Ein Kind beobachtet eine Amsel, die im Schnee
ausgestreutes Vogelfutter frisst. Plötzlich jedoch fällt ein Schatten
auf die Amsel – ein Mensch nähert sich ihr und fängt sie in seinen
Schattenhänden. Das zusehende Kind empfindet Mitleid für die Amsel, denn
es weiß, wie sich das anfühlt, wenn ein Schatten auf einen fällt, der
einen festhält und einen zwingt, Dinge zu tun, die man nicht will.
Das Kind im Buch „Die glückliche Amsel“ von
Stefan Moster mit Bildern von Nadia Faichney hat Schlimmes durchgemacht:
Es wurde/wird sexuell missbraucht, von einem Menschen, der ihm
nahesteht. Das Buch soll – in therapeutischer Begleitung –
Gesprächsanlässe bieten, um zu den Kindern vordringen zu können, und
gibt deshalb dem Martyrium des kleinen blonden Kindes viel Raum.
Als Mutter ist es furchtbar, das zu lesen –
dennoch finde ich, dass Stefan Moster und Nadia Faichney es mit der
Idee, den Täter als Schattenhand darzustellen, eine gute Wahl getroffen
haben, die Bedrohlichkeit und gleichzeitig die Unantastbarkeit des
Täters darzustellen. Das kleine blasse Kind hat keine Chance, wenn der
Schatten in seine Nähe kommt.
Vieles wird geschildert, was man vielleicht
aus Erzählungen oder der Zeitung weiß, dass die Kinder dem Täter
vertrauen und ihn – natürlich abgesehen von dem Missbrauch – gern haben,
weil er ihnen hilft, vielleicht ein Sporttrainer ist oder eine andere
Bezugsperson. Doch die Schattenhand überschattet letztendlich das ganze
Leben.
Mosters bei aller Eindeutigkeit behutsamer
Text und die zarten, weichen Bilder von Nadia Faichney illustrieren den
starken Einfluss, den ein solches Ereignis auf ein junges Leben haben.
Alles wird düster, dargestellt besonders gelungen am Bild der Amsel zu
Beginn der Geschichte: „Sein Schatten ist so schwarz, dass der Schnabel
der Amsel aufhört zu leuchten und man bald den ganzen Vogel nicht mehr
sieht.“ Genau das muss es sein, was das Kind empfindet.
Zumindest die Amsel kann ihrem Peiniger am
Schluss entkommen und fliegt davon, und das letzte, nicht mehr zur
Geschichte gehörige Bild zeigt das blonde Kind, wie es mit einem Freund
einen Schneemann baut, während zumindest die Andeutung eines Lächelns
auf seinem Gesicht liegt. Es gibt also Hoffnung…
Ich hoffe, dass dieses Buch vielen Kindern und
ihren Eltern und Therapeuten helfen kann, mit ihren Erlebnissen
fertigzuwerden. Ein vielversprechender und mutiger Ansatz, den Zugang zu
missbrauchten, innerlich vielleicht erstarrten Kindern zu finden, ist es
meiner Meinung nach. Kinder sprechen gern über betrachtete Geschichten
und lassen eigene Erlebnisse einfließen. Achtung: Dieses Buch ist jedoch
eindeutig nur für therapeutische Zwecke gedacht, es ist erschreckend,
aufwühlend und grausam. Es ist schlimm, dass wir in einer Welt leben, in
der es solche Bücher geben muss – aber geben muss es sie.
Mäuse-oder-doch-Monster-jagend
Ed Vere: „Der mutige Max“
Von Anne Spitzner
Ed
Vere: „Der mutige Max“
Aus dem Englischen von Marc-Frederic Schmid
Knesebeck Verlag 2018
32 Seiten, Euro 12,90
ISBN 978-3957281289
Max ist ein schwarzer Kater.
Und wie alle Katzen liebt er es, furchtlos auf Mäusejagd zu gehen. Aber:
Wo kann man so eine Maus finden – und wie sieht sie überhaupt aus?
Also macht Max sich auf die
Suche. Alle Tiere, die er dabei trifft, fragt er nach der Maus. Doch der
cleveren Maus gelingt es, ihn zum Narren zu halten. Und als sie ihn
stattdessen auf Mäusejagd schickt, ist der mutige Max plötzlich gar
nicht mehr so furchtlos…
Ed Veres amüsantes
Bilder-Vorlesebuch „Der mutige Max“ spielt gekonnt mit den
Vorstellungen, die man von Katze und Maus im Kopf hat. Unweigerlich
fühlte man sich an Tom und Jerry erinnert, wäre der schwarze Max nicht
viel unschuldiger und sowieso viel niedlicher als der doofe graue Kater.
Beim dialogischen Vorlesen
bieten sich bei diesem Buch viele schöne Möglichkeiten: Man kann die
verschiedenen Tiere inszenieren – und dem Vorlesekind dabei auch direkt
vorstellen –, und natürlich erkennt man als Leser die Pointe vor dem
kleinen Max. Dann kann man auch gleich Dinge wie sich verstellen, lügen
etc. kennenlernen, auch kann man erfahren, dass es oft gar nicht so
sinnvoll ist, das zu tun, „was man halt so macht“ – weil Katzen eben
Mäuse jagen etc.
Das Buch ist schön bunt, der
schwarze Max hebt sich von der Umgebung, in der er sich bewegt, immer
deutlich ab und ist damit auch für kleine Kinder gut zu erkennen.
Am Ende geht es übrigens zum
Glück doch noch gut aus für Max, den Mäuse-oder-doch-Monster-jagenden
Kater.
Dieses Buch ist eine rundum
gelungene kleine, aber feine Geschichte über vorgefasste Vorstellungen
und wie sie einem auf die Füße fallen können – kindgerecht dargestellt,
mit einer lustigen, nachvollziehbaren Pointe und toll bebildert.
„Der mutige Max“ darf gerne in
Kinderzimmerregale! Ganz klare (Vor-)Leseempfehlung.
(Ab 3)
Tee & Kuchen gegen die
Angst
Danny Baker & Pippa Curnick:
„Frida Furchtlos lädt zum Tee“
Von Sarah Kassem
Danny
Baker & Pippa Curnick:
„Frida Furchtlos lädt zum Tee“
Aus dem Englischen von
Victoria Lach
arsEdition 2018
306 mm x 245 mm
Hardcover, 32 Seiten, 15 Euro
ISBN 978-3-8458-2751-3
Der britische Radiomoderator
Danny Baker (The Danny Baker Show) schrieb 2017 mit Lucie Goose sein
erstes Kinderbuch, und die Illustratorin Pippa Curnick lieferte dazu die
Zeichnungen. Das Ergebnis kann man in dem großformatigen Hardcover Frida
Furchtlos lädt zum Tee bestaunen.
Die Gans Frida lebt ganz
alleine im Wald, noch nie hat sie ein anderes Tier gesehen. Plötzlich
taucht ein böser Wolf auf. Sein Ziel ist es, Frida zu erschrecken und zu
überfallen. Die Gans kennt das Prinzip Angst nicht und lässt sich daher
nicht erschrecken, findet den Wolf sogar niedlich und lädt ihn zu Tee
und Kuchen ein. Genauso verhält es sich mit dem bösen Bären und dem
bösen Löwen, die Frida erschrecken und jagen wollen. Sie bleibt
unbeeindruckt, findet die Besucher ganz nett und lädt sie alle zum
Kuchen ein. Die Raubtiere sind jeweils immer beleidigt, gehen weg und
wollen mit der Gans nichts mehr zu tun haben. Am Schluss fliehen alle
Raubtiere zu Frida, um sich vor dem großen bösen Drachen beschützen zu
lassen.
Abgesehen davon, dass das Buch
eine sehr niedliche Sprache und herrliche Zeichnungen hat, ist die Moral
von der Geschichte wirklich erbaulich und bestärkend. Die kindgerechte
Erzählung zeigt, dass Angst ziemlich oft unnötig ist und Mut die beste
Devise ist.
Einen echten und
keinen Fantasiefreund
Barbara Schinko:
"Eine Insel nur für Patti-Lee"
Von Anne Spitzner
Barbara
Schinko:
Eine Insel für
Patti-Lee
Mit Bildern von
Kathrin Schüler
Dieter Frieß Verlag 2011
102 Seiten, Euro 10,90
ISBN 978-3941472020
Patti-Lee hat es
schwer: In der Schule wird sie von zwei Mitschülerinnen gehänselt, und
zu Hause hören ihre Eltern ihr nicht zu, wenn sie etwas erzählt. Der
einzige, der für sie da ist, ist Yorick, der Pirat aus dem
Kornblumenmeer. Doch Yorick kommt nur, wenn Patti-Lee auf der Insel ist,
dem Hochsitz, und so lange blinzelt, bis ihr die Tränen kommen. Kein
Wunder, dass Patti-Lee wütend ist, als eines Tages ein fremder Junge
dort auftaucht. Schließlich aber freunden sich die beiden an, und sie
erkennen, dass sie die einzigen sind, die ihre Probleme wirklich lösen
können.
Barbara Schinkos
„Mutmachbuch“ erzählt davon, dass es manchmal helfen kann, sich in
Träumereien zu flüchten, aber dass man auf Dauer im wirklichen Leben
nichts davon hat; dass man selbst mit anpacken muss, wenn man will, dass
sich die Dinge ändern – oder, wie Yorick es ausdrücken würde: „Man muss
sich nur trauen.“
Die Figuren wachsen
einem beim Lesen sofort ans Herz, womöglich, weil jeder im Leben
manchmal durch Situationen durch muss, in denen er gern so mutig wäre
wie ein Pirat und sich doch benimmt wie eine feige Angstmaus. Und dabei
zuzusehen, wie Patti-Lee beschließt, mutig zu sein, kann einen selbst
auch ein wenig mutiger machen. Dass sie dabei auch noch einen Freund
findet, einen echten und keinen Fantasiefreund wie den Piratenkapitän
vom Kornblumenmeer, das geht wie im echten Leben auch nicht reibungslos
vonstatten: Sie streiten sich um den Hochsitz, tauschen Schimpfwörter
aus und drohen sich Prügel an; Eisklumpen, Buntstifte und zerrissene
Bilder fliegen zwischen ihnen hin und her. Es dauert einen Moment, bis
sie erkennen, dass sie zu zweit besser sind als allein, bis auch Henry
Yorick sehen kann und bis sie merken, dass der Piratenkapitän sie zwar
im Kornblumenmeer rächen kann, dass ihnen das im wirklichen Leben aber
nichts hilft. Der Plan, den die beiden aushecken, ist sowohl kindlich
als auch schlau.
Erfreut und enttäuscht
zugleich war ich über das klischeehaft gute Ende. Alle Probleme lösen
sich auf einmal in Luft auf, Patti-Lees Eltern hören ihr zu und die
hänselnden Mitschülerinnen werden bestraft. Auch für Henry ist alles auf
einmal prima. Im wirklichen Leben würde das wohl nicht so ablaufen; es
hört sich eher an, als hätte Yorick wieder einmal als Rächer
zugeschlagen und alle Probleme mit seinem Säbel in die Flucht gejagt.
Aber: Es ist ein
schönes Ende, und Patti-Lee, Henry und Yorick haben es nicht anders
verdient.
(Ab 8)
Leerstelle: Angst
Christoph Marzi: "Helena und die Ratten in den Schatten"
Von Lennart Ragmann
Christoph
Marzi:
Helena und die Ratten
in den Schatten
Mit Bildern von Monika
Parciak
Arena 2010
80 Seiten, Euro 12,99
ISBN 978-3401065618
Angst ist ein großes
Thema der Literatur. Es konnte sich dort behaupten, obwohl die
Küchenpsychologie sich seiner so total bemächtigte. In der
Kinderliteratur hat „Angst“ noch mal ihren ganz eigenen Stellenwert,
denn Angst prägt Kindheit, und Eltern müssen - und viele wollen- helfen,
Angst zur Seite zu schieben. Damit der Blick des Kindes wieder klar wird
und es auflachen kann.
„Helena und die Ratten
in den Schatten“ greift Angst auf, alles beherrschende Angst, und
versucht in einer anspruchsvollen Geschichte mit ebensolchen
Illustrationen den Kindergefühlen plastischen Ausdruck zu verleihen.
Gefährliche Äste, das Gras so kringelig, gelbe Augen, die aus dem Dunkel
hervorblitzen, Farben, echt dunkel und hässlich, dünne Beine, riesige
Augen - Manga-Augen, ein Auge größer als das andere, Motive, die aus der
Fremdheit des Schulhofs bis in die Vertrautheit des Kinderzimmers
gelangen.
Es geht um ein
Mädchen, dem auf dem Schulhof eingeredet wird, dass da Ratten in den
Schatten herumspringen und gefährlich sind, weil Leute, die sie sehen,
einfach verschwinden. In der Nacht fällt Helenas Kuscheltier aus dem
Fenster. Sie muss nach draußen, es ist alles ganz dunkel und gruselig.
Wider Erwarten merkt sie, dass die Ratten in den Schatten gar nicht
gefährlich sind, sondern ganz nett, und die Verschwundenen Leute
dageblieben sind, weil sie es so toll fanden. Schließlich hat sie ihr
Kuscheltier wieder und ist die Angst los.
Den furiosen Ansatz,
den Beginn einer guten Erzählung mit sehr spezieller Illustration
schafft das Bilderbuch nicht ganz bis zum Ende durchzuhalten. Woran
könnte das liegen? Dass der Autor eigentlich aus dem Fantasy-Genre kommt
und doch nur mit Angst spielt? Dass Kinderliteratur zu sehr nach
Verköstigung der Eltern giert als Kinderängste literarisch zu sich
vorzudringen zu lassen?
Ein leicht zu
vergessendes Buch ist „Helena und die Ratten in den Schatten“ nicht. Man
hat das Gefühl, es selbst als Literaturkritiker nicht richtig in den
Griff zu bekommen, und nach langem Betrachten stellt sich die Überlegung
ein, ob es nicht eher für diejenigen jungen Leser, die ihre Angst schon
besiegt haben, bevor sie das Buch lesen, geeignet ist. Eine
unbefriedigende Leerstelle bleibt, aber da man genau sie aus den
Angstzuständen kennt, fügt sie dem Buch vielleicht einen zusätzlichen
Wert hinzu.
(Ab 9)
Ein Buch, in dem mehr als eine Geschichte
steckt
Katharina Grossmann-Hensel: „Die mutige Marta“
Von Brigitte
Bjarnason
Katharina
Grossmann-Hensel:
„Die mutige Marta“
Annette Betz Verlag
32 S., Euro 16,95
ISBN
978-3-219-11437-9
Marta lebt in ihrer
eigenen Welt voller spannender Abenteuer. Sie ist von wilden Tieren
umgeben, die ihr das Käsebrot klauen und im Bad alles durcheinander
bringen. Die Eltern meinen, sie hätte zu viel Fantasie, sie gehen nicht
auf die Bemerkungen ihrer Tochter ein. Es ist wichtiger für sie, Marta
zu ermahnen nicht mit vollem Mund zu reden und immer brav die Mütze
aufzusetzen, anstatt mit ihr zu reden. Marta ist allein in ihrer Welt,
bis am Ende des Buches plötzlich die Rollen gewechselt werden. Die
Eltern entdecken die gefährlichen Tiere, die aus dem Zirkus entlaufen
sind, in Martas Zimmer und kriechen verängstigt zu der mutigen Marta ins
Bett.
Das Buch „Die
mutige Marta“ ist ein gutes Beispiel dafür, wie oft Erwachsene und
Kinder aneinander vorbeireden. Hier werden die Erwachsenen ermahnt,
ihren Kindern zuzuhören und an ihrer Erlebniswelt teilzunehmen. Marta
wünscht sich, wie alle Kinder, das Interesse und die Aufmerksamkeit der
Eltern. Mit Ausdauer und Mut erreicht sie ihr Ziel.
Der Text des
Buches, der verschiedene Alltagssituationen aufgreift, ist knapp und
besteht aus den Ermahnungen der Eltern und Martas Hinweisen auf die
wilden Tiere. Die farbenfrohe Illustration unterstreicht die Aussage
des Textes. Sie zeigt Martas Fantasiewelt und mittendrin die
ahnungslosen Eltern. Es gibt zahlreiche versteckte Details zu entdecken,
die auf die Hintergrundgeschichte hinweisen und Stoff zu Gesprächen
geben. Sehr gefallen hat mir der Schluss der Geschichte, wo die Eltern
die wilden Tiere entdecken und Marta sie zu sich ins Bett nimmt.
„Die mutige Marta“
ist ein anspruchsvolles, hübsches Bilderbuch, das Kindern aus dem Herzen
spricht.
Von da an plötzlich
mutig
Albert Wendt:
"Betti Kettenhemd"
Von Anne Spitzner
Albert Wendt:
„Betti Kettenhemd“
Jungbrunnen 2008
120 S., Euro 13,90
ISBN 978-3702657925
In seinem Buch „Betti Kettenhemd“
erzählt Albert Wendt die Geschichte des ängstlichen kleinen Mädchens
Bettina, die trotz ihrer großen Angst einen streunenden Hund, den
Schwarzen Mülleimer, vor dem Hungertod rettet, mit ihm Freundschaft
schließt und ihre Angst verliert. Von da in ist sie die mutige Betti
Kettenhemd, die auch vor dem ordnungsliebenden Freizeitjäger Dr.
Mueller-Meckel keine Furcht mehr zeigt. Die Rebhuhndame Tek-tek wird
ihre Lehrerin und bringt ihr bei, richtig mit der Natur umzugehen, die
jetzt Bettis Zuhause geworden ist, sich im Feld unsichtbar zu machen und
dergleichen mehr. Doch das ist noch nicht alles. Bettis Schicksal wendet
sich dramatisch, als der Schwarze Mülleimer plötzlich verschwindet und
sie mit Tek-tek alleine zurücklässt. Betti hört auf, stark zu sein, und
es dauert eine Weile, bis sie begreift, dass man auch stark und mutig
sein kann, wenn man nicht von einem großen starken Freund begleitet
wird. Und zum Glück hat Betti noch andere Freunde, als Dr.
Mueller-Meckel es ausnutzen will, dass ihr Beschützer fort ist.
Das klingt wie eine großartige,
spannende Geschichte für kleine Kinder, die wie die kleine Bettina Angst
vor der Dunkelheit und vor vielen anderen Dingen haben, und im Prinzip
ist „Betti Kettenhemd“ das ja auch. Nur richtet es sich auf keinen Fall
an Kinder, die wenig lesen oder noch nicht richtig mit der Sprache
zurechtkommen. Denn „Betti Kettenhemd“ ist entweder für kleine Kinder,
die viel gelesen haben und somit die teilweise komplizierten
Formulierungen schon verstehen können, oder für Kinder, die nicht allein
lesen, sondern mit ihren Eltern, die ihnen über diese Schwierigkeiten
hinweghelfen können, oder es ist ein Buch für schon größere Kinder,
denen die Geschichte vielleicht nicht gefällt, weil es um ein Kind geht,
das wesentlich jünger ist als sie selbst. Diese Kluft zwischen dem mit
den Protagonisten angestrebten Lesealter und der wesentlich höhere
Anforderungen stellenden Sprache ist mir zuerst aufgefallen – es ist ein
wenig, als würde man anfangen, Schiller zu lesen, wenn man zuvor nur mit
den „Drei-Fragezeichen“ -Büchern vertraut war. (Was keine Kritik sein
soll. Ich finde die „Drei Fragezeichen“ fabelhaft.)
Aber zurück zu „Betti Kettenhemd“.
Zuerst hat das Buch mich nicht besonders begeistern können, das gebe ich
zu. Aber ich sage das an dieser Stelle nur, damit jemand, der anfängt,
das Buch zu lesen, es nicht gleich in die nächste Ecke wirft, weil ihm
das erste Kapitel nicht gefällt. Zugegeben, es dauert ein bisschen, bis
man „drin ist“ in dieser Geschichte. Aber dann lässt sie einen nicht
mehr los, und plötzlich möchte man selbst so sein wie diese wilde,
mutige Betti Kettenhemd: so frei, so stark, und man möchte Freunde haben
wie den Schwarzen Mülleimer oder das Rebhuhn Tek-tek. Subtil und
kraftvoll zugleich erzählt Albert Wendt hier die Geschichte des
Mädchens, das seine Angst überwindet und schließlich merkt, dass es auch
ohne Beschützer keine mehr zu haben braucht, das ein wenig erwachsen
wird, obwohl sie ein kleines Kind bleibt, und das mit einem Mal mehr
weiß als die meisten anderen Menschen, weil es Glück kennengelernt hat
und Verlust. Betti Kettenhemd ist der Inbegriff des Kindes, das anders
ist, als es alle haben wollen. Ihr gegenüber steht der Spießer Dr.
Mueller-Meckel, der es nicht ausstehen kann, dass jemand die Ordnung
durcheinander bringt, die er so mühsam aufgebaut hat und die er doch so
sehr liebt. Seine Niedertracht und Gemeinheit als entgegengesetzter Pol
zu Betti Kettenhemd heben die Geschichte über das Maß einer bloßen
Erzählung von Angst und deren Überwinden hinaus. Durch den Freizeitjäger
gibt es für Betti Kettenhemds Freiheit und Glück eine reale Bedrohung,
die der Geschichte Schärfe und Spannung verleiht und sie so zu einem
richtigen Thriller für jüngere Leser werden lässt.
Viel mehr will ich aber an dieser
Stelle nicht verraten. Für alle, die sich nicht gleich von den ersten
Sätzen abschrecken lassen, ist dieses Buch ein echter Geheimtipp zum
Mitlachen, Mitweinen und Mitfiebern – und alle, die es nicht lesen, sind
schließlich selbst daran schuld.