Das
Mädchen nebenan spielt Basketball, singt, trommelt, boxt – und treibt
damit den feinen Nachbarn, der es nicht recht schaffen kann, sich seinem
Buch zu widmen, in den Wahnsinn. Immer wieder steht der Nachbar auf und
klopft an die Wohnungstür des Störenfrieds, um das Hauptmotto der
Geschichte durchzusetzen: „Pssssst! Der Nachbar liest. Der Nachbar liest
ein Buch.“ Bis die Konzentration irgendwann hin ist. Also ändert er
seine Taktik und schenkt dem Mädchen ein Buch. Als sie es auspackt, ist
endlich Ruhe eingekehrt und der Nachbar kann sich in seine Lektüre
vertiefen. Bis Nachbars Hund zu bellen anfängt.
Eine vor
allem grafisch ausgezeichnete Geschichte, die mit ihrem individuellen
Zeichenstil den Kindern eine wichtige Lektion beibringt – nämlich dass
Lesen nicht zum Uncoolsten gehört, was man in seiner Freizeit machen
kann. Und wenn selbst irgendein blöder Nachbar so auf Bücher abfährt,
dann sollte das doch für dich gar kein Problem sein, Kleine(r)!
Eine
Besonderheit hat das Buch noch in Form der beiliegenden CD zu bieten,
auf der sich eine verspielt-jazzige Hörspiel-Interpretation der
Geschichte findet, komponiert und eingespielt von Autor plus Band.
Koen Van
Biesen: „Mein Nachbar liest ein Buch“
mixtvision,
2014
32 Seiten
(plus Audio-CD), Euro 15,90
ISBN
978-3944572093
Der
Mensch, das seltsame Tier
Nadia Budde: „Und irgendwo gibt es den Zoo“
Von Bettina Meinzinger
Der
Mensch ist ein seltsames Tier, und davon erzählt auch das originelle,
betrachtenswerte Bilderbuch „Und irgendwo gibt es den Zoo“ von Nadia
Budde. Bunt und lustig sind ihre Figuren, deren Charaktereigenschaften
oder äußerliche Merkmale an die von Tieren erinnern: Die Zahnspange von
Marlene macht Saurierzähne, das gemeinsame Abendessen mit der
versammelten Meute gleicht einer Raubtierfütterung, die Nachbarin mit
den stachelig nach oben gegelten Haaren sieht aus wie ein Igel und
dreimal darf geraten werden, mit welchen Tieren Herr Rieger, Frau Grosch
und Herr Neule Ähnlichkeiten aufweisen. Ja, wer braucht bei dieser
Menagerie schrulliger Typen mit all ihren menschlichen Eigen- und
Merkwürdigkeiten eigentlich noch den Zoo?
(Ab 3)
Nadia Budde: „Und
irgendwo gibt es den Zoo“
Peter Hammer Verlag
2013
32 Seiten, Euro 14,90
ISBN 9783779504702
Jüdisches Leben in einer modernen Großstadtfamilie
Eva Lezzi:
"Chaos zu Pessach"
Von Ada Bieber
Nachdem
die Literaturwissenschaftlerin und Kinderbuchautorin Eva Lezzi bereits
mit dem Bilderbuch „Beni, Oma und ihr Geheimnis“ (2010) von jüdischem
Alltagsleben im heutigen Berlin erzählt hat – nicht ohne en passant auf
die Verfolgung und Vertreibung der Juden durch die Nazis einzugehen und
alte jüdische Traditionen darzustellen –, legt sie nun ihr zweites
Bilderbuch mit gleicher Intention vor. Sie knüpft an das erste
Bilderbuch an und erzählt wieder von Beni und seiner Familie. In „Chaos
zu Pessach“ (2012) wird die Intention der Autorin noch einmal ganz
deutlich: Sie möchte möglichst unprätentiös und unangestrengt das
heutige jüdische Alltagsleben einer modernen Familie in Deutschland
zeigen! Auch wenn der Autorin dies meistens gelingt, so ist es doch
gerade das gewollt Unangestrengte, das das Lesen dieser Geschichte
mitunter anstrengend werden lässt. Denn es fließen so viele
Einzelprobleme in die Geschichte ein, dass jungen Lesern schon mal der
Kopf schwirren kann.
Dennoch hat die Geschichte über Beni, seine Schwester
Tabea, seine jüdische Mutter und seinen nicht-jüdischen Vater seinen
Reiz, denn sie wirkt auch dank der Bilder und kleinen Installationen von
Anna Adam nicht verstaubt oder alltagsfern. Auch dass es sich nicht
unbedingt um eine ‚Bilderbuch-Familie’ handelt, sondern
Gegenwartsprobleme wie Trennung – hier thematisiert an der Figur Onkel
Jakob – Einzug halten, macht die Geschichte sympathisch. Ohne
traditionell jüdische Lebensentwürfe kommt die Geschichte dennoch nicht
aus. Und das ist es ja auch, worum es der Autorin geht: Das
Sichtbarmachen von jüdischen Festen, Ritualen und Regeln. In dem zweiten
Bilderbuch wird vom Pessachfest erzählt bzw. vom Seder, dem feierlichen
Essen mit unterschiedlichen rituellen Speisen. Daran schließen sich
unterschiedliche Gespräche über das Judentum und über jüdische
Familienentwürfe an. Für die meisten jungen Leser dürfte dies eine
völlig neue Welt sein und es ist gut, dass bei schwierigen oder
unbekannten Wörtern das Glossar am Ende des Buches Aufklärung bietet. Es
wäre sogar hilfreich, wenn junge Leser im Grundschulalter
Leseunterstützung von erwachsenen Vermittlern bekämen und eine
Anschlusskommunikation ermöglicht würde. Denn Fragen werden sich allemal
aus dem Text ergeben; zumal bei jenen Kindern, die bisher wenig
Berührung mit dem Judentum gehabt haben. Die oft kreativen
Installationen von Anna Adam – dominiert von kleinen
Alltagsgegenständen, Zeichnungen und Zimmerkulissen – machen das Buch
zwar peppig, aber bieten manchmal nicht genügend visuelle Hilfen beim
Verstehen des Textes. Es wäre beispielsweise hilfreich gewesen, Beni
hätte ein Gesicht bekommen, um eine Identifikationsfigur für Kinder zu
sein.
Alles in allem überwiegt aber der dankenswerte Ansatz,
jüdische Leben der Gegenwart zu thematisieren und jungen Lesern näher zu
bringen. Daher lohnen sich auch beide Bilderbücher, trotz einiger
Holprigkeiten, zum gemeinsamen Vorlesen und Betrachten.
Eva Lezzi:
Chaos zu Pessach
Mit Illustrationen von
Anna Adam
Hentrich & Hentrich 2012.
32 Seiten, Euro 14,90
ISBN
978-3-942271-51-6
Von der Rezensentin ist zuletzt das Essay
erschienen: „Kunst im Bilderbuch oder Über die Notwendigkeit einer ästhetischen
Kompetenz"
Zuerst war
da der Videorekorder – nie mehr Filme verpassen, denn man kann sie ja
einfach alle auf Kassette aufnehmen! Aber plötzlich waren da mehr
Videokassetten, als man überhaupt Zeit hatte, vor der Glotze zu sitzen.
Heute ist es noch viel einfacher, man benötigt nicht für jeden schnöden
Film einen eigenen Datenträger. Auch MP3s oder E-Books können in fast
unbegrenztem Ausmaß in kleinen coolen Kästchen gespeichert werden.
Und Photos
macht man ja jetzt auch viel mehr. Keine unscharfen, verwackelten Bilder
mit abgeschnittenen Köpfen mehr – die werden einfach gelöscht.
Doch da gibt
es doch auch noch diese Apparate namens analoge Kameras? Eine solche
nämlich bekommt Luca von ihrem Opa geschenkt. Luca, die gerne genau
hinschaut. Und mit ihrer Kamera, bei der jeder Klick auf den Auslöser
auch ein Treffer sein soll, passt sie nochmal extra genau auf. So sieht
sie Dinge, die anderen entgehen: einen Regenbogen aus Autos oder den
Kaugummi am Hintern der Marktfrau.
„Luca und
die besonderen Dinge“ ist Anleitung und Anregung dazu, selbst auf
Entdeckungsreise zu gehen und dabei das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen
aufzuspüren.
Welchen Sinn
haben Bilderbücher? Sie vermitteln auf ihre spezielle Art nützliches
Wissen. Auf direktestem Weg erfährt man durch ein Sachbilderbuch, warum
Vögel Nester bauen, wie ein Kran funktioniert oder wie der Dschungel
Südamerikas aussieht. Oder es werden in einem erzählenden Bilderbuch
wichtige Werte über eine spannende Geschichte vermittelt, zum Beispiel
dass man Probleme besser gemeinsam lösen kann als alleine oder dass es
für ein friedvolles Miteinander unerlässlich ist, sich zu entschuldigen.
Hat das Bilderbuch überhaupt einen Sinn, ein Bilderbuch zu sein? Ja, es
hat einen entwicklungspsychologischen und pädagogischen Sinn, weil die
Bilder die geschriebenen Worte ergänzen und das Lesen erleichtern und
fördern. Wie kaum ein zweites Medium wird das Bilderbuch fast
ausschließlich mit Kindern in Verbindung gebracht. Daher muss es stets
ein Ziel verfolgen und eine Botschaft an den Leser vermitteln.
Aber was,
wenn unter all den sinnschaffenden, pädagogisch wertvollen Bilderbüchern
ein Buch mit folgendem Inhalt daherkommt? Eine kleine Frau namens
Nasekalt geht im Wald spazieren, trifft ihre Freundin, die Waldfee, und
macht mit ihr ein Teekränzchen auf einem Baum, wobei sie kleine
Schneemänner essen. Dann stapft ein Godzilla-artiger Riesenbär vorbei,
der ein überdimensionales Osterei legt. Nachdem Waldfee und Frau
Nasekalt es ausgebrütet haben, schlüpfen ein Bärchen, ein Hase, ein
Huhn, eine Maus, ein Nasenkind, ein Floh, ein Waldwicht und ein
Immerfroh aus. Sie tanzen, sagen Gedichte auf und pflücken Blumen. Der
Bär kommt zurück und nimmt seine „Kinder“ mit ans Meer,
selbstverständlich aber erst, nachdem dem Huhn Schuhe angezogen worden
sind. Waldfee und Frau Nasekalt fliegen zurück auf ihren Baum und
trinken den letzten Tee. Und zum Schluss spaziert Frau Nasekalt auf dem
Himmel wieder nach Hause.
Noch
interessanter klingt es, wenn man es wörtlich liest: „Frau Nasekalt ging
in den Wald. – Am Waldfeehaus machte sie halt. – Die Waldfee kochte
einen Tee, – den tranken sie und aßen Schnee. – Da kam ein großer Bär
daher, – legte ein Ei und ging vorbei.“ So geht es das ganze Buch
weiter. Mancher Leser wird sich nun nach dem Sinn dieser Geschichte
fragen. Vielleicht wird er zum Entschluss kommen, dass es gar keinen
Sinn gibt. Und genau dann hat er das Buch verstanden! Auf dem
Klappentext wird dieses Phänomen tituliert als: „Nonsens vom Feinsten!“
Und das ist es auch.
Die Kunst
des Unsinns zu beherrschen, ist aber keinesfalls leicht. Denn
Nonsens-Literatur ist nicht dasselbe wie sinnlose Literatur. Bewusst
einen Sinn zu umgehen, sodass es sich genial und witzig anhört oder sich
sogar ein höherer Sinn durch den Unsinn herausstellt, ist eine
Wissenschaft für sich. Diese wird von der Autorin zweifellos beherrscht.
Das Buch zu lesen und anzusehen, macht unglaublich viel Spaß. Jedes Mal
wenn man denkt, sinnloser geht es nicht mehr, wird man vom Gegenteil
überzeugt. Durch das Hintertürchen schleichen sich ein paar
autobiographische Erfahrungen von Raab: Zum Schluss erfährt man in einem
– zum Buch passend – ungewöhnlich geschriebenem Autorenportrait, dass
sie abends im Bett manchmal eine kalte Nase hat, als Kind ebenfalls gern
in den Wald gegangen ist, Schnee gegessen und Tee getrunken hat. Wer
weiß, ob Frau Nasekalt nicht ein Alter Ego der Autorin ist.
Diese
Sinnverweigerung in „Frau Nasekalt“ wirkt nahezu wie ein Protest gegen
die pädagogische Prägung und deren Sinnlastigkeit in den Bilderbüchern.
Die Sprache liest sich, als hätte man sie einfach los- und laufen
gelassen. Sie macht, was sie will. Reime auf Teufel komm raus klopfen
sich die Worte zurecht, ohne auf jegliche inhaltliche Richtigkeit zu
achten. Aber auch die Illustrationen protestieren gegen Vorgaben und
Normen. Anstelle des üblichen „naiven Realismus“, d.h. annähernd
realistische Darstellung, klare Umrandung und leichte Verniedlichung von
Figuren, treten krumme Linien, verrutschte quietschbunte Farben und
variierende Größenverhältnisse. Oft erkennt man bei den Landschaften
nicht mehr, wo oben und unten ist: Das perfekte Chaos. Und dennoch würde
man die Pop-Art-ähnlichen Bilder von Raab unter Tausenden
wiedererkennen. Auch hier zeigt sich die hohe Kunst des Unsinns.
Vielleicht
kann nicht jeder mit einer Geschichte ohne Sinn etwas anfangen, aber wer
es beherrscht diese Sprache zu verstehen – vor allem Kinder dürften zu
dieser Gruppe dazugehören –, wird auf seine Kosten kommen. Das Buch ist
ausgezeichnete Unterhaltung der besonderen Art und lässt den Leser auf
jeder Seite etwas Neues entdecken. Um es noch einmal zu wiederholen:
Nonsens vom Feinsten!
Ein wundervoller Drahtseilakt über
schwindelndem Abgrund!
Heinz Janisch/ Helga Bansch
"Die Brücke"
Von Ada Bieber
Heinz
Janisch/ Helga Bansch: Die Brücke
Jungbrunnen Verlag 2010
32 Seiten, € 13,90
ISBN 978-3702658199
Soviel gleich vorweg: Dieses wundervolle
Bilderbuch von Heinz Janisch und Helga Bansch ist eine Kostbarkeit, die
man nicht mehr aus der Hand legen möchte! Schon wenn der Betrachter die
Umschlagsseite öffnet, kündigt ein collagierter Fischschwarm von der
hohen künstlerischen Qualität des Buches. Die erzählte Geschichte
handelt parabelhaft von der schicksalhaften Begegnung eines Bären und
eines Riesen an der großen Hängebrücke über dem Fluss. Beide Giganten
treffen sich in der Mitte der schmalen Brücke über dem reißenden Abgrund
und jeder beharrt auf dem Recht, zuallererst über die Brücke gehen zu
dürfen. In diesem Streit kommen die sich anfangs feindlich
gegenüberstehenden Figuren schließlich auf die friedliche Lösung, sich
gegenseitig zu umschlingen und zu drehen und so die schmale Brücke
gleichzeitig zu passieren. Diese Lösung setzt freundschaftliches
Vertrauen und die Fürsorge um den jeweils anderen voraus, denn sie
bedeutet Fürsorge für sich selbst. Nur indem der Bär und der Riese sich
gegenseitig stützen und sich Schritt für Schritt umeinander drehen,
bekommt jeder die nötige Stabilität, die ein solcher Drahtseilakt
braucht. Diese Geschichte über Vertrauen als Voraussetzung eines
gelingenden Miteinanders profitiert ungemein von der sagenhaften
Gestaltung Helga Banschs. Ihre Bilder leben weniger von der malerischen
als von der materiellen und graphischen Gestaltung. Es sind insbesondere
die Collagen, die durch den Einsatz unterschiedlich strukturierter
Papiere und graphischer Skizzen eine kolossale Landschaft entstehen
lassen. Die gekonnt gewählten Perspektiven – beispielsweise die im Zenit
über der Konfliktsituation schwebende Vogelperspektive oder die
Nahaufnahme der gegeneinander stoßenden Füße auf der schwankenden Brücke
– lassen die Textpassagen auf dramatische und eindringliche Weise
anschaulich werden. Die Bilder erzählen jedoch nicht nur in
großformatigen Ansichten, sondern auch mittels diverser Teilstudien, die
Figuren und Situationen konkretisieren. Die in vier Teilen dargestellte
Drehung als Drahtseilakt zweier Giganten über dem Abgrund ähnelt in
ihrer Reihung einem Tanz in einem Trickfilm. Die Auflösung und das gute
Ende der Geschichte werden daher von der visuellen Komponente des Buches
entscheidend mitgetragen. Erleichtert über das gute Ende der Geschichte
wünscht sich der Betrachter dennoch, mehr von diesen wundervollen
Bildern umblättern zu dürfen ...
„Tatu und Patu und ihr verrücktes
Gute-Nacht-Buch“
Von Mercedes Kraut
Aino
Havukainen / Sami Toivonen:
„Tatu & Patu und ihr verrücktes
Gute-Nacht-Buch“
Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat
Thienemann 2011
31 S., Euro 12,90
ISBN 978-3522436755
„Tatu und Patu“ – kein
Allerweltsbilderbuch!
Nicht zu verleugnen beim ersten
Durchblättern ist der eingemixte Comicstil. Figuren mit riesigen Köpfen
und riesigen Augen, Kartoffelnasen und große Münder, die aber auch
schrumpfen können zu Minipunkten. Und auch nicht zu verleugnen: Es sind
gut gemachte Bilder; sie sind wirklich lustig. Dazu wahnsinnig viele
Einzelheiten, die die jungen Betrachter entdecken können – zweifelsfrei,
ein Buch wirklich für Kinder und zu deren Freude. ,
Das Buch handelt von den Brüdern Tatu und
Patu, die ihr Patenkind, das Baby Satu, zu Besuch haben. Die beiden
bereiten für das Baby alles vor: Einen extra Babyrollator, einen Gürtel
für Tatu mit allem Notwendigen wie Pflaster, Salben, Q-Tips und
Kuscheltieren. Ganz wichtig auch - das Thermometer, mit dem die
Temperatur des Babybreis für Satu gemessen wird. Sowie ein
Walkie-Talkie, mit dem sich die beiden Brüder verständigen können.
Beim Ins-Bett-Bringen dann holen Tatu und
Patu einen extra „Einschlafordner“ heraus. Daraus lesen Tatu und Patu
dann Satu vor; zu erfahren ist so unter anderem, was passiert, wenn man
nicht ins Bett geht. Die Parodie auf moderne Erziehung per Ratgeber und
allerlei Hilfsmitteln endet mit einem ziemlichen Misserfolg: Am Ende ist
Satu nicht mehr im Bett! Die schläft unterm Teppich, und da legen sich
Tatu und Patu dann dazu.
Dieses originelle Bilderbuch besteht zur
einen Hälfte aus seiner chaotischen Handlung, zur anderen aus Einblicken
in den Aktenordner, den Tatu und Patu aufgesetzt haben. Da verliert man
mal den Überblick und mal die Energie, genau hinzuschauen, bis man beim
nächsten Anschauen wieder Neues entdeckt. Kein Buch für den
Einmal-Gebrauch, er lohnt sich, der Platz im Bücherregal. Sollte
jemandem das Thema „Einschlafen“ ausgelaugt vorkommen – „Tatu und Patu“
beweist das Gegenteil. Es ist so einfach wie es komplex ist. Kinder
brauchen nicht viel zum Einschlafen, nur einen Teppich.
Melanie Laibl/Alexander Strohmaier: „Herr Grimm und Frau Groll zerkugeln
sich: Eine Geschichte von zwei Seiten“
Von Miriam Schneider
Melanie
Laibl: Herr Grimm und Frau Groll zerkugeln sich: Eine Geschichte von
zwei Seiten
Mit Illustrationen von
Alexander Strohmaier:
Luftschacht Verlag
2010
48 Seiten, Euro 19,40
ISBN 978-3902373632
Das Buch kann von zwei
Seiten aufgeschlagen werden, und es erzählt dieselbe Geschichte von zwei
Seiten. Frau Groll erzählt, Herr Grimm erzählt. Doch sie erzählen ihre
Geschichte nicht aus zwei Perspektiven, sie erzählen dasselbe. Sie sind
– nomen est omen oder eher nomina sunt omina - böse, nichts macht
ihnen Freude, sie grimmen, sie grollen. Dann, in der Mitte des Buches,
in der ihre gleichen Geschichten und sie sich begegnen, da kehrt die
Freude ein. Sie beginnen zu lachen, sie zerkugeln sich titelgebend. Alle
versäumten Lacher der letzten Jahrzehnte brechen und knallen aus ihnen
heraus. Nun geht ihr Leben anders weiter.
Für Erwachsene ist das
eine schöne Erkenntnis: Es gibt den wunderbaren Moment, an dem man
herauskommt aus seinem einsamen Bösesein, er kommt von außen und geht
los wie ein Feuerwerk. Das könnte wohl Liebe vollbringen. Dem Weltbild
von Kindern entspricht das gar nicht; sie schützen sich vor bösen
Menschen, indem sie deren Bosheit herausspüren und nicht über mögliche
Veränderungen oder erwachsen-menschliche Gründe nachdenken. Um
Schreckgestalten wie Frau Groll und Herrn Grimm machen Kinder einen
Umweg, denn sie machen Ärger, wenn Straßenkreide unter ihren Sohlen
klebt oder Bälle gegen ihre Autos fliegen. Können sie auch anders sein?
Für Kinder genügt „gut“ und „böse“, um sich zurechtzufinden, und das ist
für ihr tägliches Dasein in einem Land voller Erwachsener
überlebenswichtig.
Die Illustrationen
sind modernes Design; im Stil von CD-Covern, die als ‚International
Music’ im Coffee-Shop angeboten werden. Im Bilderbuch ist das neu, und
es hat seinen Platz, denn wir leben in der Welt von Grimms und Grolls,
die auf den Großen Moment warten. Dann ist er da, jener Moment, und er
entfaltet seine Wirkung. Buch und Inhalt korrespondieren: Ein
originelles Projekt, das voll durchgezogen wird.
Fridolin Franse ist
ein Frisör von besonderer Art. Jede seiner Tätigkeiten führt den
Betrachter des Bilderbuches in eine bunte Welt voller Kuriositäten. Es
gibt keine Geschichte in diesem Buch, nur einzelne Wörter als
Anhaltspunkte. Die Hauptrolle spielt die Illustration, und es ist die
Aufgabe des Betrachters, den Bezug der Motive zu der jeweiligen
Tätigkeit des Frisörs zu erkennen. Hierzu brauchen insbesondere jüngere
Kinder die Hilfe von Erwachsenen, da manche Motive und Szenen eher
Erwachsenen als Kindern bekannt sein dürften.
In „ Fridolin Franse
frisiert“ gibt es viele witzige Details zu entdecken. Die schwarz-weißen
Tuschzeichnungen werden durch Fridolin als bunte Collage aufgelockert.
Die künstlerische fantasievolle Illustration ist für alle Altersgruppen
interessant.
„Fridolin Franse
frisiert“ ist kein Vorlesebuch. Es ist ein Buch zum Anschauen und lädt
Kinder und Erwachsene zu einer spannenden Entdeckungsreise ein.
Ein Geschenkbuch, wie
man es selten findet: „Heimat“ von Roswitha Moralic. Von der Optik und
Haptik ist das großformatige Werk liebevoll gestaltet und sehr gekonnt –
ein schönes Buch. Es ist modern, und das verwirrt zuerst, wenn man den
Titel liest. Denn der Begriff „Heimat“ ist zunächst altertümlich, in
Deutschland ja auch belastet und will nicht zu einem Buch auf der Höhe
der Zeit passen. Ein positiver Widerspruch wird so erzeugt, der dazu
aufruft, einen Begriff neu zu denken.
Der Pergamentumschlag,
der das Wort „Heimat“ abbildet und sofort mit Leben füllt –die
Buchstaben tragen vielfache, in wohligen Farben gehaltene Naturmotive –
nimmt gleich Abschied vom negativ konnotierten Heimatgefühl und führt
den aufmerksamen Betrachter hinein in ein Buch, das in die Heimat der
Gefühle, der Gerüche, der Empfindungen der Kindheit eben leitet.
Wenn man das Buch
aufschlägt, verbreitet es geradezu eine Atmosphäre der Ruhe und des
Tiefgangs. Lyrische Gedanken und Sinnsprüche, Gedichte, poetische
Anmerkungen im weitesten Sinne zu „Heimat“ –all das, was auch in einem
selber schlummert und immer wieder einen unruhigen Schmerz hinterlässt,
findet sich dort widergespiegelt. All das, was man jungen Menschen
mitgeben will!
Gerade für
Jugendliche, die in der Pubertät sind und auf der Suche nach innerer
Ruhe, die zwischen Kind- und Erwachsenensein hin- und herschwenken,
bietet diese Sammlung von stimmigen Texten und Bildern Raum. Auch das,
was zum Schmunzeln anregt, trifft ins Herz.
„Heimat“ ist
wunderschön illustriert. Ein transparentes Deckblatt wie in einem
Photoalbum, bei dem man den Text durchschimmern sieht, lässt Bilder und
Gedichte wie ein Puzzle miteinander korrespondieren. Eine schöne Gabe
für Konfirmanden, Firmlinge und junge Erwachsene, die gern auch mal
lesen und nicht im elektronischen Zugang zur Welt versinken sollen.
Unkonventionell: „Warum die Liebe blind ist und Hand in Hand mit dem
Wahnsinn geht“
Von Nazli Hodaie
Aylin
Yavuz (Text und Bilder):
"Warum die Liebe blind
ist und Hand in Hand mit dem Wahnsinn geht"
Eine Erzählung aus dem
orientalischen Volksmund
Ins Deutsche übersetzt
von Aylin Yavuz
Wuppertal: Gillvuz
2008
32 S., Euro 15,95
ISBN
978-3940434029
Beim
Versteckenspielen während eines vom Wahnsinn initiierten Treffens
verschwindet die Liebe, weshalb der Wahnsinn sie suchen geht. Nach
sehr langer Suche auf der ganzen Welt setzt er sich an einen
Rosenstrauch, um sich auszuruhen. Die Liebe, die sich ausgerechnet
in diesem Rosenstrauch versteckt hatte, springt mit einem Dorn in
ihrem einzigen Auge heraus. Sie ist nun blind. Schuldbewusst
verspricht ihr der Wahnsinn, nie von ihrer Seite zu weichen.
Das Bilderbuch „Warum
die Liebe blind ist und Hand in Hand mit dem Wahnsinn geht“ ist
bekennendermaßen „eine Erzählung aus dem orientalischen Volksmund“.
Zieht man in Betracht, mit was für Bildern der Orient in den westlichen
Gesellschaften assoziiert wird, überrascht es umso mehr, wie wenig sich
die Illustratorin (und zugleich Übersetzerin) der Erzählung von den
gängigen Orientklischees hat beeinflussen lassen. Weder die Darstellung
der Figuren noch weitere Illustrationen lassen im westlichen Verständnis
als orientalisch geltende Spuren erkennen. Vielmehr konzentriert sich
die Illustratorin bei der Abbildung der abstrakten – da menschliche
Charakterzüge – Figuren auf die jeweiligen Eigenschaften selbst, die sie
durch kugelförmige Wesen konkretisiert. Zur deutlichen Veranschaulichung
des jeweiligen Charakterzugs verwendet sie zum Teil interessante,
allerdings für Kinder wohl nicht (leicht) entzifferbare Anspielungen,
wie dies z.B. bei der Figur „Gewissen“ der Fall ist: Diese trägt als
Gesicht das Antlitz Sigmund Freuds.
Trotz der
beachtenswerten, unkonventionellen Vermeidung jedweden Orientklischees
und der gelungenen Konkretisierung der menschlichen
Charaktereigenschaften in deren Aussehen und Handeln wirken die
Illustrationen allerdings zuweilen etwas „schulmädchenhaft“, ja
oberflächlich. Dies manifestiert sich v.a. in der Darstellung der Natur,
aber auch in der starken Farbbetonung und der Akzentuierung gewisser
Körperteile wie Wimpern bei den Figuren.
Auch gewinnt die
Erzählung durch die Illustrationen viel mehr an Brutalität, als es in
mündlicher Überlieferung oder in einer nicht bzw. anders illustrierten
Textversion der Fall wäre. Zwar ist Grausamkeit an sich ein
herkunftsunabhängiger Bestandteil der Volkserzählung, sie wird jedoch in
der Regel nicht näher beschrieben, nicht konkretisiert. Die hiesige Art
und Weise der Illustration veranschaulicht hingegen das Grausame und
macht das – sogar physisch – vorstell- und fühlbar. Der Dorn im Auge der
Figur „Liebe“ oder ihre Sehbehinderten-Armbinde nach dem Vorfall mögen
dafür den Beleg liefern. Beide Abbildungen sind unverhältnismäßig
anschaulicher und daher brutaler als die dazugehörigen Sätze: „Und mit
einem Mal sprang die Liebe mit einem Dorn im Auge aus dem Strauch. Sie
hatte fürchterliche Schmerzen.“ und „Von dem Tag an war die Liebe
blind.“
Die Erzählung
beinhaltet außerdem einige Unklarheiten, u.a. warum die Liebe nur ein
Auge hat oder wie sie innerhalb von so kurzer Zeit so weit um die Welt
gekommen ist. Das sind allerdings Fragen, die zum einen ohne die
Kenntnis der Originalerzählung nicht zu beantworten wären. Zum anderen
kommt es in der Volkserzählung nicht selten vor, dass unerklärliche, für
den „gesunden“ Menschenverstand unfassbare Ereignisse und Phänomene im
Dienste der immanenten Erzählungslogik eingesetzt werden. Zumindest die
zweite Frage könnte dieser Kategorie zugewiesen werden.
Im Großen und Ganzen
ist „Warum die Liebe blind ist und Hand in Hand mit dem Wahnsinn geht“
ein Bilderbuch, das zuweilen den Eindruck erweckt, es sei nicht für
Kinder, sondern für ein erwachsenes Leserpublikum konzipiert. Auch wirkt
es in seiner vorliegenden Gestalt erzählerisch wie illustratorisch sehr
modern. Dies stellt zwar kein Problem dar, lässt jedoch die Frage
aufkommen, inwiefern die Übersetzerin ihrer Vorlage treu geblieben ist –
auch das eine Frage, zu deren Beantwortung das Original hinzugezogen
werden müsste.
Die Rezensentin ist am Lehrstuhl für Didaktik der
deutschen Sprache und Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität in München
tätig. Von ihr liegt zum Thema vor: „Der Orient in der deutschen Kinder- und
Jugendliteratur. Fallstudien aus drei Jahrhunderten“ (Peter Lang 2008)
(librikon) Als erstes
kommt das Buch wie ein Spaß daher: „Die Welt ist voller Löcher", das
Buch auch. Die Gestaltung ist hochklassig, die illustratorische Leistung
enorm, die Texte in überzeugender Anordnung dazu gestellt. Ein
„bedeutender Löchersammlung“ führt durch seine Sammlung, und damit geht
es durch allerhand Löcher in Natur und Kultur. Je mehr man sich in
dieses Buch und sein Thema, das nur scheinbar skurril ist, vertieft,
desto stärker öffnet sich das Nichts, das ein Loch zu sein vorgibt, und
treibt den Betrachter gedanklich voran. Mit seinen fünf Kapiteln, die
Löcher in Gärten und Wäldern, an Mensch und Tier, in Gebäuden und
Städten, ist es ist das Buch eine Ansammlung eigenartigen, hm,
Tiefgangs. Die Übersetzung aus dem Französischen stellt eine besondere
Leitung dar, weil Sprachwitz und Sprichwörter nicht einfach zu erhalten
sind. Doch auch das ist gelungen, wie das ganze Buch. Nicht
verpassen!
(librikon) Das Bilderbuch hat seit seiner Existenz seine bewegliche
Seite, die für Kinder vergangener Zeiten Mensch und Tier aus Pappe zu
mechanischen Gesten brachte. Diese Bücher, heute oft im Retrochic,
bringen wirklich Freude in die Kinderherzen: Immer noch, trotz TV,
Computer und I-Pod. Scanimation trägt das R des eingetragenen
Warenzeichens. Beim Aufschlagen des Buches spielt sich auf den Pappseiten
Tolles ab. Hinter dünnen schwarz-weißen Streifen galoppiert ein Pferd,
stolziert ein Hahn, rennt ein Hund, springt eine Katze. Alle Tiere sind
dunkel, aber deutlich zu sehen. „Galopp“ ruft eine tiefliegende, eine
uralte Freude hervor.