Tamara Bučková: „Ich habe den Roman gelesen. Es ist Doppelgängergeschichte, Prinz und Bottel sind die Symbole... Kann es so sein, dass Sie auf den Kontrast bauen?“
Kirsten Boie: „Ja, ich baue auf den Kontrast. Einer beklagt sich über den Überfluss, der andere über den Mangel... Ich baue immer auf den Kontrast.“
Tamara Bučková: „In Ihren Büchern ist zu spüren, dass Sie mit ihnen auch leben. Kommen wir zurück zu Ihren Problemerzählungen. "Ich ganz cool", "Nicht Chicago, nicht hier"... Über die ernsten Themen zu erzählen... - Kostet es viel Kraft?"
Tamara Bučková: „Haben Sie auch Bezugskinder?"
Tamara Bučková: „Im Nachwort Ihres Buches "Alhambra" schreiben Sie, welche Figuren historisch zu beweisen und welche Ihrer Phantasie entsprungen sind. Über diese erfundenen Figuren sagen Sie: „Aber dass es sie so oder so ähnlich gegeben haben könnte, davon bin ich überzeugt“. Schreiben Sie über konkrete Kinder oder über ihre konkreten Geschichten?“
Tamara Bučková: „Das Buch "Alhambra" wird mit einem Zitat aus Lessings „Nathan dem Weisen“ eingeführt. Es geht um die Ringparabel... Sagen wir, dass LeserInnen ab 12 Jahren dieses Buch lesen werden. Wie viele von ihnen werden Bescheid wissen?
Tamara Bučková: „Das Buch "Alhambra" ist sehr schön. Nicht nur als Buch im Sinne der Geschichte, sondern auch als Medium. Zuerst der schöne Umschlag...", ich nehme das Buch vorsichtig in die Hand, „... wenn wir ihn abnehmen, finden wir auf der äußeren Seite des Buchdeckels noch einmal die Abbildungen aus dem Umschlag. Dieses Mal in Form eines Bildes. Wenn wir das Buch öffnen, sehen wir geographische Karten von Granada aus dem Jahre 1492. Das Buch ist gebunden, die Geschichte ist auf schönem Papier gedruckt... Hatten Sie die Möglichkeit das Aussehen des Buchs zu beeinflussen?“
Tamara Bučková: „Sie machen Lesungen. Auf Ihren Webseiten sind die Rubriken Fragen und Antworten und Interview. Wie ist das Feedback von Ihren LeserInnen?“
Tamara Bučková: „Zu Ihrem Buch "Nicht Chicago, nicht hier". Hier gibt es auch ein literarisch-didaktisches Projekt in Form eines Buchs. Wenn man mit Ihren Texten derart weiterarbeitet, werden Sie um die Zusammenarbeit gebeten?“
Völlig ausgebucht
Die Zeit in der Schauspielerkantine
vergeht sehr schnell, Frau Boie
erzählt sehr interessant. „Hallo, sind Sie es, Frau Boie,“ unterbricht
uns ein neuangekommener Mann. „Ich bin ein bisschen früher gekommen als
geplant.“ Es geht wirklich nicht alles. Es geht auch nicht, noch andere Fragen zu stellen. Vielleicht sollte ich noch die Kraft zu einer Abschlussfrage finden, aber auch dafür gibt es keine Zeit und keine Stimmung mehr. Wir verabschieden uns schnell, vielleicht sehen wir uns bei der Projektwoche „Die Insel liest“ wieder. Noch ein paar Fotos... Die Fotos mache ich schon während des Gespräch von Frau Boie über das Drehbuch des Films, dessen literarische Vorlage ihr Roman "Skogland" ist... Kirsten Boie, eine der bekanntesten und „völlig ausgebuchten“ Kinder- und Jugendliteratur-Schriftstellerinnen...
Tamara Bučková ist Germanistin und Bohemistin in Prag. Das Gespräch wurde im Rahmen des Projekts der Karlsuniversität in Prag „Moderne Klassiker der deutschsprachigen Literatur im Fremdsprachenunterricht“ realisiert (September 2007)
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